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»Kein Vergeben, kein Vergessen!«

Einleitung

Zum Umgang mit NS-Tätern zwischen Dokumentation und Aktion

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-2004-0419-500 /CC BY-SA

Deutsche Gebirgsjäger während des Zweiten Weltkriegs an der albanisch-serbischen Grenze.

Nach jedem Verfahren gegen NS-Verbrecher hieß es stets, nun seien keine größeren NS-Verfahren mehr zu erwarten. Das war so nach dem Urteil gegen Anton Malloth im Mai 2001, nach der Verfahrenseinstellung im Fall Herbertus Bikker im Februar 2002 und auch nach Ende des Verfahrens gegen Siegfried Engel im Mai 2004.1 Kurz vor Weihnachten 2003 hatte der Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm dazu geäußert: »In drei bis fünf Jahren ist unsere Arbeit aller Voraussicht nach endgültig beendet.« Als Grund gab Schrimm an, die Verbrecher stürben, bevor man sie zur Rechenschaft ziehen könne.

Gegen das »tot-ermitteln«

Angesichts der Praxis der bundesdeutschen Justiz, gar nicht erst zu ermitteln, Ermittlungen zu verschleppen bis auch der letzte Angeklagte verstorben ist, sie aus Gründen des Alters oder weil die Taten nicht als Mord qualifizierbar seien einzustellen, kann man Schrimms Aussage nur so verstehen: Noch drei bis fünf Jahre müsse sich die deutsche Justiz mit dem Thema herumärgern, dann wäre dieses Kapitel deutscher Geschichte endlich abgeschlossen.

Abgesehen davon, dass NS-Verbrecher sich häufig eines erstaunlich hohen Alters erfreuen, haben seit einigen Jahren radikale Linke und AntifaschistInnen vereinzelt NS-Verfahren zum Anlass einer Auseinandersetzung mit den Tätern und ihren Verbrechen genommen, um solchen Prognosen scheitern zu lassen. Zum Beispiel begleiteten seit 1995 AntifaschistInnen aus dem Bergischen Land das juristische Hickhack um Herbertus Bikker2 , in Ostwestfalen kümmerten sie sich um Karl Friedrich Titho, dem Ex-Kommandant der Lager Fossoli und Bozen in Italien, statteten der Euthanasie-Ärztin Rosemarie Albrecht einen Besuch in Jena ab und in Hamburg wurden sie im Engel-Prozess aktiv. Seit einigen Jahren liefern ihnen vor allem die italienische Militärgerichte Ansatzpunkte für konkrete Auseinandersetzungen. Bei der Militärstaatsanwaltschaft Rom waren 1994 Akten über rund 700 Ermittlungsverfahren wegen von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen in Italien wiedergefunden wurden.

Jahrzehntelang waren sie aus politischer Rücksicht auf den NATO-Partner BRD im »Schrank der Schande« versteckt worden. Da die meisten Kriegsverbrechen in Norditalien begangen wurden, sind vor allem die Militärstaatsanwaltschaften in Turin, Verona, Genua und La Spezia zuständig. Besonders in La Spezia stapeln sich Aktenberge aktueller Verfahren, die Staatsanwälte machen Überstunden, selbst an Samstagen wird verhandelt. In der BRD ermittelte die Ludwigsburger Zentralstelle Ende 2005 wegen 25 NS-Verbrechen in ganz Europa, mindestens 200 mögliche Verbrechen in Italien sind noch nicht untersucht. Bei der Staatsanwaltschaft München ist derzeit etwa ein Dutzend NS-Verfahren anhängig, in Dortmund sind es neun Ermittlungsverfahren allein wegen Italien. Weitere Verfahren sind unter anderem in Stuttgart anhängig, so dass es alles in allem noch über 50 Ermittlungsverfahren geben dürfte. Die Zahl der Beschuldigten geht in die Hunderte, da sich die Verfahren in der Regel gegen ganze Einheiten richten.

Staatsanwälte ohne Eile

Relativ weit bekannt wurde vor allem das Urteil gegen zehn ehemalige Angehörige der 16. SS-Panzergrenadier-Division »Reichsführer SS«. Wegen ihrer Beteiligung am Massaker in Sant’Anna di Stazzema (nahe Carrara/Norditalien), bei dem am 12. August 1944 560 Menschen ermordet worden waren, verurteilte sie das Militärgericht La Spezia zu lebenslangen Haftstrafen. In der Bundesrepublik führt Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler aus Stuttgart die Ermittlungen. Das ist derselbe Staatsanwalt, der im Sommer 2006 mit unbändigem Verfolgungseifer gegen den Punkversand »Nix gut« wegen der Verbreitung durchgestrichener Hakenkreuze vorging.

Stuttgarter Ermittler waren ständig im Prozess gegen die Mörder von Sant’Anna anwesend, sie kennen die Ermittlungsergebnisse und dennoch ermitteln und ermitteln sie, ohne zu einer Anklageerhebung zu gelangen. Inzwischen sind zwei der Beschuldigten gestorben. Antifaschistische Gruppen machten auf diesen faktischen Täterschutz der Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit einem bundesweiten Sant’Anna-Aktionstag aufmerksam: Am 6. Mai 2006 besuchten sie die Verurteilten zu Hause oder im Altersheim, informierten Nachbarschaften und Öffentlichkeit. Die italienischen Urteile sind inzwischen rechtskräftig, so dass Italien mit Hilfe des Europäischen Haftbefehls eine Auslieferung der Verurteilten durchsetzen könnte; die Männer könnten auch von ihren Altersruhesitzen in ein deutsches Gefängnis wechseln und dort ihre Strafen verbüßen.

Ähnlich sieht es in anderen Verfahren aus: Am 3. November 2006 wurde Heinrich Nordhorn aus Greven bei Münster zu lebenslanger Haft und Schadensersatzzahlungen verurteilt. Nordhorn war als Angehöriger der Stabskompanie der Schweren Heeres-Panzerjägerabteilung 525 für die Ermordung von insgesamt 10 Menschen in den Dörfern Branzolino und San Tomé (bei Forli/Emilia-Romagna ) im September 1944 verantwortlich. Als Rache für einen Partisanenangriff wurden zehn Geiseln aus dem Gefängnis Forli geholt, in die Dörfer gebracht und dort erhängt. Die Bevölkerung wurde gezwungen, sich an der Erhängung zu beteiligen. Unter den Ermordeten befanden sich auch zwei jüdische Männer.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelt gegen den 86-jährigen Bauunternehmer, der sich zu Verwandten auf einen einsam gelegenen Bauernhof außerhalb von Greven zurückgezogen hat. Auch die Dortmunder Staatsanwälte waren häufig in La Spezia anwesend. Trotz der dort vorgelegten Beweise prüft und prüft und prüft sie, ob Nordhorn tatsächlich bei den Hinrichtungen anwesend und ob das Mordmerkmal »Grausamkeit« gegeben sei.

Ein weiteres Ermittlungsverfahren der Dortmunder Staatsanwaltschaft richtet sich gegen den ehemaligen Major Herbert Stommel (88) und den Unteroffizier Josef Scheungraber. Sie wurden am 27. September 2006 wegen eines Massakers in Falzano di Cortona (bei Arezzo) in Abwesenheit zu lebenslanger Haft und Schadensersatz verurteilt. Die Männer gehörten dem Gebirgs-Pionier-Bataillon 818 an. Aus Rache für einen Angriff von Partisanen trieben die Deutschen am 27. Juni 1944 14 Bewohner des Ortes zusammen, sperrten sie in ein Haus und sprengten es mitsamt den Eingeschlossenen in die Luft. Stommel war Kommandant des Bataillons, Scheungraber Kompaniechef. Wohl nicht zu Unrecht vermuten die italienischen Staatsanwälte, dass die beiden ihre Strafen niemals verbüßen müssen.

Der Kameradenkreis Gebirgstruppe

Scheungraber lebt in Ottobrunn bei München, er wird von Gerhart Klamert verteidigt, der Mitglied des »Kameradenkreises der Gebirgstruppe e.V.« ist. In dessen Mitgliedszeitschrift Die Gebirgstruppe hat Klamert immer wieder revisionistische Gedanken über den Vernichtungskrieg vertreten, zum Beispiel auch über die Ermordung Tausender italienischer Kriegsgefangener auf der Insel Kephallonia im September 1943. Ermittlungen zur juristischen Ahndung dieses Verbrechens wurden in den 1960er Jahren eingestellt, vor vier Jahren aber gegen etwa 400 noch lebende Angehörige der Gebirgstruppe wieder aufgenommen.

Ein Verfahren gegen zwei deutsche Offiziere wegen der Ermordung von 13 italienischen Offizieren wurde abgetrennt; einer der Beschuldigten ist inzwischen verstorben, das Verfahren gegen den übrig gebliebenen Otmar Mühlhauser aus Dillingen im Juli 2006 eingestellt. Die Einstellungsverfügung von Oberstaatsanwalt August Stern löste in Italien große Empörung aus, da er die Liquidierung der entwaffneten Offiziere lediglich als Totschlag statt Mord qualifizierte, denn, so die Einstellungsverfügung: »Italienische Streitkräfte waren keine normalen Kriegsgefangenen. Aus Verbündeten wurden sie zu heftig kämpfenden Gegnern und damit im Sprachgebrauch des Militärs zu ›Verrätern‹. Damit liegt der Fall nicht wesentlich anders als wenn Teile der deutschen Truppe desertiert und sich dem Feind angeschlossen hätten. Eine daran anschließende Hinrichtung wäre wohl ebenfalls nicht als Tötung aus niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 StGB anzusehen.«

Juristisch ist hier das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn Angehörige der ermordeten Soldaten bemühen sich um eine Wiederaufnahme. AntifaschistInnen veranstalteten gemeinsam mit Angehörigen der Ermordeten, Partisanenverbänden und Politikern aus Italien am 8. Dezember 2006 eine Kundgebung vor der Münchener Staatsanwaltschaft, um gegen die Verfahrenseinstellung zu protestieren. Die Ermittlungsverfahren gegen Angehörige des Gebirgsjägerregiments 98 und des Gebirgsartillerieregiments 54, die im »Kameradenkreis der Gebirgstruppe« organisiert sind, werden in Dortmund weitergeführt.

Dokumentation und Aktion

Das Massaker auf Kephallonia wurde bei den sogenannten Pfingst-Protesten des Arbeitskreis »Angreifbare Traditionspflege« in Mittenwald regelmäßig thematisiert. Der AK wurde auch im Fall eines weiteren Massakers deutscher Gebirgstruppen aktiv: Er übergab der Staatsanwaltschaft die Namen von fast 200 Gebirgssoldaten, die an dem Massaker im nordgriechischen Kommeno beteiligt waren. Sie töteten dort 317 Menschen und schändeten die Leichen Ermordeter. Die vor kurzem skandalisierten Schädelfotos, die Mittenwalder Gebirgsjäger in Afghanistan aufgenommen hatten, erinnern augenfällig an dieses Verbrechen. Sie illustrieren den engen Zusammenhang von elitärem bewaffneten Männerbund und sexualisierter Gewalt, der im Übrigen auch in der linken und antifaschistischen Szene relativ selten thematisiert wird.

Am 10. Oktober 2006 wurde Ex-Unteroffizier Max Josef Milde, der in Bremen wohnt, in La Spezia verurteilt. Er gehörte der »Fallschirm-Panzer-Division Hermann Göring« an und erhielt eine lebenslange Haftstrafe, weil er an einem Massaker am 29. Juni 1944 in Civitella, Cornia und San Pancrazio (Toskana) beteiligt war. 207 Menschen wurden mit Genickschüssen aus Rache für die Tötung von zwei Fallschirmjägern durch Partisanen getötet. Die BRD wurde in diesem Verfahren zu Solidarhaftung verurteilt. Das bedeutet, dass der deutsche Staat gemeinsam mit Max Josef Milde gesamtschuldnerisch mindestens 780000 Euro an neun (Neben-)Kläger zahlen muss. Es ist das erste Mal, dass solch ein Urteil gegen den deutschen Staat in Italien erging. Welche Auswirkungen dieses Urteil haben wird, ist noch nicht abzusehen.

Auf das Konzept von »Dokumentation und Aktion« des AK Angreifbare Traditionspflege gehen auch Vorermittlungen der Ludwigsburger Zentralstelle gegen Angehörige des SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiments 18 zurück. Der AK präsentierte im Jahr 2005 bei seinen Protesten in Mittenwald seine historischen Forschungsergebnisse, die dem Regiment unter anderem die Beteiligung an der Deportation der Athener Juden nach Auschwitz nachwiesen. Das Simon-Wiesental-Center griff das auf und veranlasste die Einleitung des Ermittlungsverfahrens.

Aussicht auf einen Prozess gibt es im Fall des Holländers Heinrich Boere (85) nicht mehr. 1983 stellte die Dortmunder Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den NS-Killer ein. In Holland wurde der Mann, der einer Todesschwadron der Waffen-SS namens »Silbertanne« angehört und niederländische NS-Gegner liquidiert hatte, zu lebenslanger Haft verurteilt. Er brachte sich jedoch rechtzeitig in der BRD in Sicherheit und lebt nun in der Seniorenresidenz »Pro Seniore« im grenznahen Eschweiler bei Aachen. Da alle Mitglieder der Waffen-SS als besonderen Service des SS-Reichsführers Heinrich Himmler die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten, liefert die Bundesrepublik den Mann nicht aus. AntifaschistInnen brachten ihm am 29. Oktober 2006 ein »Ständchen« und informierten seine Umwelt mittels Flugblättern.

Ausblick

Boere und andere in ihren Geburtsländern verurteilte Nazis müssen seit August 2006 nun doch noch einmal zittern, denn seitdem ist der Europäische Haftbefehl in Kraft. Er könnte dazu führen, dass sich die täterschutz-orientierte bundesrepublikanische Justiz nun noch einmal neu mit den NS-Verbrechern beschäftigen muss. Da vor allem in Italien weitere Urteile zu erwarten sind, gibt es für antifaschistische Auseinandersetzungen mit diesem – lange Zeit der VVN/BdA und Einzelpersonen wie dem Ehepaar Klarsfeld überlassenen – Thema genügend weitere Anlässe. Die antifaschistische und radikale Linke sollte dabei eine Praxis vermeiden, die lediglich der Justiz zuarbeitet und sich in ihren Forderungen in einen nicht eingelösten Glauben an bürgerlich-demokratische Normen verstrickt. Die historischen, tagespolitisch-aktuellen wie auch erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen über den Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen und den konkreten Tätern sind natürlich keine rein juristischen und AntifaschistInnen sind somit gut beraten, sich dieser Auseinandersetzungen auch jenseits der Gerichte anzunehmen.

  • 1Siehe AIB # 56: »Keine Befehlsgewalt«.
  • 2Herbertus Bikker alias »de Beul van Ommen« (»Der Henker von Ommen«) war ein niederländisches Mitglied der Waffen-SS. Bikker ist der Mörder des 1944 in den Niederlanden getöteten 27-jährigen Widerstandskämpfers Jan Houtman. Seinen Beinamen erhielt er auf Grund seines brutalen Verhaltens im Straf- und Arbeitslager Erika in Ommen (Niederlande). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in den Niederlanden zum Tode verurteilt. 1952 gelang ihm jedoch die Flucht nach Deutschland, wo er bis zum Jahre 1995 unbehelligt in Hagen leben konnte. Ein Verfahren wurde 2004 wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.