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»Das Schweigen ist ein Schock«

Einleitung

Ercan Y. gehört zu denjenigen migrantischen Antifaschist_innen, die sich als Reaktion auf die rassistische Mobilisierung der Republikaner in West-Berlin schon vor 1990 für gemeinsame Initiativen mit deutschen Antifaschist_innen eingesetzt haben. Das AIB sprach mit dem Sozialarbeiter aus Berlin-Kreuzberg über Konsequenzen aus der rassistischen Mordserie des NSU.

Bild: Herby Sachs/version-foto.de

Bei dem Rohrbomben­anschlag in der Keupstraße in Köln wurden gezielt Migrant_innen verletzt. Viele Betroffene stellten die berechtigte Frage nach einem rassistischen Motiv.

AIB: Welchen Eindruck hattest Du von den Ermittlungen bis zu dem Moment, als im November 2011 die Täterschaft des NSU bekannt wurde?

Es gab ja viele Theorien: »Dönermorde«, »Ehrenmorde«, »türkisch-kurdischer Konflikt« – immer wurden die Morde und die Täter entlang der Defizite definiert, die unsere Gesellschaft Minderheiten zuschreibt. Und entlang dieser Einstellungsmuster ermittelt dann – wie im Fall der NSU-Mordserie und vielen anderen Fällen – auch die Polizei.

Nach dem Rohrbombenanschlag in Köln in der Keupstraße, bei dem mehr als zwanzig Menschen verletzt wurden, habe ich mir zum ersten Mal die Frage nach einem rassistischen Motiv gestellt – weil es so auffällige Parallelen zu den Nagelbombenanschlägen von Combat 18 in London im Jahr 1999 und zu dem tödlichen neonazistischen Rohrbombenattentat auf die Roma-Siedlung im österreichischen Oberwart im Januar 1995 gab. Und nicht zuletzt kennen wir das Muster ja auch aus der Türkei, wo Mitte der 1980er Jahre türkische Faschisten Rohrbombenattentate gegen Linke verübten und wo bekannte Faschisten im Rahmen vom »tiefen Staat«1 mit immer derselben Waffe ungefähr dreißig Menschen ermordeten. Offen war für meine Freunde und mich lange, ob die Täter deutsche oder türkische Faschisten waren, weil einzelne der Getöteten eben auch Kurden waren. Aber dann wurden ja auch türkische Kleinhändler erschossen und von türkischen Faschisten weiß man eigentlich, dass sie gezielt vor allem gegen die kurdischen Führungskader vorgehen.

Welche gesellschaftlichen Reaktionen hattest Du erwartet, nachdem klar wurde, dass Neonazis die rassistische Mordserie verübt haben?

Ich habe eigentlich Reaktionen wie in den 1990er Jahren erwartet, als Hunderttausende zu Kundgebungen gegen Rassismus kamen. Stattdessen gab es nur dieses Schweigen. Es hat mich wirklich erschreckt, dass es keinen lauten Aufschrei gab – obwohl in den letzten zehn Jahren doch so viele Institutionen geschaffen wurden. Durch dieses Schweigen von heute ist mir plötzlich deutlich geworden, wie sehr sich die Gesellschaft durch die Sarrazin-Debatte verändert hat.
Und ich hätte erwartet, dass jeder einzelne Polizist, der den Familien durch die einseitige Ermittlungsarbeit Leid angetan hat, sich selbst entschuldigen muss – weil eine pauschale  Entschuldigung durch Vertreter des Apparats überhaupt nicht adäquat ist. »Wir tun alles, damit so etwas nicht noch mal passiert« – diese Phrasen hören wir seit dreißig Jahren. Aber dieses Verhalten wird gar nicht in Frage gestellt. Und schon nach wenigen Entschuldigungen beherrschen die Sicherheitsbehörden den Diskurs wieder: Das ganze Geschwätz vom NPD-Verbot, von mehr Polizei- und Geheimdienstdateien lenkt davon ab, dass die realen Polizei- und Geheimdienststrukturen nicht nur nicht angetastet, sondern mit noch mehr Personal und Macht ausgestattet werden.

Inzwischen haben wir viel darüber diskutiert und unsere zentrale Forderung ist die vollständige Aufklärung.
Am meisten bestürzt bin ich aber darüber, dass die Betroffenengruppen scheinbar alles hinnehmen und dass viele Migrant_innen mit Gleichgültigkeit reagieren.

AIB: Und wie haben die türkischen und kurdischen Jugendlichen reagiert, mit denen Du arbeitest?

Bei den Jugendlichen ist ein totales Schubladen-Denken ausgelöst worden; Sie definieren sich plötzlich als Kurden oder Türken. Bis zum Bekanntwerden des NSU hatten sie sich vor allem als Berliner oder Kreuzberger bezeichnet. Das Schweigen und die Umstände, die zur Mordserie geführt haben, verstärken ihr Misstrauen unserer Gesellschaft gegenüber und verstärken die vorhandenen Ausgrenzungserfahrungen.

AIB: Hat sich das durch den Staatsakt im Februar geändert?

Nein, die wenigsten Jugendlichen haben das mitbekommen, obwohl es in den türkischen Medien tagelang eine riesige Berichterstattung gegeben hatte. Aber wir stellen fest, dass diese dritte Generation nicht Türkisch lesen kann. Sie sprechen nicht richtig Deutsch und nicht richtig Türkisch und dadurch haben sie ein riesiges Zugangs- und Teilhabeproblem. Diese Jugendlichen beziehen die meisten Informationen durch Hörensagen oder Mund-zu-Mundpropaganda. Dadurch wachsen Vorurteile und menschenfeindliche Haltungen. Sie sehen und fühlen sich als nicht-gewollte Jugendliche. Und durch jede Erzählung und jedes Gerücht entsteht noch mehr Distanz zu unserer Gesellschaft.

AIB: Wie erklärst Du Dir, dass sich zum Thema NSU nur die Repräsentant_innen migrantischer Institutionen äußern, aber auf der Straße nichts passiert?

Zum einen darf man nicht vergessen, dass viele Migrant_innen von den Pogromen in Rostock und Hoyerswerda, den mörderischen Brandanschlägen in Mölln und Solingen und der alltäglichen Ausgrenzungserfahrung der frühen 1990er Jahre geprägt sind – und die NSU-Mordserie und das staatliche Versagen verstärken diese Erfahrungen von Ohnmacht und Schutzlosigkeit. Zum anderen haben die migrantischen Organisationen keine Anbindungen an die Menschen. Das sieht man ganz gut am Beispiel des Integrationsrates: Es sind Lobbyvereine, die sich dort treffen; aber nicht Initiativen, die für und mit den Menschen sprechen, die hier leben.

AIB: Es gibt in der unabhängigen Antifabewegung auch eine Strömung, die die NSU-Mordserie nicht als neue Dimension wahrnimmt.

Hier gehen selbstbewusste Täter am helllichten Tag über zehn Jahre in Großstädten in Geschäfte und ermorden Menschen durch Kopfschüsse – alleine wegen ihrer Herkunft. Das ist doch eine neue Dimension, wenn man es beispielsweise mit den Brandanschlägen der 1990er Jahre vergleicht, wo die Täter eben gerade nicht offen aufgetreten sind. Und dieses Selbstbewusstsein der Täter, das ja nur möglich ist, wenn man sich völlig sicher vor staatlicher Repression fühlt, das verursacht ja auch die Angst bei den Betroffenengruppen. Und so kommt die Botschaft der Täter bei den potentiellen Opfern ja auch an: Ihr seid schutzlos, wohingegen wir durch staatliche Stellen geschützt bzw. nicht gestoppt werden. Und dieses gezielte Morden durch Kopfschüsse ist doch auch eine Analogie zum Nationalsozialismus, wo die Menschen eben auch wegen ihrer Herkunft und ihrer politischen Überzeugung hingerichtet und ermordet wurden. Wir sind wirklich mit einer neuen Art rassistischer und neonazistischer Gewalt und Strukturen konfrontiert, die wir ernst nehmen müssen und die mich im übrigen auch an die Gladio-Strukturen der 1980er und 1990er Jahre erinnern, wo ja Einzelpersonen aus Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden neonazistische Organisationen unterstützt und für ihre eigenen politischen Ziele genutzt haben. Die Struktur des NSU hätte ohne wissentliche oder unwissentliche Hilfe aus den Apparaten nicht morden können. Das geht über bloße Ignoranz der Apparate hinaus.

AIB: Was erwartest Du von einer antifaschistischen Bewegung?

Als allererstes erwarte ich, dass Antifaschist_innen auf die Familien der Ermordeten und Verletzten zugehen und sie fragen, welche Unterstützung sie brauchen und was sie sich wünschen. Eine antifaschistische Linke sollte sich daran erinnern, dass sie eine Verantwortung für die gesellschaftlichen Zustände hat und auch entsprechend verantwortlich handeln muss. Ich vermisse die Sensibilität, die Antifaschist_innen in den 1980er und 1990ern gezeigt haben, als wir gemeinsam gehandelt und nicht darauf  gewartet haben, dass andere die Initiative ergreifen. Wir haben Andockmöglichkeiten für ganz unterschiedliche Menschen geschaffen, weil wir offen auf sie zugegangen sind und mit ihnen diskutiert haben.

Heute aber sind wir es, die nur noch reagieren, während die Neonazis die Tagesordnung bestimmen. Diese Dynamik müssen wir umdrehen. Die Neonazis müssen von uns lernen, dass wir keine Angst haben. Denn durch unsere Angst ermutigen wir sie, in unsere Räume zu kommen. 

  • 1Mit dem Begriff »Tiefer Staat« (türkisch: derim devlet) wird die Verflechtung von staatlichen Stellen, der organisierten Kriminalität und faschistischen Organisationen bezeichnet, die in der Türkei zu mehreren Skandalen geführt hat.