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„Lichtenhagen ist Teil einer identitätsstiftenden Meistererzählung“

Interview mit „Soziale Bildung e.V.“ (Rostock)
Einleitung

Im vergangenen Jahr jährte sich das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen zum 25. Mal. Anlässlich dessen hat das Projekt „Lichtenhagen im Gedächtnis“ eine umfangreiche Sammlung historischer Dokumente erstellt, auf deren Basis zukünftig auch Bildungsarbeit zum Thema erfolgen soll. Wir sprachen mit dem Trägerverein „Soziale Bildung“ (SoBi) über das Projekt und die Frage, welche Rolle das Progrom in Rostock heute spielt.

AIB: Die Idee, eine Projektstelle zur Aufarbeitung und Vermittlung der rassistischen Massengewalt in Rostock 1992 zu schaffen, geht auf einen Beschluss der Rostocker Bürgerschaft im Jahr 2015 zurück. Ihr seid dann mit der Umsetzung beauftragt worden. Noch fünf Jahre zuvor war in der medialen Berichterstattung zum 20. Jahrestag des Pogroms zu lesen, dass es bisher keine Aufarbeitung gegeben hat. Wie kam es zu diesem Beschluss?

SoBi: Zunächst ist der Behauptung, es habe keine Aufarbeitung gegeben, nicht ganz zuzustimmen. Der Dokumentarfilm „The Truth Lies in Rostock“ (1993), die Ausstellung „Von Menschen, Ansichten und Gesetzen“ (2007), Artikel in Zeitschriften und Sammelbänden, auch im Antifaschistischem Infoblatt (AIB), verweisen auf vielfältige Bemühungen, sich dem Pogrom anzunähern. In den kommunalen Vertretungen wurde den Ereignissen hingegen lange Zeit nicht erinnert. Nicht zuletzt die sehr überstürzt wirkenden Ansätze des Jahres 2012 – die Pflanzung eines Baumes als Gedenkort und die Rede Joachim Gaucks sowie die Reaktionen aus dem zivilgesellschaftlichen Lager - scheinen hier für einen Bruch gesorgt zu haben. Der Einsicht, dass eine „Friedenseiche“ kein akzeptabler Erinnerungsort ist, konnten sich im Nachhinein auch kommunale Vertreter_innen anschließen.

AIB: Mittlerweile gibt es ein offizielles Gedenken an das Pogrom. Von wem werden die Gedenkveranstaltungen heute getragen?

SoBi: Nicht zuletzt bei den Träger_innen des Gedenkens in der Kommune ließ sich seit 2012 eine wellenartige Bewegung erkennen: Existierten im Kontext des 20. Jahrestages noch heftige Spannungen zwischen migrantischen Selbstorganisationen und der Stadtvertretung, ebneten sich diese seither zunehmend ein – mit einer Ausnahme: der Beschreibungskategorie. Während zivilgesellschaftliche Akteur_innen, aber auch die Geschichtswissenschaft aus guten Gründen von einem Pogrom sprechen, firmieren die Ereignisse in städtischen Darstellungen grundsätzlich als Ausschreitungen. Dieser Begriff verschleiert die breite Beteiligung von Anwohner_Innen, ihre Funktion als Bystander, die praktische Partizipation staatlicher Instanzen qua Abwesenheit, die Tötungsabsicht der Täter_Innen uvm. Trotz dieser Differenzen war an den Gedenkveranstaltungen 2017 ein breites Spektrum – vom Jugendalternativzentrum (JAZ), über migrantische Selbstorganisationen bis hin zu Teilen der Rostocker Polizeidirektion – beteiligt. Während der Einweihung von fünf (Gedenk-)Kunstwerken zeigte sich jedoch, dass jede Gruppe die Erinnerung weitestgehend für sich gestaltete. 2018 flaute mit etwa 100 Teilnehmenden das Interesse erneut ab. Eine der größten Herausforderungen aktiver Erinnerungspolitik dürfte auch zukünftig darin liegen, das Zusammenwirken staatlicher Maßnahmen, tötungswilliger Neonazis und den mehreren tausend Bystandern als Bedingungen des Pogroms in den Fokus des Gedenkens zu rücken.

AIB: Kern des Projektes ist zum einen der Aufbau eines eigenen Archivs, zum anderen die Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Warum diese zwei Schwerpunktsetzungen?

SoBi: Uns scheint diese Kombination inhaltlich sinnvoll, da Lichtenhagen zwar als Mikronarrativ im Kontext rechter Übergriffe immer wieder aufploppt, eine quellenfundierte Auseinandersetzung allerdings eher selten zu finden ist. Wissenschaftliche, aber auch pädagogisierende Zugänge benötigen ein möglichst breites Fundament, auch um die Grenzen einzelner Blickwinkel erkennen zu können. Ein Beispiel: Oft fehlt in der medialen sowie polizeilichen Berichterstattung die Perspektive der Betroffenen. So verschwindet aus der Erinnerung aber nicht „nur“ eine Stimme, vielmehr wird das nationale Narrativ – in Ermangelung eines Korrektivs – eher geglaubt. Zudem erlauben multiperspektivische Quellen individuellere Zugänge. In einem auf Demokratisierung angelegten Bildungsansatz laufen beide Ansprüche letztlich zusammen: Die Ermächtigung von Lernenden, sich selbst einem Gegenstand anzunähern, gleichzeitig aber auch mit den Grenzen historischen Wissens kompetent umgehen zu können. Lichtenhagen ist – auch in der Linken – inzwischen Teil einer identitätsstiftenden Meistererzählung, die zum Teil wenige Schnittpunkte zu den Ereignissen des Sommers 1992 aufweist. Dies zu ändern ist auch ein Anspruch unserer Arbeit.

AIB: Als Verein seid ihr schon viele Jahre in der politischen Bildungsarbeit aktiv. Welche Rolle spielt das Gedenken an Lichtenhagen und die Auseinandersetzung mit Rassismus und Neonazismus in der Jugendbildungsarbeit heutiger Schulgenerationen, die damals noch gar nicht geboren waren?

SoBi: Implizit ist Lichtenhagen gerade für eine bestimmte Generation der Aktiven von SoBi präsent, da ihr politischer Erfahrungsraum durch das Pogrom geprägt wurde. Für eine adäquate Auseinandersetzung mit dem Pogrom in der Bildungsarbeit ist der Dokumentenbezug, Zeitzeug_innenschaft sowie der Rekurs auf Erinnerungen im Eltern- und Verwandtenkreis der Lernenden unumgänglich – eine gleichsam spannende wie herausfordernde Gemengelage. Ein wesentlicher Teil des schulischen Bildungsangebotes fußt auf dem Erfragen von Erinnerungen der Eltern, welche die Lernenden vorab erkunden sollen. In den Kursen selbst offenbart sich uns ein Spannungsfeld von aktiv sich reflektierenden Bekannten, bis hin zu Verwandten, die sich als stolze Teilnehmende des Pogroms erinnern. Gerade diese Brücke zwischen Narrativen, denen die Jugendlichen zunächst trauen und einer quellengestützten Auseinandersetzung, die zur Irritation dieser Narrative beitragen kann, ist einer der größten Beiträge, die wir zur Reflexion von „Lichtenhagen“ leisten können.

AIB: Erinnern und Gedenken ist so eine Sache, aktiv werden heute eine andere. Wie verknüpft ihr beides in der Jugendbildungsarbeit – oder spielen aktuelle Debatten da weniger eine Rolle?

SoBi: Die konkrete Melange von Erinnerung und Gegenwartsbezügen hängt mit der jeweiligen Zielgruppe zusammen. Zuweilen induzieren die Bilder des Pogroms in den Lernsituationen selbst Gegenwartsbezüge und die Frage nach eigenen Handlungsmöglichkeiten. Bewusst forcierte Referenzen auf Aktuelles spielen in anderen Bildungsprojekten von uns allerdings eine stärkere Rolle. Nicht dass wir diese Bezüge scheuten, allerdings scheint uns der historische Vergleich oftmals schwieriger, als das auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Gegenwartsbezüge sind im Bildungsprogramm, das sich aus „Lichtenhagen im Gedächtnis“ entwickelte, eher abstrakter Natur, denn auch für uns verbindet sich das Erinnern an das Pogrom mit der Frage, wie einem staatlich wenig reglementierten, zum Mord bereiten Mob begegnet werden kann.

AIB: Im Jahr 2004 wurde in Rostock Mehmet Turgut vom NSU ermordet. Nach der Selbstenttarnung des NSU gestaltete sich auch hier das Gedenken als konfliktbehaftet. Im AIB Nr. 102 wird darüber berichtet, dass Rostock sich gerne als Opfer inszeniert – etwa mit dem Verweis, die TäterInnen 1992 und 2005 seien nicht aus Rostock. Mittlerweile gibt es zwar ein Denkmal für Mehmet Turgut, der Vorschlag, eine Straße nach ihm zu benennen, stieß jedoch auf breite Ablehnung. Wo seht ihr Parallelen in der Erinnerung an Opfer rechter und rassistischer Gewalt in den 1990er Jahren und heute?

SoBi: In der Tat ist diese Abwehrhaltung auffällig im Umgang mit beiden Ereignissen. Eine weitere Parallele besteht im Kreis der Initiator_innen des Gedenkens. Auch im Kontext NSU waren es zunächst vor allem zivilgesellschaftliche Strukturen, die praktische Erinnerung stifteten und sich für eine Institutionalisierung derselben einsetzten. Zwar scheint dieser Prozess hier deutlich schneller auch offizielle Gremien tangiert zu haben - allerdings hat gerade das kritisierte Erinnern an Lichtenhagen 2012 auch die Diskussion um Mehmet Turgut dynamisiert. Ein Blick auf den generellen Umgang mit Opfern rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern lässt allerdings erkennen, dass sich seit den 1990ern nur wenig verändert hat. Ein Beispiel: Im März 1992 – wenige Monate vor dem Pogrom in Lichtenhagen – wird bei einem Überfall auf eine Unterkunft für Asylsuchende Dragomir Christinell erschlagen. Es folgte ein kurzes Medienecho – und seither Schweigen.

Mehr Informationen zum Projekt unter: www.lichtenhagen-1992.de