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2009: Mordanschlag gegen Roma-Familie in Tschechien

Einleitung

Seit Jahrhunderten sind Roma in Tschechien Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Neben den vietnamesischen Zuwanderern stellen sie die einzige größere ethnische und auf den ersten Blick erkennbare Minderheit im Land. Der neue Nationalismus, begleitet von einem krampfhaften Drang nach einer „stolzen“ Identität, die jahrelange Nichtanerkennung der Staatsbürgerschaft nach der Teilung der Tschechoslowakei, Ausgrenzung im Bildungswesen wie auch auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt trieb und treibt weiterhin viele von ihnen an den Rand der Gesellschaft. Laut Umfragen halten neun von zehn Erwachsenen in Tschechien Roma als Nachbarn für inakzeptabel. Seit dem  Zerfall der Tschechoslowakei zum Jahreswechsel 1992/1993 gingen ganze Wellen von gewaltsamen Übergriffen auf Roma durchs Land, sei es nun durch Neonazis, Nationalisten, Polizisten oder Bürger in Zivil. Der wohl schwerste davon ereignete sich vor zehn Jahren.

Bild: Screenshot youTube

Der Brandanschlag

Es war die Nacht des 18. April 2009, als sich vier junge Männer aus Tschechien entschlossen „ein Zeichen zu setzen“, in Form einer „größeren Aktion“, wie einer von ihnen später vor Gericht aussagen sollte. Ein anderer hatte Monate zuvor die Kleinstadt Vitkov bei Opava ausgespäht, mit dem Ziel ein geeignetes Anschlagsziel – ein einzelstehendes heruntergekommenes Haus, bewohnt von einer vielköpfigen Roma-Familie – zu bestimmen und Fluchtwege zu finden. Am Tatabend nahmen die Täter Handschuhe mit, füllten am Stadtrand drei Molotow-Cocktails ab, fuhren bei der Familie vor, warfen die Brandsätze aus einer Entfernung von weniger als zwei Metern in die beiden Räume im Erdgeschoss, sprangen ins Auto und fuhren davon, ohne von einer der in der Stadt aufgestellten Straßenkameras erfasst zu werden. Das Haus brannte bis auf die Grundmauern ab, samt Hab und Gut der Familie. Verletzt wurden zwei Erwachsene und ihre knapp zweijährige Tochter, die mit Verbrennungen an 85 Prozent ihres Körpers bis heute eine schmerzhafte Operation nach der anderen über sich ergehen lassen muss. Die übrigen Kinder und Erwachsenen kamen vor Ort zunächst mit einem Schrecken davon, nach Jahren traten auch bei ihnen psychische Langzeitfolgen auf.

Der Brandanschlag traf die tschechische Gesellschaft ins Mark. Seit Jahren hatte sie sich hartnäckig gegen den Vorwurf gewehrt, ein Hort des Rassismus in Europa sowie Rückzugs- und Wehrsportgebiet deutscher Neonazis zu sein. Nun enthüllten auch die hiesigen Neonazis ihr Potential, gegen das der Staat offensichtlich denkbar schlecht aufgestellt war. Vier Monate lang hüllte sich die ermittelnde SoKo in Schweigen. Spuren von den Tätern? Fehlanzeige. Eingezwängt in einer Notunterkunft im städtischen Hundezwinger, in der sie die Stadt Vítkov behelfsmäßig mehrere Monate lang unterbrachte, sah sich die Opferfamilie wehrlos Verleumdungen ausgesetzt, sie selbst habe die Langzeitfolgen an der jüngsten Tochter verursacht. Das Sozialamt drohte ihr mit Kindesentzug wegen unzureichendem Wohnraum.

Gefasste Täter

In den frühen Morgenstunden des 12. August 2009 schlug die Polizei schließlich zu. Unter strengster Geheimhaltung erhielten 150 Beamte in einer verlassenen Fabrikhalle den Rat, sich an diese zu halten, sonst „seid ihr raus“. Dann schwärmten sie aus, stürmten die Wohnungen von zwölf Verdächtigen, neun Männern und drei Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, und brachten sie teils per Hubschrauber zur Zentrale der Sonderkommission. Es ging um Zeit. Erst wenn einer der Verhafteten zu reden beginnen und den Tathergang schildern würde, hätte diese Informationen den mutmaßlichen Tätern als bereits bekannt vorgelegt und zumindest einer von ihnen dazu bewegt werden können, die Aussage zu bestätigen und weitere Einzelheiten hinzuzufügen. Es gelang, ein Mitwisser packte aus, zwei weitere gestanden unter der erdrückenden Beweislast die Tat, und einem von ihnen rutschte beim Verhör heraus, im Auto auf dem Weg zum Tatort gehört zu haben, Ziel der Aktion seien „Zigeuner“. Das war’s. Vier Tatverdächtige gingen in U-Haft, beschuldigt des Versuches eines mehrfachen, rassistisch motivierten Mordes. Die übrigen acht Festgenommenen konnten gehen. Laut Beweislage hatten sie zwar einiges mit Hitlers Ideologie, aber nichts mit der Tat zu tun.

Ein Tag nach den Festnahmen lud die Polizei zur Pressekonferenz ein. Der stellvertretende Landeskripochef Daniel Sypták sprach von einem „historischen Moment im Kampf gegen schwerwiegende Rassengewalt und dem größten Schlag gegen Extremisten in der Geschichte unseres Landes“. Laut Robert Šlachta, dem damaligen Direktor der UOOZ, der landesweit agierenden Sondereinheit zur Aufklärung organisierten Verbrechens, habe man von Anfang an gewusst, dass „die Tat einen rassistischen Hintergrund hatte“. Eine Erklärung, warum es nicht gelungen war, den Anschlag zu verhindern, ist er bis heute schuldig geblieben.

Der damalige Innenminister Martin Pecina ließ verlauten, dass die Ermittlungen zum Brandanschlag zum Verbot der neonazistischen Partei „Dělnická strana“ (Arbeiterpartei, kurz DS) führen werden. Einen entsprechenden Antrag reichte er Mitte September 2009 beim Obersten Verwaltungsgericht ein. Das tschechische Staatsfernsehen ČT 1 veröffentlichte Ende Dezember 2009 Fotos vom Anführer der Brandstifter, auf denen er als Angehöriger einer „Leibgarde“ bei einer Demonstration der Arbeiterpartei den Parteivorsitzenden beschützte. Die Kundgebung hatte am 1. Mai 2009 stattgefunden, zwei Wochen nach dem Brandanschlag.

Kritischen Beobachter_innen bereitete damals die bisherige Statistik der tschechischen Justiz im Hinblick auf Brandanschläge gegen Roma Sorge. Die höchste in ähnlichen Fällen verhängte Gefängnisstrafe betrug drei Jahre, da es der Polizei nie gelungen war, ein Tötungsmotiv nachzuweisen. Beim Fall von Vítkov befasste sich erstmals das zuständige Landeskriminalamt mit dem Fall. Vorher waren derartige Anschläge Sache der Kreispolizeiämter und sie wurden – aus Mangel an schwer Verletzten oder Todesopfern – lediglich wegen Sachbeschädigung oder Gemeingefährdung ermittelt. Die Mehrzahl der Fälle wurde schließlich wegen Mangels an Beweisen ad acta gelegt. Ähnlich wie in Deutschland können Ermittlungsbeamte auch hier nur bei mutmaßlichen Verbrechen besondere Ermittlungsmethoden wie etwa Lauschangriffe verwenden.

Der Prozess

Der Prozess der ersten Instanz am Landgericht Ostrava endete im Herbst 2010 mit Freiheitsstrafen zwischen 20 und 22 Jahren. Im Folgejahr lehnte das Oberlandesgericht in Olomouc die Argumente der Berufung nahezu komplett zurück, nur einem der Angeklagten wurde das Strafmaß um zwei Jahre gesenkt – wegen Zusammenarbeit mit den Behörden. Entscheidend für die relativ hohen Strafen war der Modus operandi: kaltblütig, heimtückisch und hochgradig konspirativ vor, bei und nach der Tat, kein Werk von Anfängern. Was die Polizei bis heute verschweigt: Die tschechische Antifa hatte wichtiges Beweismaterial zur Aufklärung des Falls beigesteuert.

Den Geschädigten erkannte das Gericht eine Entschädigung in Höhe von etwa zehn Millionen Kronen (etwa 390.000 Euro) an. Revisionsanträge der Verurteilten beim Obersten Gericht und zwei Verfassungsklagen lehnten die Gerichte ab. Dank Arbeit im Strafvollzug stottern zwei der Verurteilten seit Urteilsverkündung, der dritte seit kurzem, die Summe mit Kleinbeträgen an die betroffene Familie ab. Der Haupttäter indes bleibt hart. Bis heute hat er kein Wort über die Tat verloren, weder bei Vernehmungen noch beim Psychologen – und damit ist es sehr wahrscheinlich, dass er seine Strafe vollumfänglich absitzen wird.

Das tschechische Oberste Verwaltungsgericht sprach im Februar 2010 das Verbot der „Arbeiterpartei“ aus. Eine Beschwerde der Partei dagegen legte anschließend der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ad acta, weil sie es versäumt hatte, auf einen Brief des Gerichts zu reagieren. Ehemalige Führungskräfte und Mitglieder der DS schlossen sich daraufhin mehrheitlich der bereits im Vorhinein als Notanker gegründeten "Dělnická stranasociální spravedlnosti" ("Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit") an. Diese hat es bislang unterlassen, ihren Kampf gegen das verhasste System wieder auf die Straße zu verlegen.

Seit Ende des Strafverfahrens im Fall Vitkov und der auch für tschechische Verhältnisse relativ harten Bestrafung der Täter hat sich die Lage zumindest in diesem Deliktbereich beruhigt. In Tschechien sind Brandanschläge gegen Roma momentan ein Relikt der Vergangenheit. Für die Opfer von Vitkov ist dies ein schwacher Trost, für hiesige Antifaschist_innen ein Stück weit Ermutigung. Vielleicht hat es ja geholfen.