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Allmacht und Vernichtungswahn. Nazis morden, Rassismus tötet

Einleitung

Sommer 2000, sechs Tote des rechten Terrors allein in drei Monaten. PolitikerInnen aller Parteien überbieten sich an Hilflosigkeit, die meisten Reaktionen gehen über Gesetzesverschärfungen und Appelle an die »Zivilgesellschaft« und »Toleranz« nicht hinaus. Als Allheilmittel gegen Rechtsextremismus bleibt am Ende einer knapp achtwöchigen Debatte der Ruf nach Verboten und verschärfter Repression. Auch wenn mittlerweile über sie berichtet wird, mit den Opfern redet kaum jemand, ihre Forderungen werden weiter ignoriert.

Bild: attenzione-photo.com

Berlin, 25. Mai: Der 60jährige Sozialhilfeempfänger Dieter Eich wird von vier Rechtsextremisten in seiner Wohnung zusammengeschlagen und erstochen. Die Täter geben an, sie wollten »einen Assi klatschen«.

Eberswalde, 31. Mai: Der 22jährige Punker Falko Lüdtke wird von dem 27jährigen Rechten Mike Betha vor ein fahrendes Taxi gestoßen und stirbt. Zuvor hatte er den Täter wegen dessen Hakenkreuz-Tätowierung kritisiert.

Dessau, 14. Juni: Der 39jährige Mosambikaner Alberto Adriano wird von drei jugendlichen Neonazis im Stadtpark überfallen und brutal zusammengeschlagen. Drei Tage später erliegt er seinen Verletzungen.

Greifswald, 24. Juni: Der Obdachlose Klaus-Dieter Gerecke wird erschlagen. Die Polizei nimmt später einen 20jährigen Mann und zwei 18jährige Frauen als Tatverdächtige fest. Die drei gehören zur rechten Szene.

Wismar, 9. Juli: Der Obdachlose Jürgen S. wird von fünf Neonazis überfallen, die ihn berauben wollen. Sie misshandeln ihn so schwer, dass er kurze Zeit später seinen Verletzungen erliegt.

Gewalttätige Nazi-Angriffe – sechs von ihnen bedeuteten für die Betroffenen den Tod – erregten in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit. Plötzlich rückt der rechte Terror in das Zentrum des öffentlichen Interesses, als hätte es ihn vorher nicht gegeben. Dabei gehört er für viele Menschen in diesem Land seit Jahren zum Alltag. Kaum jemand nahm Notiz von den täglichen Übergriffen, es sei denn, es ist gerade Sommerloch und das Thema Rechtsextremismus füllt die nachrichtenarme Zeit. Und immer wieder wird verharmlost. Etwa, wenn die Sicherheitsbehörden die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Morde in ihren Statistiken möglichst gering halten wollen und deshalb absurde statistische Kriterien anwenden.

Seit 1997 zählt das Bundesamt für Verfassungsschutz beispielsweise rechte »Sachbeschädigungen mit Gewaltanwendung« nicht mehr unter der Rubrik »Gewalttaten mit rechtsextremen Hintergrund«. In Veröffentlichungen von Frankfurter Rundschau und Tagesspiegel vom 14. September diesen Jahres wird für die letzten zehn Jahre eine nahezu vierfach höhere Zahl von Opfern rechter Tötungsdelikte als die des Bundesinnenministeriums angegeben. Trotzdem dürfte auch die in den Zeitungen genannte Zahl von 93 Toten rechten Terrors immer noch zu gering ausfallen.

Nicht mitgezählt wurden beispielsweise die zehn Toten des Lübecker Brandanschlags. Genauso wenig finden sich in der oben genannten Chronik aktive Antifaschisten, die sich Neonazis entgegenstellten und dabei getötet wurden. So wie der 23jährige Punk Mario Jödicke aus Mühlhausen, der am 23. Januar 1993 von dem rechten Heavy-Metal-Anhänger Ringo Sch. in einer Diskothek in Mühlhausen erstochen wurde. Oder der 18jährige Piotr Kania, der am 6. November 1994 in Rothenburg von dem rechtsextremen Bundeswehrrekruten Sven Jacob erstochen wurde. Oder der 18jährige Punk Michael Gäbler, der am 20. November 1994 in Zittau von dem 17jährigen Neonazi Tino H. erstochen wurde.

Die um schnelle Gerichtsverfahren bemühten Richter urteilen zumeist auf der Grundlage entpolitisierender und oftmals offen täterschützender Polizeiermittlungen. Danach hätten die Täter in »Notwehr« gehandelt. Die drei hier genannten und unzählige weitere Opfer rechter Gewalt taten das, was heute alle fordern: Sie zeigten »Zivilcourage«, stellten sich Neonazis aktiv entgegen – zu einer Zeit, als das wahlweise als »Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendbanden« oder »Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsextremisten« abgetan wurde und den Medien gerade einmal eine Kurzmeldung wert war. Doch das Problem sind weniger die Zahlen und die schöngefärbten Statistiken. Selbst wenn nicht so viele Menschen getötet worden wären: Angst um ihr Leben, Angst, Opfer rechten Terrors zu werden, müssen noch immer sehr viele Menschen haben. Und jene, die Opfer der rechten Angriffe sind – Flüchtlinge, MigrantInnen, Afrodeutsche, Obdachlose, Linke oder Homosexuelle – finden kein Gehör.

Kaum jemand interessiert sich für Flüchtlinge, die recht- und mittellos in Sammelunterkünften zumeist außerhalb der Städte zusammengepfercht leben. Sie könnten von katastrophalen Lebensbedingungen berichten, davon, was es heißt, ausgegrenzt und kriminalisiert zu werden in einem Land, in dem sie eigentlich ein besseres Leben erhofften. Sie könnten berichten, wie es ist, mit Gesetzen konfrontiert zu sein, die nicht für, sondern gegen sie gemacht sind. Sie könnten davon berichten, wie Rassismus sich in ihrem täglichen Leben äußert und nicht allein von jugendlichen Neonazis, sondern einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung getragen wird. Ein körperlicher Angriff ist »nur« die zugespitzte Form einer alltäglichen Entwertung. Doch niemand hört ihnen zu. Sie werden allenfalls eingeladen, wenn die deutsche Gesellschaft feiert; angeblich für Toleranz und Weltoffenheit. Dann sind sie das Alibi, der gute ausländische Mitbürger, der angeblich nur von einer kleinen Minderheit diskriminiert wird. Reden werden da geschwungen von PolitikerInnen, die an anderer Stelle von »durchrasster Gesellschaft« sprechen oder im Wahlkampf nationalistische und rassistische Töne anschlagen. Zu Wort kommen die Flüchtlinge nicht. Und wenn das Gewissen beruhigt und die Veranstaltungen beendet sind, müssen sie zurück in ihre Sammelunterkünfte – isoliert, mittel-, recht- und vor allemsprachlos.

Oder jene, die durch die immer größer werdenden Maschen eines löcherigen sozialen Netzes fallen, die weder Geld, noch Arbeit, noch ein Dach über dem Kopf haben. Sie werden ebenfalls nicht gehört, nicht mal beachtet, nur ausgegrenzt – oft auch ohne Chance auf ein angenehmes Leben. Erwünscht ist nach wie vor nur, wer Leistung bringt und nützlich ist. Der oder die darf auch schon mal einreisen und arbeiten, zeitlich befristet mit Green Card. Doch wenn die »ausländischen ExpertInnen« zu lange bleiben oder nicht mehr funktionieren, dem »Neuen Markt« nicht mehr zur Verfügung stehen, müssen auch sie zurück. Dann gibt es auch für sie keinen Platz mehr in der deutschen Gesellschaft – trotz Weltoffenheit, trotz Toleranz.

Niemand bringt diese kapitalistische Verwertungslogik besser auf den Punkt als Brandenburgs CDU-Innenminister. Er begrüßte, dass auch die Grünen sich inzwischen »entschieden haben, die Ausländer haben zu wollen, die uns nützen«.1 Und einen Tag später wurde er in einem Interview mit »der tageszeitung« noch deutlicher: »Das Thematisieren von Asylmissbrauch kann missverstanden werden. Nur, wenn wir es nicht ansprechen, sprechen es andere an. Es gibt Asylmissbrauch. Ich glaube, es ist Aufgabe der Politik, dagegen vorzugehen. Man muss halt aufpassen, dass die Wortwahl nicht dazu führt, dass sich daraus Diskriminierung ergibt.«2

Die Opfer des rechten Terrors werden deshalb angegriffen, weil sie im Wertesystem der Herrenmenschenmentalität, der Allmachtsphantasien, der rassistischen Ausgrenzung und der Verwertbarkeit für das kapitalistische System ganz unten stehen. Dieses Wertesystem wird in der aktuellen Diskussion um Rechtsextremismus überhaupt nicht in Frage gestellt; es ist gesellschaftlicher Konsens und soll es bleiben. Und so ist es auch nicht überraschend, dass inzwischen niemand mehr nach den Motiven der rechten Schläger fragt. Denn nachdem Soziologen, Politiker und Medien jahrelange Täter- und Ursachenforschung auf dem Level von »irregeleiteten Jugendlichen«, »Modernisierungsverlierern«, »Einheitsverlierern« oder »Jugendprotest« betrieben und nach Entschuldigungen für die Täter suchten und inzwischen wie Wilhelm Heitmeyer ihre Thesen öffentlich widerrufen haben, geht es jetzt nur noch um moralische Empörung und mangelndes »Verständnis« für Fremde.

Selbst die Boulevard-Presse, die ein Jahrzehnt die rassistische Hetze mitschürte, stellte zwischendurch die Opfer in den Mittelpunkt der Berichterstattung, samt sympathieträchtiger Opferfotos. Die gleichen Bilder, die in den Jahren 1992 und 1993 zum Layout von Reportagen über die »Asylantenflut« dienten, prangen jetzt als Blickfang auf den Titelseiten. Damit ist man allemal auf der sicheren Seite und kann sich jegliche gesellschaftliche Analyse der Ursachen für Rechtsextremismus ersparen. Denn die würde zu dem Schluss kommen, dass institutioneller Rassismus und ein kapitalistisches, patriarchales Wertesystem eben genau die Basis sind, aus der Neonazis, rechtsextreme Jugendcliquen und rassistische Alltagsschläger ihre Legitimation und ihren »volksgemeinschaftlichen Auftrag« herleiten. Neonazis, rechtsextreme Jugendliche und Rassisten sind keine »Protestbewegung«, sie haben die herrschenden gesellschaftlichen Werte verinnerlicht und spitzen sie in ihrem Handeln zu.

  • 1Der Tagesspiegel, 22.09.00
  • 2die taz, 23.09.00