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Behördliche Einschätzung: Vom Amoklauf zum Rechtsterrorismus

Roland Sieber
Einleitung

Seit Oktober 2019 ist es offiziell: Der Neunfachmord am und im OEZ München von 2016 wird vom Bayerischen Landeskriminalamt als politisch rechtsmotivierte Gewaltkriminalität eingestuft. Seit drei Jahren tobt eine Debatte darüber, inwieweit die Tat als Amoklauf eines psychisch kranken Täters oder als Hassverbrechen eines politischen Attentäters zu bewerten sei.

Bild: Grafik aus Steam & amok wiki

Der Attentäter David Sonboly war online in rechten Gruppen auf der Gaming-Plattform Steam vernetzt.

Am fünften Jahrestag des Anschlags des Rechtsterroristen Anders Breivik mit 77 Toten in Norwegen erschoss der 18-jährige David Sonboly am 22. Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) München neun Menschen. Fünf weitere verletzte er durch Schüsse. Alle Todesopfer hatten einen Migrationshintergrund.

Im März 2017 stellten Polizei und Staats­anwaltschaft den Abschlussbericht der Sonderkommission vor. In diesem attestierten die Ermittler dem Täter eine rechtsextreme Gesinnung. So soll Sonboly mit der "Alternative für Deutschland" (AfD) sympathisiert, sich rassistisch geäußert und den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik bewundert haben. Während eines Aufenthalts in der Psychiatrie soll er eine Mitpatientin mit dem Hitlergruß begrüßt, Hakenkreuze gezeichnet und erklärt haben, dass er „manche Sachen gut finde, die Hitler gemacht hat“. Dennoch sei der Amoklauf laut dem Bericht „Rache“ für jahrelanges Mobbing gewesen. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war, so das Bayerische Landeskriminalamt damals.

Drei von der Stadt München beauftragte wissenschaftliche Gutachter haben daraufhin im Oktober 2017 unabhängig voneinander den Neunfachmord am OEZ-­München als „politisch motivierte, rechte Tat“ eingeordnet. Christoph Kopke kommt in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass der eigentliche Antrieb zur Tat vorrangig in der psychischen Konstellation bzw. psychiatrischen Erkrankung von Sonboly gelegen haben mag. Auffällig sei aber seine Bewunderung für den Massenmörder Anders Breivik wegen dessen rassistischer und muslimfeindlicher Positionierung. Für subjektiv erlittenes Unrecht machte der Attentäter laut dem Politikwissenschaftler eine rassistisch konstruierte Gruppe verantwortlich. Indem Sonboly gezielt Angehörige dieser Gruppe ermordete, erfülle die Art der Tatbegehung nach Erachten von Kopke auch die Kriterien eines Hassverbrechens.

Laut dem Gutachten von Matthias Quent schließen sich psychische Erkrankungen, Amok, Rassismus und Terrorismus weder konzeptionell noch empirisch aus. Bereits Jahre vor der Mehrfachtötung wurden bei Sonboly starke rassistische und kulturelle Vorurteile attestiert, so der Soziologe. Mobbing und das Rachemotiv können als Mitursachen für die Entstehung rassistischer Vorurteile bei ihm angesehen werden. Aber subjektive Einflussfaktoren auf die Entwicklung rassistischer Vorurteile dürfen nicht als Rechtfertigung von Rassismus missverstanden werden. Wird die gruppenbezogene Mehrfachtötung nicht als Hassverbrechen und damit als „politisch motivierte Kriminalität“ eingeordnet, werden die vorurteilsgeleiteten Zuschreibungen des Täters reproduziert und die kollektiv Betroffenen erneut geschädigt, resümiert der Rechtsextremismusforscher. Durch die gruppenbezogene Auswahl der Opfer aus Einwanderungsfamilien wird die Mehrfachtötung am und im OEZ München zum rassistischen Hassverbrechen. Rassistische Äußerungen des Attentäters und seine Sympathien für die AfD bestätigen diese Einordnung. Die Mehrfachtötung am OEZ kann laut Quent als Akt eines allein handelnden Terroristen bezeichnet werden.

Einerseits besteht kein Zweifel an einer „rechtsextremistischen Gesinnung“ von Sonboly, andererseits werden die Morde als unpolitisch abgetan, so Florian Hartleb: „Mit gutem Grund […] kann man hier auch einen Einsamen-Wolf-Terrorismus diagnostizieren.“ Laut dem Politikwissenschaft­ler negierte der Bayerische Innenminister die Einstufung als rechtsextremistische Tat deswegen, weil der Attentäter von München niemals in seinem Leben Teil einer rechtsextremistischen Organisation war. Diese Argumentation geht aber laut dem Gutachter von einem antiquierten Verständnis aus, welches im virtuellen geprägten Zeitalter des Einsamen-Wolf-Terrorismus längst nicht mehr zeitgemäß sei. Hätte man bei David Sonboly einen Mitgliedsnachweis einer rechtsextremistischen Organisation gefunden, so Hartleb, wäre man wohl an der Einstufung „Rechts­terrorist“ nicht vorbei gekommen.

Das LKA beauftrage daraufhin bei Britta Bannenberg ein eigenes Gutachten zur Einordnung der Tat, welches mit Erstell­datum Februar im Juli 2018 veröffentlicht wurde. Meines Erachtens ist dieses mit dafür verantwortlich, dass der Rechtsterrorist von Halle nicht auf den Schirm der Poli­zei war. So beschreibt die Kriminologin auf Seite 57 ihres Gutachtens, dass die Amok-Fan-Szene auf der Gaming-Plattform Steam eine intensivierende Wirkung auf Sonboly hatte und nennt auf Seite 56 die rassistischen Steam-Gruppen „Free Anders Breivik“ und „2083“ (Titel des Mani­fest des norwegischen Rechtsterroristen), um auf Seite 73 zu schreiben: „Der Täter war weder auf rechtsextremistischen Internetseiten, noch in einschlägigen Foren aktiv“. Damit wurde die Chance vertan, die Gruppen und Foren, in denen Sonboly aktiv war, als Orte zu benennen und zu beobachten, in denen sich auch zukünftige Terroristen politisierten und radikalisierten.

Im „Internet Archive“ sind einige Steam-­Gruppen archiviert, in denen Sonboly Mitglied war, etwa der „Anti-Refugee club“. Auf den ersten Blick sind die damaligen Haken­kreuze und SS-Uniformen im Titelbild der Gruppe „social club misfit gang“ zu erkennen. Auch in einigen Amok-Gruppen, in denen Sonboly mit seinen 15 Steam-­Accounts Mitglied war, finden sich Hakenkreuze, „Heil Hitler“ und neonazistische Codes. Auf Seite 63 ihres Gutachtens beschreibt Bannenberg, wie der spätere Attentäter auch im realen Leben mit ausländerfeindlichen Aussagen und Hakenkreuze auffiel. Um dann nur eine Seite weiter zu schreiben: „Sonboly besuchte keine rechtsextremistischen Seiten, verkehrte nicht mit rechtsgerichteten Personen und war schon gar nicht Anhänger der rechtsextremen Szene.“

In den Freundeslisten des Münchner Attentäters auf Steam finden sich hingegen auf den ersten Blick an Nutzernamen und Profilbildern erkennbare Neonazis und Anhänger der Alt-Right. Auch die Chats des Attentäters von München mit Neonazis und Anhängern des Rechts­terroristen Breivik erkennt sie in ihrem Gutachten nicht als Kommunikation mit rechtsgerichteten Personen an. So chattete Sonboly mit dem US-Neonazi William Atchison, der am 7. Dezember 2017 bei einem Schulattentat in Aztec (USA) zwei Schüler hispano-amerikanischer Herkunft ermordete.

Seit Jahren benennt die Amok-Forscherin zwar die politischen Komponenten wie Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit sowie die Bewunderung von Adolf Hitler bei Amoktätern, sieht diese Einstellungen aber in der Persönlichkeit der Tätertypen verankert und erkennt sie nicht als politisch motiviert an.

Nach den Anschlägen in Christchurch und Halle waren die deutschen Sicherheitsbehörden dazu gezwungen, den Anschlag von München in die Serie des netzbasierten Rechtsterrorismus einzuordnen. Die Überprüfungen verschiedener Online-Plattformen, auf denen Sonboly aktiv war, so das Bayerische LKA zur Neubewertung der Tat, ergaben weitere Hinweise auf sein rechtes Gedankengut. Auf diesen Plattformen werden vielfach menschenverachtende Kommentare, teils mit rechtsradikal motivierten rassistischen Elementen abgegeben. Es gäbe Anhaltspunkte dafür, dass Sonboly seine Opfer auch auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit und Herkunft ausgesucht habe. Weitere Anhaltspunkte für seine rechtsextremistische Orientierung zeigen sich in massiven ausländer- und menschenfeindlichen Abwertungen und durch sein Interesse an dem rechtsmotivierten Attentäter Breivik, so die Ermittler. Eine längst überfällige Erkenntnis, so Angehörige der Opfer und die antirassistische "Amadeu Antonio Stiftung", die seit drei Jahren für die Anerkennung des politischen Tatmotives kämpfen.