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Das Verfahren gegen die Neonaziseite „nw-berlin“

Einleitung

Nach vier Jahren Ermittlungen gab die Berliner Staatsanwaltschaft im April 2016 die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Vorwurf der Volksverhetzung gegen fünf Personen bekannt. Es bestehe kein hinreichender Tatverdacht gegen die Beschuldigten. Gegen den gesondert Verfolgten Sebastian Schmidtke, Landesvorsitzender der Berliner NPD, wurde jedoch wegen des identischen Tatvorwurfs Anklage beim Schöffengericht erhoben. Gegenstand des Ermittlungsverfahrens war die Internetseite nw-berlin.net, die als Sprachrohr der gewalttätigen Neonaziszene Berlins diente.  

Als Veranstaltungsleiter einer Neonazidemonstration in Berlin trat Sebastian Schmidtke hinter und vor einem „NW-Berlin.net“-Transparent öffentlich in Erscheinung.

Etliche Einstellungen und eine Anklage

Die Bezeichnung „NW-Berlin“ kam nach dem Verbot der Berliner „Kameradschaft Tor“ im Jahr 2005 auf. Sie dürfte für „Nationaler Widerstand Berlin“ stehen. Die Internetadresse des neonazistischen „Aktionsnetzwerkes“ unter dem Label „NW-Berlin“ fand sich nicht nur auf Plakaten oder Transparenten, sie wurde auch als aufgesprühte Parole  an Tatorten neonazistischer Anschläge hinterlassen. Zu den fünf Beschuldigten, gegen die das Verfahren eingestellt wurde, gehörten Jürgen R., Thomas M. und Andreas T., deren Postfächer auf „NW-Berlin“-Flugblättern genannt wurden. Die Beschuldigten Marcel Rockel (Herausgeber der Neonazi-Publikation „Berliner Bote“) und Corinna H. standen im Verdacht, Zahlungen an den Host-Provider geleistet und damit den Betrieb der Seite unterstützt zu haben.

Über die Internetseite wurden bis zu deren Abschaltung im Dezember 2012 etliche strafrechtlich relevante Inhalte verbreitet. Insbesondere wurden auf sogenannten „Feindeslisten“ Personen des aus Betreibersicht gegnerischen politischen Spektrums unter Veröffentlichung von Fotos aufgeführt und direkt und indirekt zu Angriffen auf Personen und Einrichtungen aufgerufen. Daraufhin kam es in zahlreichen Fällen auch tatsächlich zu derartigen Angriffen. Zum Verfahren hatte insbesondere ein im Dezember 2011 eingestellter Artikel geführt, welcher unter Befürwortung der im Nationalsozialismus erfolgten Vernichtung „unwerten Lebens“ ausführte: „wird das Kranke, das nicht für das Volkswachstum und nicht für die Volkswirtschaft Förderliche, als normal und alltäglich dargestellt. Schwule und Lesben finden in allen Medien und in allen Einrichtungen des öffentlichen Lebens ihren Platz, sie werden als die Generation der Zukunft verschrien. Das ist krank, asozial und unmenschlich, ganz im Sinne der deutschen Volksfeinde.“1

Auf einer über nw-berlin.net beworbenen Schwesterseite namens „chronik-berlin“ fanden sich seit Ende 2011 Listen von den Neonazis so bezeichneten „Linkskriminellen“, faktisch betraf dies unliebsame Personen und linke Treffpunkte unter dem Motto: „Wir nennen die Täter beim Namen.“ Mit der Auslagerung dieser „Chronik“ reagierten die Betreiber auf die Indizierung der Domain „nw-berlin.net“ vom April 2011, welche im Januar 2010 beantragt worden war. Auch hier waren ausländische Domainbetreiber angegeben. Die Server standen in Panama oder den USA, was zur Folge hatte, dass zahllose Strafanträge von Betroffenen zeitnah als aussichtslos zu den Akten gelegt wurden. Dabei waren etwa der in Dänemark wohnende Schwede Christian Kjellsson und seine Firma „Bifrost Media“ offen als Ersteller der Internetseiten genannt worden.

Anfang 2012 hatten der "Lesben und Schwulenverband" (LSVD) und die Partei "Bündnis 90 / Die Grünen" Anzeige wegen Volksverhetzung gegen „nw-berlin“ erstattet.
Auf parlamentarischer Ebene sowie durch zivilgesellschaftliche Gruppen war der Druck auf die Ermittlungsbehörden stärker geworden. Tatsächlich wurde fortan nicht mehr gegen unbekannt, sondern auf Betreiben der Staatsanwaltschaft gegen Sebastian Schmidtke als Beschuldigten ermittelt. Sebastian Schmidtke war über Jahre Aushängeschild des NW-Berlin, sei es als Verantwortlicher im Sinne des Presserechtes, als Redner auf Veranstaltungen oder als Demonstrationsanmelder. In einem Interview sprach er offen von „unserer Weltnetzpräsents“ (sic). Auf all das hatten Betroffene der Neonazigewalt mehr als einmal hingewiesen, das Berliner LKA 532 sah darin jedoch „keine (zureichenden tatsächlichen) Anhaltspunkte“.

Erst Anfang 2012 wurde im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens an den Internetprovider „new dream network“ (Kalifornien) herangetreten. Der US-amerikanische Neonazi Tom J. Martin (Charleston / South Carolina) hatte dort für „nw-berlin“ und einen „Gottfried Swartholm“ (Stockholm) für „chronik-berlin“ die Domains registriert. Die Auskunft des Providers führte zu dem Neonaziaktivisten Dennis Giemsch aus Dortmund und zu Christian Kjellsson aus Dänemark. Giemsch hatte als Hostbetreiber über seinen 2005 bei „DreamHost“ angemieteten Server nicht nur dutzende neonazistische Seiten gehostet, sondern für die Szene auch den Bloghoster „logr.org“, die Foren skadi.net und widerstand.info, das Werbenetzwerk layer-ad oder den Mailserver „0x300“ bereitgestellt.

Zwar wurden die beiden Berliner Internetseiten vom Netz genommen, wer dort die Administratorenrechte hatte, war offenbar jedoch nicht zu ermitteln. Auch der Versuch, über die „Hausfotografen“ und somit Kontaktpersonen des NW-Berlin, Christian B. und den Berliner JN-Vorsitzenden Björn Wild die verantwortlichen Administratoren zu ermitteln, blieb erfolglos.

Die Erkenntnisarmut der Berliner Sicherheitsbehörden überrascht angesichts der zahlenmäßig überschaubaren Berliner Neo­naziszene und aufgrund der Tatsache, dass sich der Berliner Neonazi Denis Sch. Anfang 2011 den ermittelnden Beamten gegenüber diesbezüglich geäußert hatte. In einem Artikel auf nw-berlin waren dessen persönliche Daten, Inhalte eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens und ein Foto des Neonazis veröffentlicht worden, da dieser ein „Verräter“ und „Denunziant“ sei. Sch.’s Schilderungen geben einen Einblick in die Funktionsweise des „Informationsportals“. Demnach sei der Neonazi zunächst in sozialen Netzwerken bedroht worden. Teile der ihn belastenden Ermittlungsakte seien dann in der Berlin-Lichtenberger Szenekneipe „Sturgis“ Personen aus dem Umfeld der gewaltaffinen „Vandalen — ariogermanische Kampfgemeinschaft“ gezeigt worden, wobei der „Vandale“ Matthias G. zugesagt habe, dass jeder bekommen würde, was er verdiene. Desweiteren sollen Aktenbestandteile zu Neonazis in Dortmund geschickt worden sein.

Für das Outing auf nw-berlin.net seien — seines Wissens nach — „Autonome Nationalisten“ aus Berlin-Lichtenberg verantwortlich, der Internetauftritt würde insbesondere durch Björn Wild bearbeitet werden.

Es entsteht der Eindruck, als seien pro forma und ohne große Erfolgsaussichten ein paar Personen aus dem Umfeld des „NW Berlin“ in das Visier der Ermittler gerückt, um gegenüber der Öffentlichkeit Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Die mutmaßlichen zentralen Akteure hinter „NW Berlin“ blieben bisher noch verschont. Sollte irgendwann neben Sebastian Schmidtke auch Björn Wild angeklagt werden, träfe es neben dem Führungskader der NPD auch den Vorsitzenden ihrer Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ in Berlin.

  • 1„Familie —wie die Keimzelle des Volkes von den Demokraten vergiftet wird!“