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Der Fall Mesut Özil: Das Deutschsein steht zur Debatte

Einleitung

Die durch „das Foto“ und den lauten Rücktritt Mesut Özils aus der Nationalmannschaft ausgelöste „Integrationsdebatte“ drückt das Unvermögen der deutschen Öffentlichkeit aus, sich ehrlich mit sich selbst und einer jahrzehntelang verfehlten Einwanderungspolitik zu beschäftigen. Stattdessen wurde lediglich der patriotisch-rassistische Beißreflex vieler Deutscher getriggert und die Debatte entglitt in rasantem Tempo. 

Bild: Screenshot von youtube.com/VOA News

Angefangen hatte es mit „dem Foto“: Zwei deutsche Nationalspieler, Mesut Özil und İlkay Gündoğan, huldigen dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan während des Wahlkampfs in der Türkei. Unerhört! Sofort beschwört die BILD-Zeitung „Entsetzen, Wut, Fassungslosigkeit“ herauf. Ein hessischer SPD-Stadtrat beschimpft die Nationalspieler auf Facebook als „Ziegenficker“. Der Chef des Deutschen Theaters in München twittert: „Verpiss dich nach Anatolien!“ Deutsche Altfußballer und Politiker zweifeln öffentlich an Özils Zugehörigkeit zu Deutschland. Nachdem ein deutscher Fan Özil als „Türkenschwein“ beschimpft, titeln viele einschlägige Medien „Özil legt sich mit deutschen Fans an.

2010 wurde Özil vom Burda-Verlag der Bambi-Preis für Integration aufgezwängt. DFB und Politik versuchten ihn als perfektes Beispiel für Integration zu stilisieren. Bei genauerer Betrachtung zeichnete sich jedoch eine Diskrepanz zwischen dem vermeintlichen „Vorzeigemigranten“ Özil und der Realität ab. Zwar entschied sich Özil für das deutsche Nationaltrikot – eine Entscheidung, die ihm viele türkische Fans übelnehmen – dennoch betet er vor jedem Spiel zu Allah und schweigt beim Abspielen der deutschen Nationalhymne. Er wurde sowohl von türkischen Fans ausgepfiffen als auch von deutschen Medien für seine undeutschen „hängenden Schultern“ kritisiert. Auch machte Özil nie einen Hehl aus seiner Unterstützung für Erdoğan, traf ihn in der Vergangenheit bereits mehrere Male öffentlich.

Das Echo der deutschen Öffentlichkeit auf „das Foto“ ebenso wie die rasche Eskalation der Debatte muss überwältigend für Özil und Gündoğan gewesen sein – und kalkuliert von Erdoğan. Denn wo sich Özil noch erfolgreich der Vereinnahmung als Integrationsmaskottchen durch die deutsche Politik und den DFB erwehrte, ließ er sich – bewusst oder unbewusst – von Erdoğan instrumentalisieren.

Selbstverständlich ist Kritik an Wahlkampftreffen mit autokratischen Herrschern, die Menschenrechte mit Füßen tre­ten, legitim. Auch dürfen politische Meinungen anderer kritisiert werden. Doch darum geht es in dieser „Integrationsdebatte“ nur nachrangig. Die wahre Empörung resultierte aus der gefühlten Illoyalität Özils gegenüber Deutschland. Über Nacht wurde er vom „Vorzeigemigranten“ zum Symbol einer gescheiterten Integration.

Deutschland duldet keine Geliebten im nationalen Ehebett

In der Debatte ist „gelungene Integration“ ein Euphemismus für Assimilation. Der bedingungslose Anspruch an Einwanderer, ihre alte Kultur restlos abzulegen und sich die deutsche Kultur überzustreifen. Wehe denen, die nicht dem Idealbild entsprechen. Wehe ihnen, sollten sie sich noch der Heimat ihrer Eltern oder Großeltern verbunden fühlen. Im deutschen Kopf gibt es keine Pluralität, keine Identität zwischen den Identitäten. Wer neben Deutschland noch andere Liebschaften pflegt, ist ein Verräter, kann nicht wirklich deutsch sein.

Mit seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft befreite sich Özil aus der Rolle des Integrationsmaskottchens und rieb der deutschen Öffentlichkeit all die Missstände deutscher Einwanderungspolitik unter die Nase, welche seit Jahrzehnten mittels Sym­bol­politik versteckt werden sollen. Wie viele Einwanderer hat Özil die Türkei nicht einfach vergessen, weil es in Deutschland so schön ist, sondern identifiziert sich, auch in dritter Generation, mit der Heimat seiner Eltern. Das liegt zu nicht unerheblichen Teilen an der deutschen Kultur des Ausgrenzens – sowohl gesellschaftlich als auch politisch. Wenn man Menschen immer wieder vermittelt, sie seien minderwertige Deutsche, sei es in Behörden, der Gesetzgebung oder der Öffentlichkeit, dann suchen sie sich woanders Anerkennung. Besonders, wenn man als Bürger zweiter Klasse behandelt wird und das Gefühl hat, unwillkommen in Deutschland zu sein.

Ein großer Teil dieser Unwillkommenskultur ist die deutsche „Einwanderungspoli­tik“. Seit Bestehen der BRD weigerte sich die deutsche Öffentlichkeit, insbesondere die Politik, anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Erst 1965 wurde das Ausländergesetz verabschiedet, welches maßgeblich den Aufenthalt von Ausländer_innen reglementierte. Zuvor wurden lediglich Anwerbeabkommen mit anderen Ländern geschlossen, welche nach dem „Rotationsverfahren“ die Arbeitserlaubnis von „Gastarbeiter_innen“ auf maximal zwölf  Monate begrenzten und eine Rückkehr ins Heimatland vorsahen. Das Rotationsverfahren wurde bereits im späten 19. Jahrhundert in Preußen erfunden, um Saison­arbeiter_innen wieder aus dem Land jagen zu können.

Mit der Ölkrise 1973 wurde ein Anwerbestopp verkündet und die „Remigration“ der nicht zurückgekehrten „Gastarbeiter_innen“ gefördert. Erstmals wichtiges Thema im Wahlkampf wurde die „Ausländerpolitik“ Anfang der 1980er Jahre. In der Koa­litionsvereinbarung von CDU und FDP aus dem Jahr 1983 heißt es entsprechend: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“ 1986 folgte eine „Asylkampagne“ der Unionsparteien mit dem Ziel, das Asylrecht im Grundgesetz massiv einzuschränken. Die ersten Asylbewerberunterkünfte werden angegriffen. Pünktlich zur Bundestagswahl 1990 verschärfte sich die sogenannte „Asyldebatte“ mithilfe der Springermedien massiv. Begriffe wie „Scheinasylant“ und „Asylmissbrauch“ sowie die deutsche Wassermetaphorik („Flut“, „Schwemme“, „Abschotten“) wurden gebo­ren. Die Zeitschrift "Der Spiegel" titelte die (spätere) NPD-Parole: „Das Boot ist voll!“. Es folgten die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Nach massiven Einschränkungen des Asylrechts mit einer Grundgesetzänderung beruhigte sich die Lage in Deutschland – die Neonazis verschwanden wieder in ihre Keller.

Es sollte noch bis zum Jahr 2005 dauern, bis mit dem Zuwanderungsgesetz erstmals offiziell von Einwanderung gesprochen wird. Im Jahr 2015 kommt es zur „Flüchtlingskrise“ und einem kurzen, barmherzigen Impuls des Helfens - bis die Debatte der 1980er Jahre Deutschland zurückerobert und wieder Unterkünfte brennen.

In diesem Klima der Unsicherheit, des Aufhetzens der Mehrheitsgesellschaft gegen Einwander_innen, sollen sich diese zu Deutschland bekennen? Wer alle zwei Jahre Angst haben muss, seine Duldung zu verlieren, soll sich mit einer Gesellschaft der Ausgrenzung identifizieren, mit einem Regime der Diskriminierung?
Özils Vorwürfe von Rassismus beim "Deutschen Fußball-Bund" (DFB) wurden als „Quatsch“, seine Rücktritts­erklärung von Bild als „wirre Abrechnung“ und „Jammer-Rücktritt“ abgeschmettert.

Das Selbstbild des geduldigen, toleranten Deutschen, der seine Contenance nur verliert, wenn jemand das deutsche Vertrauen missbraucht, wurde standfest auch gegen die #metwo-Kampagne verteidigt. In der Bild darf ein „Experte“ zwischen „gefühlter Diskriminierung“ und „tatsächlicher Diskriminierung“ unterscheiden und schon kann der deutsche Michel wieder beruhigt schlafen. Dabei zeigt sich in fast allen Zahlen der sogenannten „Integrations-Indikatoren“ des Statistischen Bundesamtes – wie Schulabschluss oder Arbeitslosigkeit – die strukturelle Diskriminierung Eingewanderter und ihrer Kinder.

Dass diese „Integrationsdebatte“ den Fußball als Auslöser hatte, ist seiner Rolle als wohl derzeit wichtigste nationale Identitätsstiftung geschuldet. Doch um „Integration“ geht es nicht in dieser Debatte, die der eigentlichen Rassismusdebatte übergestülpt wurde. Sie soll klären, ab welchem Grad der Assimilierung Zugewanderte als deutsch anerkannt werden, nicht, was die deutsche Gesellschaft tun muss, damit Eingewanderte sich hier anerkannt fühlen. Aus dem Blick gerät dabei, dass Integration erst gelingen kann, wenn sich das Ministerium für Heimat für die Belange von Zugewanderten als zuständig betrachtet.