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Der militante Flügel des türkischen Staatsnationalismus

Kemal Bozay
Einleitung

Seit mehr als fünf Jahrzehnten existiert in der Türkei eine nationalistische, rassistische und gewalttätige extrem rechte Bewegung. In den vergangenen Jahren haben sie im Rahmen des Bündnisses mit der Regierungspartei AKP ihre Aktivitäten verstärkt. Sie sind in Deutschland in hunderten lokalen Vereinen und in Dachverbänden organisiert: die sogenannten „Grauen Wölfe“. Mit schätzungsweise mehr als 18.000 Mitgliedern dürfte sie die stärkste extrem rechte Organisation hierzulande sein.

(Symbolbbild: Screenshot von turkiyeaktuel)
(Symbolbbild: Screenshot von turkiyeaktuel)

(Symbolbbild: Screenshot von turkiyeaktuel)

Im Zuge der polarisierenden migrationspolitischen Debatten der 1990er Jahre in Deutschland prägte der damalige Vorsitzende 1995 den Begriff des „Europäischen Türkentums“ (Avrupa Türklüğü) als Sammelbegriff für die türkisch-nationalistische Identität von Anhängern außerhalb der Landesgrenzen. Dieser Logik entspricht der Slogan „Werde Deutscher, bleibe Türke!“, mit dem türkische extrem rechte Organisationen ihre Mitglieder auffordern, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben und diese politisch zu nutzen.

Sie nennen sich selbst „Ülkücü“-Anhänger1 , ihr Symbol ist der „Graue Wolf“ (Bozkurt), der aus einem alttürkischen Mythos stammt und Stärke, Militanz und Aggressivität symbolisieren soll. Sie propagieren einen ethnischen Nationalismus und betonen vermeintlich islamische Werte. Ihr Ideal ist „Turan“, ein großtürkisches Reich, sowie die Eliminierung politischer Gegner. Sie hetzen gegen Linke und „Nicht-Türken“ – etwa Armenier und Kurden - selbst wenn diese die türkische Staatsbürgerschaft besitzen.

Die ideologische und geschichtliche Basis bilden die Ideologien des Panturkismus und Turanismus, die die rassische, historische und moralische Einheit sowie Überlegenheit aller Turkvölker behaupten und die Vereinigung dieser Völker in einem großtürkischen Reich unter türkischer Vorherrschaft anstreben. In der Endphase des Osmanischen Reiches hatte die sogenannte jungtürkische Regierung den Panturkismus und Turanismus zur Staatsdoktrin erhoben. Sie versuchte, – erfolglos –, den bereits zerfallenden Vielvölkerstaat auf rein türkisch-nationalistischer und islamischer Grundlage wiederaufzubauen. Dies äußerte sich unter anderem in entfesselter Gewalt gegen die armenische Bevölkerungsgruppe und schließlich im Genozid an den Armeniern.

Die 1930er Jahre

Im Laufe des Zweiten Weltkrieges erstarkten in der Türkei faschistische Bewegungen. Kurz nachdem die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht kamen, begann eine neue Phase der deutsch-türkischen Beziehungen. Obwohl die Türkei offiziell neutral blieb, intensivierte sie die Beziehungen zu Nazi-Deutschland. Ab den 1930er Jahren gehörte die Türkei zu einem der wichtigsten Lieferanten von Chromerz, das ein wichtiger Rohstoff für die Kriegsindustrie des NS-Regimes war. Mit Unterstützung Nazi-Deutschlands blühte der Turanismus erneut auf, deren Anhänger insbesondere in der Vereinigung Türk Ocağı (Heim der Türken) organisiert waren.

Bereits 1934 kam es in der Türkei auch zu Pogromen gegen Juden. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges tauchte Alparslan Türkeş auf der politischen Bühne auf, der spätere Anführer der „Grauen Wölfe“. Trotz seines jungen Alters war der Hitler-Sympathisant ein wichtiger Akteur in der turanistischen Bewegung. 1944, als der Sieg der Alliierten in Sichtweite rückte, ließ die türkische Regierung 23 führende Persönlichkeiten des Turkismus und Turanismus verhaften, unter ihnen Türkeş. Er und seine Gesinnungsfreunde wurden im sogenannten „Rassismus-Turanismus-­Verfahren“ zu Freiheitsstrafen verurteilt – er selbst zu zehn Jahren. Später wurde er aber wieder freigesprochen.

Aus Sorge vor einem wachsenden Einfluss der Sowjetunion wandte sich die Türkei in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre dem Westen zu, Linke und Kommunisten wurden stärker verfolgt als Turkisten und Ultranationalisten. Das war historisch betrachtet der Beginn einer Neuformierung des türkischen Rechtsextremismus. Die MHP als faschistoide Massen- und Aktionspartei entstand während der 1960er Jahren aus ihrer Vorgängerpartei, der Republikanischen Nationalen Bauernpartei (CKMP2 ).

Mitte 1960er Jahre schied der damalige Oberst Türkeş aus dem Militärdienst aus und trat im März 1964 der CKMP bei. Er und seine Anhängerschaft gewannen in der Partei an Einfluss und setzten 1969 die Umbenennung in Nationalistische Bewegungspartei (MHP) durch. Die Fahne der Partei wurde in drei auf den Rücken gekehrte Halbmonde auf rotem Hintergrund geändert. Das Zeichen der drei Halbmonde – der offiziellen Flagge des einst mächtigen Osmanischen Reiches – sollte dazu dienen, weitere nationalkonservative und islamisch orientierte Wählerschichten anzusprechen.

In den 1960er und 70er Jahren radikalisierte sich die Bewegung. Türkeş hatte die sogenannte Strategie der drei Stufen in der MHP-nahen Zeitung Devlet (Der Staat) formuliert: Die Eroberung der Straßen, die Eroberung des Staates und die Eroberung des Parlaments. Unter dem Namen „Graue Wölfe“ wurden militante Jugendgruppen und paramilitärische Kommandos aufgebaut, die mit Gewalt für die Eroberung der Straße sorgen sollten. Diese Gruppen verübten zahlreiche, teils paramilitärische Mordanschläge und Pogrome gegen Aleviten.3 Auch Mehmet Ali Ağca, der 1981 in Rom das Attentat auf Papst Johannes Paul II. verübte, war Anhänger der Grauen Wölfe. Ihr Ziel war einen Bürgerkriegszustand zu schaffen, der die MHP an die Macht bringen sollte. Bei Wahlen erhielt sie bis zu 6,8 Prozent der Wählerstimmen und beteiligte sich in den 1970er Jahren an zwei Mitte-­Rechts-Regierungen.

Die MHP verstand sich dabei als militanter und radikaler Flügel des Staatsnationalismus. Nach einem weiteren Militärputsch am 12. September 1980 wurden zunächst alle Parteien verboten und 1982 eine neue Verfassung verabschiedet, die u.a. eine Zehn-Prozent-­Sperrklausel bei den Parlamentswahlen beinhaltete.

Innerhalb der „Ülkücü“-Bewegung kann man zwei Hauptströmungen unterscheiden: jene um die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP)4 , sowie jene um die „Große Einheitspartei“ (BBP)5 . 1993 spaltete sich die „Große Einheitspartei“ (BBP) von der MHP als nationalistische und zugleich stark am Islam ausgerichtete Partei ab. Die Morde am armenischen Journalisten Hrant Dink 2007 sowie an christlichen Geistlichen in Trabzon und Malatya werden dem Umfeld der BBP zugeordnet. Der Führer der BBP war Muhsin Yazıcıoğlu, langjähriger Berater und Weggefährte von Türkeş. Nach dem Militärputsch 1980 saß er mehrere Jahre im Gefängnis.

Der Konflikt um Minderheitenrechte für Kurden trug in den 1990er Jahren dazu bei, dass sich der – ohnehin starke – Nationalismus der gesamten türkischen Politik verschärfte. 1998 fand dieser seinen Höhepunkt und die MHP übernahm eine Schlüsselrolle in der türkischen Politik. Nach dem Tod ihres Führers Türkeş (1997) entschied sie sich, die MHP unter ihrem neuen Vorsitzenden Devlet Bahçeli für ein moderateres Auftreten. Nach anfänglichen Abgrenzungen ist sie gegenwärtig ein wichtiger strategischer Verbündeter der AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan, insbesondere im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung.

Die Ideologie der Grauen Wölfe

Die Ideologie und Gesinnung der türkischen extremen Rechten stützt sich auf ein Konglomerat verschiedener Diskurse und Grundpfeiler. Dazu zählen neben Rassismus auch Sexismus, Homophobie, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen sowie Autoritarismus, Führerkult und Gewaltakzeptanz. Türkeş wird bis heute als „Führer“ verehrt, seine Prinzipien werden befolgt. Die politische Ideologie des „idealistischen Nationalismus“ beinhaltet einen Rassismus (im ethnischen Sinne) gegenüber nicht-türkischen Bevölkerungsteilen.

Auch wenn aus taktischen Gründen eine offene rassistische Position geleugnet wird, bildet er einen Grundpfeiler der MHP-Ideologie. Er richtet sich vor allem gegen Armenier, Kurden und Juden. Nihal Atsız, ein Vordenker der Grauen Wölfe, formulierte die Elemente des Turkismus wie folgt: „Ein Türke glaubt an die Überlegenheit der türkischen Rasse, schätzt deren nationale Vergangenheit und ist bereit, sich für die Ideale des Türkentums zu opfern (...)“. Im Zentrum der MHP-Politik steht die „Neun-­Lichter-Doktrin“ von Alparslan Türkeş, in der er einen extremen Nationalismus mit islamischer Frömmigkeit verbindet.

Im Laufe der Geschichte der MHP wurde der Islam verschieden akzentuiert. Die Bezugnahme auf den Islam dient im Rahmen des gesellschaftlichen Diskurses als Gegenpol zum Einfluss säkularer, liberaler und meist pluralistischer Ideen, wie etwa Minderheitenrechte und Gleichstellung.

Die MHP hat einen Beitrag dazu geleistet, dass die „Türkisch-Islamische Synthese“ zu einem Kernideologem des türkischen Rechtsnationalismus geworden ist. Die zentrale Implikation dieser „Synthese“ ist die geschichtliche Vorstellung der Untrennbarkeit von türkisch-nationalen und islamischen Bestandteilen. Zugleich dient die Betonung des Islam durch die MHP dazu, breitere islamisch geprägte Bevölkerungsgruppen beeinflussen und rekrutieren zu können. Dies gilt derzeit nicht allein für die MHP, sondern für alle konservativ-nationalistischen Parteien und islamischen Bewegungen in der Türkei.

  • 1Ins Deutsche übertragen bedeutet das Wort „Ülkücü“„ bedeutet so viel wie „Idealismus“.
  • 2Cumhuriyetçi Köylü Millet Partisi
  • 3etwa in Kahramanmaraş, Çorum, Sivas, Gazi und Ümraniye
  • 4Milliyetçi Hareket Partisi
  • 5Büyük Birlik Partisi