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Instrumentelle Moral. Die Verfolgung von NS-Verbrechen in der DDR

Einleitung

Zeit ihrer Existenz nahm die DDR für sich in Anspruch, als der antifaschistische Staat alle notwendigen Konsequenzen aus der NS-Vergangenheit gezogen zu haben. Neben der Behauptung, in der DDR seien mit dem Kapitalismus die Ursachen des Faschismus beseitigt, war das Postulat, die DDR betreibe die Bestrafung von NS-Tätern mit Akribie und moralischer Nachhaltigkeit, ein weiterer zentraler Eckpfeiler der antifaschistischen Meistererzählung, die NS-Verbrecher und Nazis in hohen Positionen nur in der Bundesrepublik wähnte. Tatsächlich pflegte die DDR ein ähnlich, wenn auch anders motiviertes, instrumentelles Verhältnis zu NS-Tätern, wie die Bundesrepublik.

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-72704-0001 /CC BY-SA

Prozeß gegen Theodor Oberländer in Ostberlin 1960.

Der alliierte Wettlauf um die Schlüsseleliten des NS-Regimes

Nach dem Ende des Krieges begannen die sowjetische und amerikanische Militärverwaltung mit der Suche nach Schlüsselpersonen aus den wissenschaftlichen, militärischen und geheimdienstlichen Agenturen des NS-Staates. Ziel war es, sich möglichst vor der jeweils anderen Seite in den Besitz von Wissensressourcen und Technologien zu bringen. Neben Kernphysikern, Raketenkonstrukteuren und Chemikern traf dies auf Mitarbeiter des SD, der SS bzw. des RSHA zu. Beide Militärverwaltungen versprachen sich im Zuge des beginnenden Kalten Krieges Einblicke in die Machtsphäre des anderen. Vormalige NS-Akteure dienten sich, wie Reinhard Gehlen aus der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres, der jeweiligen Besatzungsmacht an.1 Der in der SBZ operierende sowjetische Geheimdienst NKWD ließ sich bei der Auswahl seiner neuen Kooperationspartner ebenfalls nicht von moralischen Skrupeln leiten, wie die Rekrutierung von ehemaligen SS-Hauptsturmführern und SD-Mitarbeitern zeigt.2

Stille Integration ehemaliger Nazis

Entgegen des propagierten Scheins kam der Aufbau der DDR nicht ohne die soziale und politische Integration ehemaliger Nazis aus. Diese vollzog sich fast analog derer in der Bundesrepublik. In der NDPD sammelten sich ganz offiziell ehemalige Wehrmachtsoffiziere, Soldaten sowie Mitglieder der SS, die unter deutschnationalen und antiwestlichen Vorzeichen am Aufbau des Landes teilhaben wollten. Die SED nahm ebenfalls ehemalige Nazis in ihre Reihen auf. Bereits 1946 hatte die neugegründete Partei die Aufnahmehürden für ehemalige Nazis zum Missfallen vormaliger Widerstandskämpfer und Emigranten gesenkt. Zu Beginn der 1950er Jahre fanden sich knapp über 100.000 vormalige Mitglieder der NSDAP in den Reihen der SED wieder.3 Diese waren keineswegs nur einfache Mitglieder, sondern stiegen bis in SED-Kreis- und Bezirksleitungen auf. Der SED gelang es, eine höhere Anzahl ehemaliger Nazis für sich zu gewinnen als die NDPD.

Der Anteil vormaliger NSDAP-Mitglieder war in den gesellschaftlichen Sphären der SBZ hoch, in denen Fachkräfte nicht lückenlos durch neues Personal ersetzt werden konnten. Dies betraf die Universitäten, wo sich die personellen Kontinuitäten in den naturwissenschaftlichen Fakultäten niederschlugen, ebenso, wie das Offizierskorps der NVA und Teile des Schuldienstes. Die auf den Kapitalismusaspekt reduzierte Analyse der Ursachen des NS-Regimes unterbreitete ehemaligen Nazis ein Integrationsangebot: Wer den Willen zur Loyalität gegenüber Partei und Staat aufbrachte, konnte im Angesicht des Kalten Krieges die Frage nach der persönlichen Verantwortung ignorieren und wurde durch den propagandistischen Verweis auf die Bundesrepublik als »Hort der Reaktion« entlastet.

Die Waldheimer Prozesse

In der Zeitgeschichtsforschung gelten die sogenannten Waldheim-Prozesse als besonders umstritten. Während die Prozesse in der DDR meist unterschlagen oder durchgehend als »Kriegsverbrecherprozesse« charakterisiert wurden, erschienen sie im Westen ausschließlich als stalinistische Schauprozesse.4

Die Komplexität der Waldheim-Prozesse, die von April bis Juni 1950 stattfanden, ergibt sich aus dem Charakter der Verfahrensführung und aus der Herkunft der Angeklagten, bei denen es sich nicht ausschließlich um NS-Täter handelte. Die Mehrzahl der in Waldheim angesiedelten Prozesse des Landgerichts Chemnitz wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Die Prozesse verzichteten auf einen individuellen Schuldnachweis seitens der Staatsanwaltschaft, den Angeklagten wurde, bis auf wenige Ausnahmen, kein Rechtsbeistand gewährt. Die Urteile mussten zudem von einer angereisten SED-ZK-Kommission vor ihrer Verkündung bestätigt werden. Rechtsstaatlich gesehen waren sie eine Justizfarce. Zweifellos befanden sich unter den Angeklagten ehemalige Nazis, die sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatten.

Ebenso fanden sich jedoch unter den insgesamt 3.442 in Waldheim angeklagten Personen aktive Antifaschisten, zufällig in die Mühlen des NKWD geratene Jugendliche, ja selbst Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Viele der Verfahren endeten mit zum Teil drakonischen Strafen, die im Einzelfall in keinem Verhältnis zum Tatvorwurf standen. Allerdings wurde die Mehrzahl der in Waldheim verurteilten Personen bei den im Laufe der 1950er Jahre ergehenden Amnestiewellen der DDR-Regierung begnadigt. So kam es zu der paradoxen Situation, dass sich Ende der 1950er Jahre NS-Straftäter wieder auf freiem Fuß befanden, die wenige Jahre zuvor zu langjährigen Haftstrafen verurteilt waren und nun nicht noch einmal juristisch belangt werden konnten. Nach der Wiedervereinigung wurden die Verurteilten der Waldheimer Prozesse en Block rehabilitiert.

Kampagnen und Nebenklagen

Seit Anfang der 1950er Jahre führte die SED-Vorfeldorganisation »Ausschuss für deutsche Einheit« (ADE) organisierte Propagandakampagnen gegen ehemalige Nazis, die Funktionen in der westdeutschen Ministerialbürokratie oder der Justiz inne hatten. Koordiniert wurden diese Kampagnen vom SED-Chefideologen Albert Norden, der als Jude und Kommunist im NS verfolgt wurde.5 Sie wandten sich gezielt an die Öffentlichkeit der Westalliierten, um diesen die ungebrochene Kontinuität der Bundesrepublik zum NS-Staat vor Augen zu führen. Dabei konnte die DDR u.a. auf Aktenbestände des ehemaligen Reichsgerichts in Leipzig zurückgreifen, die eine Verstrickung führender Richter in NS-Verbrechen z.T. sehr detailliert bewiesen.

Dies brachte die Bundesregierung in Einzelfällen durchaus ungewollt in Zugzwang, sich mit den Vorwürfen gegen Richter und Staatsanwälte auseinanderzusetzen. So musste Generalbundesanwalt Fränkel aufgrund seiner Vergangenheit in der NS-Justiz abtreten, die in einer Veröffentlichung der ADE minutiös dargelegt wurde.6 Zur Kampagnenpolitik gehörte die Inszenierung von Schauprozessen gegen prominente, wiewohl abwesende NS-Täter in hohen Funktionen der BRD. In einem von dem Generalstaatsanwalt initiiertem Schauprozess griff die DDR den Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer scharf an. Oberländer wurde einer Beteiligung an Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in der Sowjetunion überführt und verurteilt. Unter Druck geraten, trat er 1960 als Minister zurück.

Darüber hinaus war die DDR bestrebt, in Aufsehen erregenden NS-Prozessen in der Bundesrepublik mit einem Nebenklagevertreter präsent zu sein. Neben dem juristischen Aspekt spielte der propagandistische Effekt dabei eine erhebliche Rolle.

Die SED-Führung hatte sich angesichts der innenpolitischen Krise in den Jahren um 1960 das Ziel gesetzt, das »Adenauer-Regime« auf die Anklagebank zu setzen. Hierzu war niemand besser geeignet als der Ostberliner Anwalt Friedrich Karl Kaul. Kaul, selbst als Kommunist und Jude Verfolgter des NS-Regimes, besaß den Vorteil, dass er einer der wenigen DDR-Anwälte war, der in der Bundesrepublik über eine Zulassung verfügte. Kaul war zudem ein brillanter Rhetoriker und intellektueller Kopf.7 Seine Nebenklagevertretung im Frankfurter Auschwitz- und im Düsseldorfer Treblinkaprozess wurde von einem Ensemble aus ZK-Progandaabteilung, Staatssicherheit und Justiz akribisch vorbereitet. Kaul sollte in dem Frankfurter Verfahren auf die im Prozess eher unterbelichtete Rolle der IG Farben bzw. der IG Auschwitz verweisen. Doch der von Kaul angeführte Verweis auf die Rolle der Industrie im NS-Vernichtungsprogramm wurde vom Gericht, auch ob der unzureichenden Quellenlage, nicht gewürdigt, was die DDR wiederum als Beleg für den fehlenden Aufklärungswillen der westdeutschen Justiz deutete.

Im Eichmann-Prozess in Jerusalem sollte Kaul ebenfalls als Nebenklagevertreter in der DDR lebender, ehemaliger KZ-Häftlinge fungieren. Er erhielt vom Jerusalemer Bezirksgericht jedoch keine Zulassung. Die juristische Parteinahme für Auschwitzhäftlinge stand in eklatantem Widerspruch zur aggressiven antizionistischen Außenpolitik der DDR, die eine strategische Anlehnung an die arabischen Staaten forcierte.

Rechtshilfeersuchen im Kalten Krieg und die Rolle des MfS

Im Rahmen der Verfolgung von NS-Straftätern richtete die Bundesrepublik zahlreiche Rechtshilfeersuchen um Akteneinsicht an die DDR. Ob diesen stattgegeben wurde, richtete sich danach, ob sich aus den offen zu legenden Akten Rückschlüsse auf NS-Verstrickungen von Funktionsträgern der DDR ziehen ließen, die diese international in Misskredit bringen konnte. So wurden die Staatsanwaltschaften angewiesen, jedes Rechtshilfeersuchen der zuständigen MfS Abteilung zu melden, damit diese die sicherheitspolitische Brisanz der Fälle für die DDR prüfe. Die Konsequenz war, dass letztlich das MfS bei NS-Verfahren Staatsanwälten und Richtern die ermittelnde Hand führte. Von einer institutionellen Autonomie der DDR Strafverfolgungsbehörden gegenüber politischer Einflussnahme des MfS oder des ZK Apparats konnte zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Allem Handeln waren so genannten sicherheitspolitischen Erwägungen vorgelagert. Als Simon Wiesenthal im Zuge der antizionistischen Parteinahme der DDR im Sechs-Tage Krieg 1967 in einer Broschüre auf NS-belastete Personen im Dienste der DDR verwies, reagierte diese mit der Diffamierung Wiesenthals.

Seit Anfang der 1950er Jahre bemühte sich das MfS, die Kontrolle über sämtliche auf dem Gebiet der DDR verfügbaren NS-Akten zu erlangen. In mehreren Schritten füllte die Stasi aus den Akten verschiedener NS-Institutionen die eigenen Archivbestände auf, die den Geheimdienst in die Lage versetzten, im Falle von NS-Straftätern nach eigenem Gutdünken zu agieren. In zahlreichen Fällen erpresste die Stasi ehemalige Nazis mit ihrer Vergangenheit zu einer Arbeit für den Geheimdienst. Ebenso ließ man, wie im Falle des Oradour-Mörders Heinz Barth, Ermittlungsverfahren jahrelang aus taktisch Gründen ruhen, da man fürchtete, von der Bundesrepublik eigene Versäumnisse bei der Verfolgung von Tätern vorgerechnet zu bekommen. Nicht zuletzt fälschte das MfS Akten, wenn es Personen des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik zu diskreditieren galt. Doch auch vom MfS initiierte Strafverfahren gab es. Das Monopol des Geheimdienstes auf NS-Akten führte zu deren höchst instrumentellem Gebrauch, der jegliche Transparenz der Verfahren ebenso vermissen ließ, wie eine eindeutige moralische Linie.

Streit um die Deutungshoheit

Im Zuge der Aufarbeitung der DDR-Justizpraxis gegenüber NS-Straftätern kam es in den 1990er Jahren zu einer Kontroverse um die Deutungshoheit der in der DDR stattgefundenen Strafverfahren gegen NS-Täter. Während der ehemalige DDR-Generalstaatsanwalt Günter Wieland darauf beharrte, die DDR-Strafverfolgungsbehörden hätten NS-Täter mit allen zu Gebote stehenden rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt8 , kritisiert Falco Werkentin9 den apologetischen Charakter von Wielands Ausführungen.10 Wieland unterschlage die Tatsache, dass in der DDR geführte NS-Prozesse rechtsstaatlichen Standards nicht genügt hätten. Gleiches kritisiert Werkentin an der vom Amsterdamer Rechtswissenschaftler Rüter besorgten Edition ostdeutscher NS-Urteile. Diese übernehme unkritisch die Angaben der DDR-Justizorgane, ohne nach deren ideologischer Determination zu fragen. Ein Vorwurf, den Rüter zurückweist. Für ihn bestünden keine Zweifel am rechtsstaatlichen Charakter von in der DDR geführten NS-Prozessen. Der Streit wird nicht ohne Grund erbittert geführt: der legitimatorische Antifaschismus der DDR bezog seine Authentizität nicht unwesentlich aus der Behauptung, Nazis seien in der DDR unnachsichtig verfolgt worden.

Während DDR-Apologeten im Umfeld der Linkspartei diese These weiterhin stützen und wider besseres Wissen dagegen anschreiben, bedienen sich totalitarismustheoretisch durchwirkte Historiker der niederschmetternden Erkenntnisse aus den Akten der Birthlerbehörde, um ihre antikommunistischen Ressentiments bestätigt zu finden.

Fazit

Die heute noch anzutreffende Ansicht, die DDR habe, anders als die Bundesrepublik, gänzlich mit der personellen Kontinuität des NS-Staates gebrochen und NS-Täter konsequenter verfolgt, muss als historische antifaschistische Meistererzählung verworfen werden. Wie gezeigt, pflegte die DDR ein politischen Opportunitätserwägungen unterworfenes Verhältnis zur strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen. Diese Tatsache schmälert das Engagement der Akteure der DDR- Justiz bei der Verfolgung von NS-Tätern keineswegs, zumal sie nicht wenige ehemalige Nazis auch in hohen Funktionen der Bundesrepublik erfolgreich unter Druck setzte. Dass die DDR-Behörden dabei jedoch stets ihre eigenen strategischen Interessen verfolgten, macht das Spannungsverhältnis zwischen einer ohnehin ideologiegebundener Strafverfolgung und den Interessen der DDR im Kontext des Kalten Krieges deutlich. Die Ahndung von NS-Verbrechen war in höchstem Maße abhängig vom deutsch-deutschen Wechselwirkungsverhältnis im Zeitalter der Blockkonfrontation.

Die Fälle, in denen das MfS wieder besseres Wissens, NS-Täter deckte, um diese für seine geheimdienstlichen Interessen einzuspannen, zeigt, wie stark die Verfolgung von NS-Straftätern in der DDR einer instrumentellen Moral untergeordnet war, die im Zweifel auf die Interessen der Opfer wenig Rücksicht nahm.

Während man in den 1960er Jahren keinen propagandistischen Aufwand scheute, um die tatsächlichen Versäumnisse der westdeutschen Justiz bei der Verfolgung von NS-Tätern anzuprangern, breitete die DDR über NS-Täter im eigenen Land den Mantel des öffentlichen Schweigens. Die DDR nahm NS-Täter, wo es zweckdienlich schien, für den Klassenkampf in Dienst, statt sie rechtsstaatlich zu bestrafen. Insofern blieb der propagierte Antifaschismus der DDR auch auf dem Feld der Verfolgung von NS-Tätern eine historische Meistererzählung, die als Gegendiskurs zum Modell der westdeutschen Restauration zwar ihre Berechtigung besaß, realiter jedoch selektiv und instrumentell ausgelegt wurde.
 

  • 1REESE, M.E.: Organisation Gehlen: Der kalte Krieg und der Aufbau des deutschen Geheimdienstes Berlin 1992
  • 2LEIDE, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit: Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR S.38ff.
  • 3vgl. LEIDE a.a.O. S.48ff.
  • 4FRICKE; Karl Wilhelm: Politik und Justiz in der DDR; Köln 1990
  • 5PODEWIN, Norbert: Albert Norden: Der Rabbinersohn im Politbüro; Berlin 2001
  • 6Vgl. MIQUEL, Marc von: Ahnden oder Amnestieren? S. 99ff.
  • 7Vgl. ROSSKOPF, Annette: Friedrich Karl Kaul: 2002
  • 8Vgl. WIELAND, Günter: Einleitung  IN: RÜTER, Christian F.: DDR-Justiz und NS-Verbrechen; Amsterdam 2002
  • 9Vgl. WERKENTIN, Falco: DDR-Justiz und NS-Verbrechen – Notwendige Anmerkungen zu einer Dokumentation IN: DEUTSCHLAND ARCHIV 3/05 S.506ff.
  • 10Vgl. WIELAND, Günter: Die Amsterdamer Edition »Ostdeutsche Justiz und NS-Verbrechen« IN: BULLETIN FÜR WELTKRIEGS-UND FASCHISMUSFORSCHUNG Nr. 19/2002 S.3ff.