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Möglicher NSU-Zeuge?

Sven Ullenbruch
Einleitung

Der ungeklärte Tod von Florian H.

Drei Jahre nach dem Auffliegen des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) und mehr als sieben Jahre nach dem Mord an der Polizeimeisterin Michèle Kiesewetter in Heilbronn setzte der baden-württembergische Landtag im November 2014 einen Untersuchungsausschuss ein. Dort standen zunächst nicht die Schüsse auf der Theresienwiese im Fokus, sondern ein weiterer rätselhafter Fall: Der Tod eines jungen Zeugen aus der rechten Szene. 

Foto: Screenshot von facebook.com

Florian H. präsentierte sich mit Freunden und „Nazionalist“-T-Shirt im „Harmonie“-Stadtgarten in Heilbronn.

Mit der „Spur 5086“ fing alles an. Im Novem­ber 2011 tauchte der Name Florian H. erstmals in den Akten des Landeskriminalamts zum mutmaßlichen NSU-Mord an Michèle Kiesewetter auf.

Der junge Neonazi kenne die Täter, meldete eine Hinweisgeberin. Doch als ihn Beamt_innen am 17. Januar 2012 im Elternhaus in Eppingen zur Vernehmung abholten, schlug Florian H. andere Töne an. Er habe lediglich gehört, dass in der rechten Szene mit der Tat geprahlt werde. Im gleichen Atemzug nannte H. eine bis dahin unbekannte Neonazigruppe: Die Kameradschaft „Neoschutzstaffel“ (NSS) habe sich in Öhringen mit dem NSU getroffen. Ein Zusammenkommen der „beiden radikalsten Gruppierungen Deutschlands“, keine 30 Kilometer von Heilbronn entfernt. Die Fahnen der Organisationen hätten nebeneinander gehangen, etwa 50 Leute seien im Raum gewesen.

Die Polizei glaubte ihm nicht. „Die Geschichte war offensichtlich erfunden“, sagte die Kriminaloberkommissarin Julia M. im März vor dem Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag. Trotzdem hatte sie sich auf die Suche nach dem Ort des omi­nö­sen Treffens gemacht. Fündig wurde sie im Öhringer „Haus der Jugend“. Dort sah es genau so aus wie auf einer Skizze, die Florian H. angefertigt hatte. Der Eppinger erkannte den Raum sofort wieder, verwickelte sich aber wohl in Widersprüche. Letzt­lich blieb unklar, was sich im Jugendhaus abgespielt hat.

Florian H. kann dazu nichts mehr sagen. Am Morgen des 16. September 2013 starb er in seinem Auto an der Zufahrt eines Campingplatzes am Cannstatter Wasen in Stuttgart — acht Stunden bevor ihn das LKA noch einmal befragen wollte.1  Aus dem Obduktionsbericht geht hervor, dass der 21-Jährige bei lebendigem Leib verbrannte. Die Rechtsmediziner stießen in H.s Lunge auf viel Ruß — ein Zeichen dafür, dass er während des Brandes atmete. Der Mann hatte außerdem einen Cocktail mehrerer Medikamente im Blut, darunter Psychopharmaka und eine tödliche Dosis des Herzmittels Metoprolol. Ein tragischer Suizid, waren sich Staatsanwaltschaft und Polizei einig. Florian H. habe sich mit Benzin übergossen und dann angezündet. Nach einer kriminaltechnischen Untersuchung wurde der ausgebrannte Peugeot noch am Nachmittag des Todestages zur Verschrottung frei gegeben. Hätte die Familie des Verstorbenen das Fahrzeugwrack nicht eigenhändig bei der Stuttgarter Polizeidirektion auf einen Anhänger geladen und abtransportiert, wäre vom wichtigsten Beweismittel nichts übrig geblieben. Die Polizei verzichtete auch darauf, H.s Zimmer zu durchsuchen oder Computer- und Handydaten auszuwerten. Solche Maßnahmen seien ohne Anfangsverdacht auf Fremdverschulden nicht möglich, lautete die Erklärung.

Im März 2015 führte die Arbeit der Stuttgarter Ermittler zum Eklat: Die Familie von Florian H. übergab dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses in Stuttgart Gegenstände aus dem verbrannten Kleinwagen, die von den Kriminalbeamten am Tatort nicht beachtet worden waren, darunter der Zündschlüssel, eine Luftpistole und ein Feuerzeug. Ein Laptop hatte die Kriminaltechnik zwar aus dem Wagen geborgen, aber ohne Untersuchung in den Brandschutt zurückgelegt.

Warum der Fall von den Behörden so schnell abgehandelt wurde, ist unklar. Denn schon kurz nach dem Brand wurde die Stuttgarter Polizei vom Staatsschutz darüber informiert, dass es sich bei dem Toten um einen Zeugen im NSU-Verfahren handelte. Auch mit der beim LKA angesiedelten Neonazi-Aussteigerinitiative „BIG Rex“ stand Florian H. in Kontakt. Nur einen Monat vor seinem Tod, im August 2013, hatte er sich zuletzt mit deren Mitarbeiter_innen getroffen. Außerdem berichteten Freund_innen und die Familie der Polizei, dass sich Florian H. von der rechten Szene massiv bedroht fühlte.

Mittlerweile laufen gegen drei Ermittler Disziplinarverfahren, eine „Innenrevision“ der Polizei beschäftigt sich mit den „Pannen“ bei der Aufklärung des Falles. Als wäre der nicht schon mysteriös genug, verstarb Ende März 2015 Florian H.s Ex-Freundin Melisa M. im Alter von 20 Jahren. Von ihr hatte sich H. offenbar in der Nacht vor seinem Tod per Handy-Nachricht getrennt. Laut einem ersten Obduktionsergebnis starb M. an einer Lungenembolie in Folge eines Motocross-Unfalls.

Melisa M. hatte bereits am 2. März 2015 nichtöffentlich vor dem Ausschuss ausgesagt. Schnell machte die Nachricht von der „dritten toten NSU-Zeugin“ die Runde. Bereits im April 2014 war der ehemalige V-Mann Thomas Richter „Corelli“ — laut Obduktionsbericht — an einer unbemerkten Diabe­tes-Erkrankung verstorben.

Anders als dieser gehörten Melisa M. und Florian H. aber nicht zum Kern der militanten Neonaziszene, aus der sich das NSU-Netzwerk speiste. Die beiden kannten sich vom gemeinsamen Schulbesuch in Bretten (Landkreis Karlsruhe). Politische Kontakte knüpfte Florian H. vor allem in Heilbronn. Dort näherte er sich 2010 als 17-Jähriger der rechten Szene an.

Er fand Anschluss in einem subkulturellen Milieu, das stark mit der örtlichen Drogen- und Trinkerszene verwoben war. Als Treffpunkte dienten der Stadtgarten an der „Harmonie“ und umliegende Kneipen.

Innerhalb der Clique wurde mit verschiedenen Gruppennamen hantiert. Einer rief die „Kameradschaft Deutsche Einheit“ (KDE) aus, ein anderer warb für ein „Schutzregiment“ (SR). Auch von jener NSS, von der Florian H. später dem LKA erzählte, war die Rede. Mathias K. („Matze“) aus Neuenstein will Mitglied der Organisation gewesen sein. In der ersten Jahreshälfte 2011 zeigte sich Mathias K. vermummt auf Facebook-Bildern und registrierte sich als Kunde beim neonazistischen „Versand der Bewegung“. Vor dem Untersuchungsausschuss erzählte Mathias K. eine wilde Geschichte. Auf einem Neonaziaufmarsch in Dresden 2011 sei er Mitglied der bundesweiten NSS geworden — per Unterschrift auf einem Formular. Später habe er Florian H. als Mitglied geworben, aber nichts mehr von der Gruppe gehört.

Von Mathias K. führt die Spur ausgerechnet ins „Haus der Jugend“ nach Öhringen, wo laut Florian H. das Treffen zwischen NSS und NSU stattgefunden haben soll. Mathias K.s Vater arbeitet dort als Sozialarbeiter. Belastbare Hinweise auf Kontakte zwischen den jungen Neonazis aus Heilbronn und dem NSU gibt es aber nicht. Auch, ob hinter dem NSS-Label eine handlungsfähige kons­pirative Struktur steckte, ist mehr als frag­lich. Im Kontext einer rechten Großdemons­tration am 1. Mai 2011 versuchte die rechte Szene Heilbronns allerdings tatsächlich, sich neu aufzustellen. Damals marschierten rund 800 Neonazis des „Nationalen und sozialen Aktionsbündnisses“ durch die Neckarstadt. Auch Florian H. nahm teil und wurde von der Polizei vorübergehend in Gewahrsam genommen, weil er Quarzhandschuhe mit sich führte. Im April 2011 war im Stil der „Autonomen Nationalisten“ eine „Aktionsgruppe Heilbronn“ (AG Heilbronn) aufgetaucht. Mehrere Personen aus Florian H.s Umfeld waren Mitglied der AG, zum Beispiel Christian S. und Kevin Dennis-Peter U., beide mehrfach vorbestrafte Neonazis. Unterstützung kam auch aus anderen Regionen: Bei einer nachträglichen „Gründungsveranstaltung“ der AG Heilbronn am 11. Juni 2011 waren Vertreter des „Karlsruher Netzwerks“, des NPD-Landesverbandes und der frühere Vorsitzende der „Partei National Orientierter Schweizer“ Sektion in Basel Philippe Eglin anwesend. Ebenfalls Mitglied der „Aktionsgruppe“: Kai Ulrich S. aus Ilsfeld. Gegen ihn ermittelt das LKA, weil er der „Standarte Württemberg“ Waffen besorgt haben soll. Gegen die Neonazi-Vereinigung ging die Polizei im Juli 2011 mit 21 Hausdurchsuchungen vor. Laut Ermittlern wollte sie „Ausländer aus Deutschland vertreiben, auch mit Waffengewalt“. Florian H. blieb in der Heilbronner Szene eine Randfigur. Was er mitbekam oder wem er nacheiferte, bleibt ungeklärt. Die Arbeit der Ermittlungsbehörden hat auch in diesem Teil des NSU-Komplex bisher mehr Fragen als Antworten hinterlassen.