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NS Verschwörungswahn als Lizenz zum Töten

Einleitung

Die Nacht des 24. September 1993 - fünf besoffene Neonazi-Skinheads rasen mit dem Auto über englische Landstraßen. Wie aus dem Nebel taucht die "jüdische Weltverschwörung" auf und rafft den Anführer der neonazistischen „Blood & Honour“-Bewegung Ian Stuart Donaldson dahin. Würde man etlichen Neonaziskinhead-Gazetten Glauben schenken, so war für dessen Tod nicht etwa der Brückenpfeiler verantwortlich, den das Fahrzeug rammte, sondern eine zionistisch gesteuerte Regierung – kurz ZOG.1

  • 1Vgl. »Blood & Honour«, Hrsg. East Anglian & Midland Divisions«, Großbritannien, 1994, Vorwort:« (...) im September wurde unser Führer Ian Stuart durch ZOG ermordet (...).«
Foto: wikimedia.org; Olaf Growald; CC BY-SA 3.0

Timothy McVeigh hat sich zu einem Bomben Anschlag bekannt und als seine Lieblingslektüre den Roman ,,The Turner Diaries" benannt.

ZOG oder der alte Wahn in neuen Schläuchen

Antisemitismus ist ein zentrales Element der nationalsozialistischen Ideologie. Er dient der Feindbildbestimmung, schafft Sündenböcke und beliefert die AnhängerInnen des NS mit dem Selbstbild, einer »überlegenen Rasse« anzugehören, deren Existenz bedroht sei. Im Gegensatz zum Rassismus, der auf die Legitimierung einer vermeintlichen »Ungleichheit« zwischen Menschen abzielt, liefert Antisemitismus scheinbar weit reichendere Erklärungsmuster.

Die Mär einer jüdischen Weltverschwörung zieht sich bis heute als brauner Faden durch das NS-Weltbild. »Der Jude« wird als eigentlicher Drahtzieher im Hintergrund des politischen und wirtschaftlichen Systems dargestellt. Kampfbegriffe wie »die Weisen von Zion« oder »raffendes jüdisches Kapital« gehören zum Standardrepertoire der nazistischen Terminologie. Versuchten deutsche Neonazis in der Vergangenheit, Antisemitismus in ihrer Propaganda zu verklausulieren, so zeichnet sich in der jüngeren Zeit der Trend ab, kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen. Augenfällig wird dies etwa in Zusammenhängen der Neonaziskinheads, wie beispielsweise in dem Hetzlied »Nehmt die Waffen« der Neonaziskinhead-Band „WAW- Kampfkapelle“1 : »Parlamante, Quasselbuden, da haben sie agiert, die Knechte der Juden. Räuchert sie aus, schlagt sie zu Brei. Der Schande ein Ende, Deutschland wird frei.« 2

Derart aggressive antisemitische Hetzpropaganda macht aus Tätern selbsternannte Opfer, deren mörderisches Handeln durch einen vermeintlichen »Überlebenskampf« einer »arischen Rasse« legitimiert werden soll. Die Bedeutung des Antisemitismus leitet sich durch diese ideologische Funktion ab. Er versetzt seine Verfechter in die Rolle des Angegriffenen, der sein »Recht auf Selbstverteidigung« wahrnehmen würde. Dementsprechend zahlreich sind die Varianten »jüdischer Weltverschwörungstheorien«.

In den letzten zwei Jahren ist eine vermehrte Bezugnahme deutscher Nazis auf die Theorie des sogenannten »Zionist Occupation Government (ZOG)« zu beobachten.3 Das auch unter bundesdeutschen Neonazis weit verbreitete antisemitische Konzept des »ZOG« stammt aus den Kreisen der US-amerikanischen „Aryan Nations - Church of Jesus Christ Christian'' (AN) aus Hayden Lake in Idaho. Die Vereinigung um den fanatischen Neonazi Richard Butler versteht sich als »religiöse Gemeinschaft« und tritt für den Aufbau rein »arisch« bevölkerter Staaten 4 ein. In »Homelands für Arier« will sie die »weiße christliche Rasse« für den »jüngsten Tag« bewahren, an dem »nicht degenerierte Weiße« die Weltherrschaft erringen würden. 5

Zwischen Fiktion und Terror-Handbuch - die „Turner Diaries“

»Heute hat es endgültig begonnen! Nach all den Jahren des Redens - und nichts als Reden – haben wir endgültig unsere erste Aktion durchgeführt. Wir befinden uns im Krieg mit dem System, und das ist nicht länger ein Krieg der Worte6 Pathetische Sätze, die das Buch »The Turner Diaries« von William Pierce7 einleiten. Willam Pierce steht den „Aryan Nations“ nahe und ist der Chef der "National Alliance" aus Hillsboro in Westvirginia. Auf dem NPD- Bundeswahlkongreß letztes Jahr in Passau war er als Redner vorgesehen gewesen. Als seine Kontaktperson in Deutschland gilt der in Deutschland wohnhafte amerikanische Staatsangehörige William Allen Coppage K. aus Augsburg.

Willam Pierce beschreibt in den „Turner Diaries“ - im Tagebuchstil gehalten – den Kampf einer neonazistischen Untergrundarmee, die sich im »Rassenkrieg« mit einer jüdisch kontrollierten Regierung in den USA befindet. Angeführt wird diese von einer elitären Kommandoebene, die sich selbst „"The Order"“ nennt. Nach Massackern an Juden und Minderheiten gewinnt in der Fiktion die Nazi-Untergrundarmee. Die Turner-Tagebücher, eine der widerlichsten antisemitischen Hetzschriften, reproduzieren nicht nur die skurrilen Wahnvorstellungen ihres Autors, sondern dienen immer wieder als Handbuch für Neonazigruppen in aller Welt.

Aus der Fiktion wurde schnell Realität. So gelangte beispielsweise in den 1980er Jahren eine US-amerikanische Terrortruppe um Robert Jay Mathews Bekanntheit. Diese nannte sich getreu dem Vorbild "The Order" und "The Silent Brotherhood" Eine Vielzahl der Mitglieder von The Order rekrutierten sich wie Mathews aus den Reihen der Aryan Nations. , verübte mehrere Banküberfälle und Morde - beispielsweise an dem jüdischen Journalisten Alan Berg im Juni 1984. Ein Jahr später wurde „The Order“ vom FBI aufgelöst und Robert Mathews in einem 36 Stunden andauernden Feuergefecht erschossen.

Seither gilt er in der Neonaziszene als Identifikationsfigur und Märtyrer und wird in Liedern wie beispielsweise in »Hail the Order« der britischen Neonaziband „No Remorse“ um Paul Burnley besungen. Direkten Bezug auf die „Turner Diaries “ und „The Order“ nahm auch das schwedische Neoazi-Netzwerk „Vit Ariskt Motstand“ (VAM). In ihrer Publikation „Storm“ bildete sie unter der Überschrift »Tod für ZOG« Juden ab und rief zu einem »Heiligen Rassenkrieg« auf. Den Worten folgten Taten: Im April 1991 bewaffnete sich der VAM. Seine Mitglieder überfielen u.a. eine Polizeistation und raubten drei Dutzend Pistolen. Im August desselben Jahres wurde der VAM-Anführer Klas Lund bei einem Banküberfall verhaftet. Auch der VAM-Führer Per-Anders Lennart  Johansson ("Pajen") wurde 1992 festgenommen. Bis 1993 war die terroristische Strategie des VAM für die schwedische Neonaziskinhead-Szene das bestimmende Moment. Etliche seiner Anhänger sind für eine Vielzahl von Gewaltverbrechen verantwortlich. In der Folgezeit sollte sich das Auftreten der VAM-Aktivisten als Reaktion auf staatliche Verfolgungsmaßnahmen ändern.

Inzwischen sind sie in die »White-Power«-Musikszene eingestiegen und produzieren seit 1995 das Vierfarb-Hochglanzmagazin „Nordland“. Geändert hat sich lediglich das Auftreten, die Inhalte sind dieselben geblieben.8 So findet sich 1996 in einer Ausgabe von Nordland u.a. ein mehrseitiges Interview mit William Pierce.9

Auf die Propaganda folgen Taten

Den Schritt, geistige Brandstiftung zu betreiben, vollzieht auch die deutsche Neonazipublikation „Zentralorgan“ aus Hamburg in ihrer vierten Ausgabe. »Ich hoffe doch sehr, daß meine Schriften und ich Einfluß auf das Leben der amerikanischen Gesellschaft ausüben«10 und »eine moralische Berechtigung, Gegengewalt anzuwenden, gibt es in den USA meiner Ansicht nach schon heute« ist dort in einem Interview mit William Pierce zu lesen." Hervorgehoben wird dabei, daß die „Turner Diaries“ in Zusammenhang mit dem Neonazi-Bombenanschlag in Oklahoma gebracht würden. Bei diesem Anschlag wurden 1995 über einhundert Menschen ermordet. Das Feindbild des Attentäters Timothy McVeigh ist mit dem von William Pierce deckungsgleich. Es wendet sich gegen die »(...) Handlungsträger, gegen die politische Klasse der USA«, im Klartext gegen ZOG. 10

Timothy McVeigh hat sich selbst zu seiner Tat bekannt und als seine Lieblingslektüre den Roman ,,The Turner Diaries" von William Pierce benannt. Das „Zentralorgan“ wird von den Strukturen der „Freien Kameradschaften“ um Tobias Thiessen in Hamburg herausgegeben. Die Verlagsanschrift befindet sich in Hamburg, das V.i.S.d.P. in Rotterdam. Die Brisanz derartiger Propaganda, die sich um den Begriff »ZOG« entwickelt hat, besteht in der an tisemitisch motivierten Legitimation zum Mord und in deren Umsetzung.

Die mordenden Vertreter dieser Ideologie, wie Robert Mathews oder Timothy McVeigh, werden zur Märtyrern eines »heiligen Rassenkrieges« stilisiert und dienen der Neonaziszene als Vorbilder. Kein Wunder, wenn die Kreise um das „Zentralorgan“ regelmäßig zur Solidarität mit dem Berliner Neonazi Kay Diesner aufrufen. Sah sich dieser doch bei seinen Schüssen auf den linken Berliner Buchhändler Klaus Baltruschat und dem Mord an einem Polizisten ebenfalls vom »System« und dessen Vertretern verfolgt. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, daß Kay Diesner ein Einzeltäter war und seine Taten Ausnahmen bleiben werden.

  • 1 Die Band tritt auch unter dem Namen „Weisser Arischer Widerstand“ auf. An ihr soll auch der Neonazi-Liedermacher Daniel Eggers aus Grevesmühlen beteiligt sein.
  • 2WAW (Weißer Arischer Widerstand)-Kampfkapelle, »Nehmt die Waffen« auf der CD »Lieder zum Mitsingen«, Nordland.
  • 3Zionist Occupation Gouvernement - Zionistische Besatzungsregierung
  • 4Das Territorium hierfür sollen die fünf US-Bundesstaaten Washington, Oregon, Idaho, Montana und Wyoming sein.
  • 5Zugrunde liegt diesem Konzept die sogenannte »Zehn Prozent Lösung«, wonach der »jüngste Tag gekommen wäre, wenn zehn Prozent der USA durch »arische Homelands« kontrolliert wurden. Die Aryan Nations sehen dann den Zeitpunkt gekommen, an dem sich die »nicht degenerierte weiße Rasse- erhebt, sich in einer Revolution ihrer Gegner entledigt und die »Arier« über die Welt herrschen würden. Vgl. »The Silent Brotherhood«, Kevin Flynn, Penguin Group, New York, 1990
  • 6The Turner Diaries, William Pierce, 1978, National Vanguard Books, Arlington, S. 1 f.
  • 7Anfangs noch unter dem Pseudonym Andrew Mac Donald
  • 8Vgl. »White Noise - Inside the International Nazi Skinhead Scene«, Hrsg. Searchlight, London, 1998.
  • 9Nordland Nr. 11, Dezember 1997
  • 10 a b Zentralorgan Nr. 4/98, Wolf-Verlag Norddeutschland, »Im Gespräch mit Dr. William Pierce«, S. 24 - 25, Hamburg, 1998