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NSU-Urteilsbegründung: Das öffentliche Interesse an der Aufklärung unterstützen

Arne Semsrott (FragDenStaat.de) (Gastbeitrag)
Einleitung

Vor zwei Jahren endete vor dem Oberlandesgericht München der erste NSU-Prozess mit Urteilen „im Namen des Volkes“ gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte im Umfeld der Neonazi-Terrorgruppe NSU. Kaum ein Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde aus der Zivilgesellschaft derart aufmerksam verfolgt - und kaum ein Urteil wurde derart stark kritisiert. Das liegt nicht nur an den als äußerst mild bemängelten Urteilen gegen manche Angeklagte, denen Verbindungen zum Mord an zehn Menschen und weiteren Attentaten nachgewiesen wurden. Auch die schriftliche Urteilsbegründung, die nach zwei Jahren Gerichtsarbeit im April 2020 an Prozessbeteiligte verschickt wurde, fand große Beachtung. Ende Juni 2020 veröffentlichten „FragDenStaat“ und NSU Watch gemein­sam erstmals das schriftliche Urteil des Münchner Oberlandesgerichts, um eine breite öffentliche Diskussion darüber zu ermöglichen. Damit stehen die 3 025 Seiten der Urteilsbegründung unter fragdenstaat.de/nsu-urteil der Öffentlichkeit nunmehr durchsuch- und navigierbar zur Verfügung. Sie können zudem als PDF- und HTML-­Datei heruntergeladen werden.

Bild: Screenshot fragdenstaat.de

Die Veröffentlichung des vollständigen Urteilstextes ermöglicht nicht nur eine Analyse der Tathergänge aus Sicht der Richter:innen am Oberlandesgericht München, sondern auch der Gerichtssprache und Einstellungen, die sich dahinter verbergen. So kritisiert beispielsweise die Nebenklage-Anwältin Seda Başay-Yıldız, dass das Gericht die Folgen der NSU-Morde für die Hinterbliebenen der Opfer nicht im Prozess berücksichtigt habe. Die Opfer des NSU würden vom Gericht im Urteil als „stereotype Statisten“ dargestellt. Die Wortwahl im Urteilstext zeigt, dass das Gericht bei der Beschreibung der Taten teilweise die Täterperspektive übernommen hat. Dem Mordopfer Enver Şimşek attestieren die Richter:innen eine „südländische Abstammung“. Der rassistische Begriff „südländisch“ wird im Urteil insgesamt 66-mal verwendet. Hinzu kommt, dass die Richter:innen im Originaltext den Namen des Mordopfers Süleyman Taşköprü zweimal falsch als „Süleymann“ bezeichnen– die Namen der NSU-Mitglieder und ihrer Unterstützer enthalten keine Fehler.

Selbst für ein Urteil in einem Strafprozess wirkt die Sprache des Gerichts ungewöhnlich kalt. Ganze neunmal stellen die Richter:innen im Urteil fest: „Das Erschießen eines Opfers ist eine schnelle und effektive Tötungsart.“ Angehörige der Opfer werden im Urteil nicht zitiert, Angaben zu den familiären Hintergründen der Opfer fehlen weitestgehend. Elif Kubaşık, die Witwe des 2006 vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık, wandte sich nach dem Urteil im NSU-Prozess mit einem offenen Brief an das Oberlandesgericht München, in dem sie die Richter:innen mit den folgenden Worten scharf kritisierte: „Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte.

Obwohl die Verbindungen des NSU-­Komplexes zu deutschen Inlandsgeheimdiensten offenkundig sind, nimmt das Urteil auf die Rolle des Verfassungsschutzes keinen Bezug. So schweigen sich die Richter:innen etwa darüber aus, dass der Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internet­café mit anwesend war. Auch die Tätigkeiten von Zeugen als V-Personen für den Inlandsgeheimdienst bleiben unerwähnt.

Dass das Urteil insgesamt 3 025 Textseiten umfasst, wurde von den Medien ausführlich berichtet. Eine genaue Lektüre des Textes offenbart allerdings, dass dies mitnichten allein auf eine gründliche Aufarbeitung durch das Gericht zurückgeht. Vielmehr finden sich mehrfach große Textteile „zur besseren Lesbarkeit“ im Urteil. Manche Sätze tauchen auf diese Weise bis zu 25-mal im Text auf. 20-mal findet sich etwa folgender Satz, wie der Datenjournalist Johannes Filter analysiert hat: „Keinesfalls wollten sie, dass die Ermittlungsbehörden und damit die Öffentlichkeit Einblicke in die Struktur der Organisation, die Anzahl und die Identität ihrer Mitglieder, deren Leben und Zusammenwirken sowie die Identität ihrer Unterstützer und die Art der Unterstützungshandlungen gewinnen würden.“

Vor der Veröffentlichung des Urteils durch FragDenStaat und NSU-Watch hatte das Oberlandes­gericht München trotz des überwältigenden öffentlichen Interesses keine Anstalten gemacht, das schriftliche NSU-Urteil zu veröffentlichen. Stattdessen sollten selbst Journalist:innen, denen das Gericht in Einzelfällen geschwärzte Scans des Urteils zukommen ließ, zunächst eine „Belehrung“ unterschreiben, unter anderem mit Verweis auf die laufende Revision gegen das Urteil. Auch die Nebenklage erhielt erst mit Verzögerung Zugriff auf das Urteil. Zudem kursierten unter Journalist:innen Scans des Urteils, die mutmaßlich von Anwält:innen der Angeklagten stammen. Dieses Agieren deutet auf eine Haltung des Oberlandesgerichts hin, die Öffentlichkeit eher als ein lästiges Übel anzusehen, als eine notwendige öffentliche Kontrolle der Justiz gewährleisten zu wollen. Notwendige Abwägungen zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und den schutzwürdigen Belangen einzelner Personen haben wir daher selbst vorgenommen. So haben wir die Nach­namen von Beteiligten sowie vereinzelte Angaben über Gesundheitsinformationen und Angehörige in unserer Veröffentlichung geschwärzt. Die Namen der Mord­opfer des NSU – Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter – haben wir nicht geschwärzt. Auch die Namen der Angeklagten mit Ausnahme von Carsten S. sind vollständig zugänglich.

Unsere Veröffentlichung wurde von Medien und Zivilgesellschaft einhellig begrüßt. Auch die Reaktionen aus Teilen der Justiz deuten darauf hin, dass nur wenige Personen Verständnis für die bisherige Informationspolitik des Münchner Oberlandesgerichts hatten. Am ersten Tag der Veröffentlichung besuchten rund 20 000 Menschen die Urteilsseite auf FragDenStaat.de, das Urteil wurde in den darauffolgenden Tagen in einigen Medien ausführlicher besprochen. Die Aufklärung des NSU-Komplexes ist für uns jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Unsere Forderung für die Zukunft ist: Im Anschluss an die Veröffentlichung des Urteils und das Revisionsverfahren sollten sämtliche noch nicht geschredderten Behördendokumente zum NSU in öffentliche Archive überführt werden, insbesondere diejenigen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern. Diese könnten dann bei FragDenStaat neben der schriftlichen Urteilsbegründung zentral dargestellt werden. In der Datenbank sind inzwischen auch dutzende Anfragen an Behörden auf Basis der Informationsfreiheitsgesetze dokumentiert, die sich mit Umständen aus dem NSU-Komplex befassen.

Was ist FragDenStaat?

FragDenStaat ist ein gemeinnütziges Portal für Informationsfreiheit in Deutschland und in der EU. Über diese Webseite können alle Menschen Anfragen nach den Informationsfreiheits­gesetzen an Behörden auf kommunaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene stellen - beispielsweise zu internen Weisungen, Verträgen und Gutachten. Die Anfragen werden online mitsamt den Antworten der Behörden automatisiert veröffentlicht. Bisher sind auf FragDenStaat.de rund 150 000 Anfragen von 90 000 Personen zu finden. Zusätzlich zur Bereitstellung der Infrastruktur für Anfragen führt FragDenStaat Kampagnen durch - derzeit etwa zum Mieter:innen-Schutz in Berlin und zu Hygienekontrollen in Lebensmittelbetrieben - und setzt mit journalistischen Veröffentlichungen und strategischen Klagen das Recht auf Informationsfreiheit durch. In den vergangenen Jahren hat FragDenStaat beispielsweise Frontex, das Bundesinnenministerium und den Bundesnachrichtendienst (größ­tenteils) erfolgreich auf Auskunft verklagt.