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Protest am Montag

Einleitung

(Ohn)-Macht der Straße – Protest und Protestnarrative in Ostdeutschland: Nicht erst seit dem Aufstieg von PEGIDA gibt es eine breite öffentliche Debatte um spezifisch ostdeutsche Formen des Protests. Die extreme Rechte appellierte seit 2015 an kollektive ostdeutsche Protesterzählungen und Erfahrungen. Zeitweise mit großem Erfolg. Wo liegen die Quellen und Brüche ostdeutscher Protestgeschichte?

Fotoarchiv telegraph/Prenzlberg Dokumentation e.V.

In den Augustwochen des Jahres 2004 entwickelte sich ausgehend von Magdeburg eine ostdeutschlandweite Bewegung gegen einen zentralen Baustein der rot-­grünen Arbeitsmarktreform: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen-und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe, bekannt unter dem Namen Hartz IV. Nachdem Ende Juli die Erfassungsbögen für die Neuordnung des Bezugs von Sozialleistungen an die Betroffenen verschickt worden waren, wurde vielen bewusst, dass die geplanten Maßnahmen nach dem massenhaften Arbeitsplatzverlust in der ostdeutschen Industrie in den 1990er Jahren einen weiteren, schwerwiegenden sozialen Einschnitt für sie bedeuteten.

Von Woche zu Woche gingen in ostdeutschen Städten mehr Menschen auf die Straße. Einer der Initiatoren der Proteste war der Erwerbslose Andreas Ehrhold aus Magdeburg. Ohne organisatorischen Rückhalt einer Gewerkschaft oder Partei hatte er in der Innenstadt Faltblätter ausgelegt, die zum Protest aufriefen. Waren es in den ersten zwei Wochen Hunderte, so folgten dem Aufruf Ende August 2004 allein in Magdeburg mehr als zehntausend Menschen. Andreas Ehrhold verortete sich selbst nicht in einem politischen Koordinatensystem. Sein Protestaufruf richtete sich gegen den drohenden sozialen Statusverlust ostdeutscher Erwerbsloser durch die Anrechnung von Kleinvermögen. Als Parteien und Gewerkschaften versuchten, auf die Agenda der Hartz IV-Proteste im Osten Einfluß zu nehmen, traf dies auf Skepsis. Mit Gewerkschaften hatte man bei der Schließung der Kombinate im Osten schlechte Erfahrungen gemacht und sah sie nicht als Interessenvertretung an. Parteien waren als Organisationsform politischer Interessen durch die  Politik der SED diskreditiert. Die westdeutschen Instrumente der Vermittlung und Integration von Protest griffen nicht. Im Herbst 2004 brach der Protest ein, ohne sein Ziel, die Verhinderung von Hartz IV, erreicht zu haben.

Mit der Parole „Weg mit Hartz IV. Das Volk sind wir.“ griff der Protest auf das zentrale Motto des Umbruchsjahres 1989 zurück: „Wir sind das Volk“. Die Protestakteure des Jahres 2004 sahen sich als Erben der damaligen Proteste. Befragungen von Teilnehmenden der Hartz IV-Proteste, die ein Team um den Sozialwissenschaftler Roland Roth und Dieter Rucht durchführten1 , zeigten die bereits damals wirksame Selbstlegitimation des Protests mit der Erfahrung des Jahres 1989. Viele Teilnehmende verwiesen darauf, sie seien bereits 1989 auf die Straße gegangen und äußerten die Erwartung, die Proteste würden binnen kurzem die Bundesregierung, namentlich den damaligen Arbeitsminister Wolfgang Clement zu politischen Zugeständnissen zwingen. Clement zeigte dem Protest jedoch die kalte Schulter. Letztlich erwies sich seine Strategie, die Proteste einfach auszusitzen und Zugeständnisse nachzuschieben als Erfolg: Die Hartz IV-Proteste scheiterten somit auf die gleiche Weise, wie die Sozialproteste gegen die Schließung ostdeutscher Betriebe zwischen 1990 und 1992 gescheitert waren.

Protestmotive, Ziele und Methoden

Die Ausrichtung der Hartz IV-Proteste im Osten orientierte sich an der Protesterfahrung des Jahres 1989, politische Interessen durch die Massenhaftigkeit des Straßenprotestes durchsetzen zu wollen. Dass dies in westdeutschen Kontexten von Macht und Herrschaft nicht funktionieren kann, es vielmehr anderer Instrumentarien der Protestartikulation und der Repräsentation von Gegenmacht bedarf, als des Straßenprotests, blieb in Ostdeutschland nach 2004 unbegriffen. Das Protestmuster, wonach man nur „unten“ lange genug auf die Straße gehen müsse, bis „oben“ geschehe, was „unten“ gewollt werde, speist sich aus der Erfahrung der späten DDR, als Massenproteste binnen Wochen ein ganzes politisches System zum Einsturz brachten. Typisch westdeutsche Verlaufsformen von Protestbewegungen, vom Impuls der Mobilisierung über die Gründung von Bürgerinitiativen bis zur Institutionalisierung partikularer Interessenvertretungen in Verbänden und professionellen NGOs sind in Ostdeutschland nicht verankert. Die Überführung von Protest in Ostdeutschland in ein dauerhaftes politisches Engagement ist im Hinblick auf die Skepsis der Ostdeutschen gegenüber Parteien paradoxerweise in den Parteien LINKE und AfD gelungen.

Anknüpfung an rassistische Proteste der 90er Jahre? PEGIDA

Die Hintergründe des Aufstiegs von PEGIDA als rechter Kristallisations- und Radikalisierungsmoment reaktionärer Strömungen in der ostdeutschen Gesellschaft sind hinlänglich2 beschrieben. Zwei Momente verdienen Betrachtung.

Zum einen, dass PEGIDA bei allen Bemühungen seiner Akteure und extrem rechten Multiplikatoren nie wirklich über Sachsen als Protestplattform hinauskam, und anders als die Hartz IV-Proteste keine große ostdeutschlandweite Massenbewegung in Form von Demontrationen auslöste, sondern vielmehr eine Welle rassistischer Gewalt auslöste, als auch rassistische Mobilisierungen in anderen Regionen stützte und stärkte.

Zweitens, dass PEGIDA zum erfolgreichen Erprobungsraum neurechter politischer Kommunikationsstrategien avancierte und für die Etablierung einer rechten Sammlungsbewegung in Gestalt der AfD als Partei einen Beschleunigungseffekt hatte. Für alle Fraktionen der deutschen extremen Rechten ist PEGIDA und der Aufstieg der AfD ein Beleg dafür, dass Ostdeutschlands gesellschaftliche und geschichtliche Topographie ideale Bedingungen bietet, einer rechten ideologischen Agenda Resonanz zu verschaffen. Dies reicht von Faktoren wie dem geringen Migrantenanteil, über eine prekäre Zivilgesellschaft bis hin zu Strukturen in Polizei und Justiz, die seit nunmehr zwei Jahrzehnten die Ausbreitung rechter und rassistischer Strukturen in Ostdeutschland verharmlosen und nicht konsequent bekämpfen. Diese Fragilität der ostdeutschen politischen Kultur verschafft rechten Mobilisierungsformaten eine Resonanz, die über Einzelereignisse wie Heidenau, Clausnitz oder Chemnitz hinausreicht.

Bei der Betrachtung ostdeutscher Proteste nur auf die Hartz IV-Proteste, PEGIDA oder vergleichbare rassistische Mobilisierungen zu schauen, greift jedoch zu kurz. Denn die Welle rassistisch motivierter Proteste seit 2013 in Ostdeutschland hat ihre Vorgeschichte in  den frühen 1990er Jahren. Die „Generation Hoyerswerda“, Jugendliche und junge Erwachsene der Generation derer, die Anfang der 1990er Jahre zwischen 18 und 28 Jahre alt waren, machte die Erfahrung der Durchsetzbarkeit ihrer Forderungen mit Gewalt. Der Rekurs auf diese Erfahrung ist keineswegs nur ein virtueller. Vielerorts traten als aggregierte Kerne der rassistischen Mobilisierung eben jene Akteure auf, die bereits in den frühen 1990er Jahren an der Umsetzung der damals jugendkulturellen rechten Hegemonie mitgewirkt hatten, und die wussten, wie ein Wechselspiel zwischen rassistischer Gewalt und den Ressentiments der Bevölkerung funktioniert.

Zwei Pole ostdeutscher Protestkultur

Gewissermaßen bilden die Hartz IV-Proteste und Formate wie PEGIDA zwei Pole ostdeutscher Protestkultur: einen emanzipatorischen, linken Pol und einen extrem rechten, rassistisch motivierten Pol. Beide Pole traten in Ostdeutschland zu Beginn der 1990er Jahre durchaus parallel auf, beide sind in der Auffassung, nicht nur Partikularinteressen zu vertreten, sondern gesellschaftliche Mehrheiten zu repräsentieren einander ähnlich. Während PEGIDA die Aussage „Wir sind das Volk“ völkisch-nationalistisch auflädt, war die Verwendung der Aussage für Sozialproteste im Osten offener, wenn auch nicht durchgehend inklusiv gemeint. Im Mittelpunkt standen die Werktätigen der ehemaligen DDR-Betriebe. Wobei zu bedenken ist, dass die migrantischen VertragsarbeiterInnen als erste von den Entlassungswellen der frühen 1990er Jahre betroffen waren.

Das Jahr 1989 und das generationelle Gedächtnis

Die zwei Generationen prägende Urerfahrung von Protest in der DDR waren die Ereignisse des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 und seine gewaltsame Niederschlagung durch die sowjetischen Panzer. Bis 1989 verhinderte dies anschlussfähige Formen des Protests in der DDR und führte in den Jahrzehnten der Existenz der DDR zu einem komplexen Arrangement zwischen dem SED-Staat und der Bevölkerung. Wirklich breit wurde der Protest 1989 erst durch die Gewissheit des Nichteingreifens der Sowjetunion.

Zentraler Bezugspunkt für alle Proteste in Ostdeutschland seit 1990 ist das Jahr 1989. Es entstand ein neues generationenübergreifendes Narrativ von Protest, welches bis heute wirksam ist. Dreißig Jahre nach dem Herbst 1989 ist die Debatte um den Verlauf und die Folgen des damaligen Umbruchs Gegenstand kontroverser gesellschaftlicher Debatten um Geschichte, Identität und Verfasstheit der ostdeutschen Gesellschaft. Das Erbe des Protests des Jahres 1989 in der DDR beanspruchen staatstragende Eliten ebenso wie die extreme Rechte, aber auch emanzipatorische Linke für sich.

Vor diesem Hintergrund ist es von Bedeutung, wer sich auf welche Traditionslinie des Herbstes 1989 bezieht. Hier gilt es ebensowenig der historischen Meistererzählung zu folgen, wonach die Entwicklung von Beginn an auf Mauerfall und Wiedervereinigung zugelaufen sei, wie es falsch wäre, die Ereignisse des Jahres 1989 als vom Westen abgebrochene Revolution zu verklären und die im Dezember 1989 einsetzende nationalistische Mobilisierung zu verschweigen. Die ostdeutsche Protestgeschichte zu verstehen heißt, sich die gesamte Ambivalenz der Ziele, Motive und Methoden vorzuhalten und die Differenz zu westdeutscher Protestgeschichte herauszuarbeiten. Macht und Ohnmacht des Protests auf der Straße liegen in Ostdeutschland eng beieinander.

  • 1Vgl. Rucht, Dieter et al: Wer demonstrierte gegen Hartz IV? In: FJ NSB Heft 4 / 2004 S. 21-27
  • 2Vgl. Richter, Frank: Der PEGIDA Komplex und die politische Kultur des Landes in: Rehberg, Siegbert et al: PEGIDA :  Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und Wende Enttäuschung? Transkript Verlag 2016