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Schwule Nazis

Yves Müller
Einleitung

Die Konstruktion männlicher Homosexualität im Blick auf den Nationalsozialismus

Faksimile aus der BILD-Zeitung. Der Titel bedient den Mythos vom »schwulen Nazi«.

Die These vom »schwulen Nazi«, also einer imanenten Verbindung zwischen Homosexualität und Nationalsozialismus verliert seit Jahrzehnten nicht an Reiz. Bis heute wird immer wieder versucht, den vermeintlich überdurch­schnittlichen Anteil an männlichen Homosexuellen in der Führungsebene der »Sturmabteilung« (SA) der NSDAP zu erklären. Diese Erklärungsansätze reichen von der Vorstellung eines homoerotischen Männerbundes, der in der SA gelebt wurde, bis zu psychoanalytischen Interpretationen, die eine Verbindung zwischen brutaler Gewalt und Sadismus sowie »verdrängten« Homosexualitäten aufmachen. Die wiederkehrenden Versuche der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen homosexuellem Begehren und nationalsozialistischer Praxis bei führenden Männern des NS sind kritikabel und bergen die Gefahr der Denunziation von Homosexualität.

Der Prototyp des »schwulen Nazis« ist bis heute SA-Stabschef Ernst Röhm, dessen Homosexualität 1931/32 in der sozialdemokratischen und später der Exilpresse immer wieder in denunziatorischer Absicht zum Thema gemacht wurde. Auch nach der Ermordung Röhms und der SA-Führung verstum­mte die Exilpresse nicht und strickte am Zerrbild einer homosexuellen Naziclique. Die Mär vom von Homosexuellen überschwemmten Nazi-Deutschland wurde weiter verbreitet. Die Homosexuellenverfolgung wurde als »Säuberungsaktion« der Nationalsozia­listen untereinander bagatellisiert.

Früh beschäftigte die Röhm-Affäre die noch junge Faschismusforschung. Bereits Theoretiker wie Wilhelm Reich und Erich Fromm verwechselten die homosoziale Strukturierung von Männerbünden mit Homosexualität und verliehen dem Mythos vom »schwulen Nazi« den nötigen wissenschaftlichen Anstrich. Auch Theodor W. Adorno erklärte seinerseits: »Totalität und Homo­sexuali­tät gehören zusammen«1 .

Zwar versuchte sich ebenso der Männlichkeitsforscher Klaus Theweleit in seinem opus magnum »Männerphantasien« an einer Verknüpfung von Homosexualität und dem Terror der faschistischen Kampfbünde der 1920er Jahre – eine ideologische Motivation spielt bei ihm eine untergeordnete Rolle – und unterstellt eine gewisse Attraktivität der »Bereiche des ›Homosexuellen‹ für den faschistischen Mann«2 . Letztlich musste er aber feststellen, dass faschistischer Terror nicht der Homosexualität entspringe.

Bis heute scheiden sich an der Frage nach dem »schwulen Nazi« in Wissenschaft und Publizistik die Geister. Eine Kontroverse zwischen Hans Rudolf Wahl, Sven Reichardt und Andreas Pretzel in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) beschäftigte sich mit den tatsächlichen oder konstruierten Dichotomien zwischen Homoerotik und Homosexualität und der Frage nach Bewertung und Einordnung des männerbündischen Prinzips in der SA.3 Pretzel plädiert dafür, den homophoben Charakter von Männergemeinschaften wie der SA als konstitutiv zu betrachten, statt immer wieder aufs Neue nach dem Homosexuellen zu suchen. Tatsächlich wird das homoerotische Männerbundprinzip des Anhängers der bürgerlichen Wandervogelbewegung Hans Blüher in der ideologiearmen SA kaum eine Rolle gespielt haben. Hierbei von der Person Ernst Röhm auf die Gesamt-SA zu schließen wäre schlicht unwissenschaftlich. Die »Kameradschaft« der SA schloss nicht Homosexuelle ein, sondern alles »Unmännliche« aus. Der ausschließende Gedanke des SA-Männerbundes ist denn auch mehr Ausformung eines heteronormativen Patriarchatsdenkens und Antifeminismus, denn Resultat eines homoerotischen Bestrebens in der NS-Bewegung.

Während die geführte fachwissenschaftliche Debatte in der ZfG einen gewissen Erkenntnisgewinn verspricht, ermüden die wiederkehrenden »Enthüllungen« über die angebliche Homosexualität von diesem oder jenem führenden Nazi nur noch. Adolf Hitler sei sich schon in seiner Jugend seiner Homosexualität bewusst gewesen und habe angeblich homoerotische Beziehungen zu Größen des NS-Regimes gepflegt, so der Autor Lothar Machtan ohne jegliche Beweise, dafür mit etlichen Spekulationen in »Hitlers Geheimnis. Das Doppelleben eines Diktators«.

Inzwischen belebt Jonathan Littell mit seinem fiktionalen Roman »Die Wohlgesinnten« die Konstruktion des »schwulen Nazis« neu. Man muss sich schon fragen, warum er seinen Protagonisten Maximilian Aue, einen SS-Offizier, zum homosexuellen Sadisten macht. Als Vorlage für die Romanfigur diente ihm der keineswegs homosexuelle belgische SS-Standartenführer Léon Degrelle, der die wallonische SS-Division kommandierte. In seiner parallel zum Roman entstandenen Studie »Das Trockene und das Feuchte. Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände über Degrelle« wandelt der Autor auf den Pfaden Theweleits. Littell zeichnet nicht einen dieser »ganz normalen Männer« (Christopher Browning), die plötzlich zu Massenmördern werden, sondern verrührt homosexu­el­les Begehren mit Gewaltorgien. Nicht, dass das nicht opportun sein könnte. Doch dienen die immer noch ertrag­reichen Thesen Theweleits über »Körperpanzer«, den »Nicht-zu-Ende-Gebo­renen« usw., die sich Littell zu eigen macht, nicht vielmehr der Beschreibung zutiefst heterosexistischer und patriarchaler Strukturen? Körperlichkeitsstrukturen des »soldatischen Man­nes« nämlich, der der eigenen Frag­mentierung (der Auflösung) durch das Töten zu entrinnen versucht. Die sexualisierte Gewalt, die Littell voyeuristisch beschreibt, ist eben in erster Linie Gewalt – und hat recht wenig mit (Homo-)Sexualität zu tun. Es ist gegen psychopathologische Perspektiven bei der Analyse von NS-Täterschäft überhaupt nichts einzuwenden: Die Sozialpsychologin Nele Reuleaux beispielsweise versucht sich mithilfe des Konzepts des »malignen (bösartigen) Narzissmus« an einer Erklärung, die dem derzeitigen Normalisierungsparadigma – »wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden« (Harald Welzer) – widerspricht.

Dabei geht es keineswegs um eine Dämonisierung der nationalsozialistischen Massenmörder, sondern um einen neuen Blick auf die scheinbare »Normalität« von Genoziden. Wie »nor­mal« ist denn eine Männlichkeit, die homosoziale Vergemeinschaftung über die Vergewaltigung von »Frauen des Feindes« herstellt, wie im Russlandfeldzug 1941/42 täglich geschehen? Egal ob die Opfer weiblich oder männlich sind: es geht um »Annihilierung« (Elfriede Jellinek), um den »vernichtende[n] Zugriff auf den auf bloße Körperöffnungen reduzierten Körper«4 – und mitnichten um irgendwelches sexuelles Begehren. Wirklich spannend sind daher Untersuchungen, die die »Verwobenheit von Männlichkeitsvorstellungen, kriegerischer Gewalt und Sexualität«5 behandeln.

Die Suche nach dem »schwulen Nazi« ist in aller Regel einem heterosexistischen Exotismus geschuldet und sagt mehr über die heteronormative Gesellschaft als etwas über Homosexualität aus. Es kann keine hegemoniale Männlichkeit geben, die nicht homophob strukturiert wäre – homosexuelle Politiker_innen bleiben die Ausnahme von der Regel. Es bedarf geradezu des konstruierten Homosexuellen als Anti-Typus. Schwule werden verweiblicht oder dehumanisiert und mittels sozialer Praxen exkludiert. Die Konstruktion vom »schwulen Nazi« kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Homosexualität im Koordinatensystem der Männlichkeiten untergeordnet und »an das unterste Ende der männlichen Geschlechterhierarchie« (Raewyn Connell) verbannt ist.

  • 1Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt/Main 1981, S. 52.
  • 2Klaus Theweleit, Männerphantasien. Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Bd. II, München/Zürich 2005 (zuerst 1977), S. 319.
  • 3Vgl. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Hefte 3/ 2004, 8/2004, 11/ 2005, 5/2008.
  • 4Rolf Pohl, »Normal« oder pathologisch«? Eine Kritik an der Ausrichtung der neueren Täterforschung, in: Ders./Joachim Perels (Hg.), Normalität der Täter?, Hannover 2011, S. 24.
  • 5Regina Mühlhäuser, ›Mannestrieb‹ und ›Manneszucht‹, in: Anette Dietrich/Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2013, S. 102.