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Staatliche Schadensbegrenzung – Die Rolle der Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess

Isabella Greif
Einleitung

Im Prozess gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) zeigte sich die entscheidende Rolle von Staatsanwaltschaften in der Strafverfolgung rechtsterroristischer Gewalt. Die Bundesanwaltschaft (BAW) leitete die Ermittlungen, verfasste die Anklage und vertrat die BRD als Geschädigte. Laut BAW war der NSU ein „isoliertes Trio“, das die rechtsterroristische Mord-, Anschlags- und Raubserie ohne Netzwerk begangen haben soll.

Bild: Screenshot: youtube / tagesschau

Die Bundesanwälte Herbert Diemer, Anette Greger und Jochen Weingarten in München.

Die engen Grenzen der Aufklärung

Knapp ein Jahr nachdem der NSU im November 2011 öffentlich wurde, erhob der Generalbundesanwalt (GBA), dem die BAW untersteht, Anklage gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze. Dem NSU wurden zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Bank- und Raubüberfälle zur Last gelegt. Die „singuläre Vereinigung aus drei Personen“ habe mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt aufgehört zu existieren. Das Trio sei im Jahr 1998 untergetaucht und habe dreizehn Jahre abgekapselt und allenfalls mit einem „eng begrenzten Kreis an Unterstützern“ im Untergrund verbracht. So verneint die Behörde auch, dass V-Personen und Nachrichtendienste Informationen über den NSU hätten erlangen können.

Mit der Anklage wurde das Narrativ vom Trio zum Verhandlungsgegenstand, während Anwält_innen der Nebenklage, parlamentarische Untersuchungsausschüsse, antifaschistische Initiativen und Journalist_innen die Trio-These zur Genüge widerlegt haben.1 Dazu kommen die über 40 V-Personen des Verfassungsschutzes, der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes im mehr oder weniger engen Umfeld des NSU. Die strategische Engführung konterkarierte die BAW auch selbst durch parallele Ermittlungen. In neun Ermittlungsverfahren gegen Personen und einem sogenannten Strukturermittlungsverfahren gegen Unbekannt ermittelt sie, ob es weitere Unterstützer_innen des NSU gab. Die parallelen Verfahren werden wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ geführt und nicht wegen möglicher „Beihilfe zum Mord“, was unter anderem Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler scharf kritisiert.2 Unter dieser Prämisse bekam die Nebenklage kein Akteneinsichtsrecht. So verfügt die BAW über einen komfortablen Informationsvorsprung und Aktenparkplatz. Beweisanträge der Nebenklage zu Personen aus den parallelen Ermittlungen lehnte die BAW mit Verweis auf die Anklage, das Beschleunigungsgebot oder die laufenden Ermittlungen immer wieder ab.

Bemühungen der Nebenklage, das Unter­stützungsnetzwerk, das staatliche Wissen und die Folgen der rassistischen Kriminalisierung der Betroffenen in den Ermittlungen zu thematisieren, wurden seitens der BAW immer wieder diskreditiert. Oberstaatsanwältin Anette Greger unterstellte den Anwält_innen sogar, sie hätten ihren Mandant_innen „Hintermänner versprochen“. Bundesanwalt Herbert Diemer rechtfertigte das Vorgehen mit der immunisierenden und kontrafaktischen Aussage: „Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verstrickung von Angehörigen staatlicher Stellen sind nicht aufgetreten. Wären sie aufgetreten, wären sie in gesetzlich vorgesehener Weise aufgeklärt worden.“3

Konfliktlinien der BAW

In der Stellung der BAW zu anderen Behörden ist ein Gewaltenteilungsproblem angelegt. Prinzipiell sind Behörden Teil der Exekutive, wobei der Status von Staatsanwaltschaften als Behörden der Exekutive oder Judikative umstritten ist. Als politischer Beamter ist der Generalbundesanwalt (GBA) dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz gegenüber weisungsgebunden. Anstelle von Neutralität besteht ein Einfallstor (partei-) politischer Einflussnahme auf die Justiz.

Bei der Strafverfolgung von rechtsterroristischer Gewalt, bei der V-Personen aus der Neonaziszene involviert sind, zeigen sich Konflikte zwischen BAW, dem Verfassungsschutz, dem Bundesjustizministerium und Bundesinnenministerium. Auf den Punkt gebracht hat sie Klaus-Dieter Fritsche, der von 1996 bis 2005 Vize-Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) und als solcher mitverantwortlich für die Führung von V-Personen im NSU-Komplex war. In seiner Vernehmung vor dem 1. NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss im Jahr 2012 erklärte er: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“ Fritsche argumentierte im Sinne des Staatswohls mit dem Vorrang staatlicher Interessen. So werden Ermittlungen mit dem Argument des Quellenschutzes von V-Personen blockiert. Es erstaunt insofern nicht, dass die Frage, wieso Hinweise auf das Kerntrio nicht weitergeleitet wurden, keine Erwähnung in der Anklage finden.

Deutlich wird dies auch in der Causa Temme: Der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme war während des Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 in dessen Internetcafé in Kassel anwesend. Einem Gutachten des Londoner „Institute for Forensic Architecture“ zufolge ist Temmes Aussage, nichts gesehen oder gehört zu haben, schlicht falsch. Es stehe vielmehr die Frage im Raum, ob er den oder die Mörder Halit Yozgats gesehen oder gar selbst geschossen hat. Dem Beweisantrag der Nebenklage auf Einführung des wissenschaftlichen Gutachtens in den Prozess sowie der Wunsch der Familie Yozgat nach einer Tatortbegehung schloss sich die BAW nicht an.

Staatsräsonale Straffreiheit

Durch die eng geführte Anklage stand der Prozess von Beginn an unter der Maßgabe, was eben nicht aufgeklärt werden sollte. Die Ermittlungen zum NSU folgten allein der Vorgabe des Trio-Konstrukts der BAW. Ihr vehementer Widerstand gegen die Thematisierung staatlicher Verstrickungen oder des „Netzwerks von Kameraden“ (Selbstbezeichnung des NSU im sogenannten NSU-Brief und im Bekennervideo) folgte dem staatlichen Selbstschutz.

Bis heute wird die Aufklärung des NSU-Komplexes durch die Vertuschung von Beweisen in den Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden verhindert. Während der ehemalige Referatsleiter des BfV Axel Minrath (Deckname Lothar Lingen) im November 2011 vorsätzlich die Vernichtung von Akten von V-Personen anordnete und im Beisein der BAW im Sommer 2014 erklärte: „Vernichtete Akten können [...] nicht mehr geprüft werden4 , argumentierte die BAW, Lingen sei nicht prozessrelevant. Erst Ende September 2016 wurde die Vernehmung Lingens öffentlich, sie beweist das Gegenteil, und dass die BAW zum Schutz staatlicher Interessen auch bereit ist, die Unwahrheit zu sagen.

Neben dem staatlichen Wissen über den NSU-Komplex hielt sie auch den institutionellen Rassismus aus dem Prozess heraus. Die sinngemäße Formulierung in der Anklage, das Feindbild des NSU habe auch die „antirassistisch verfasste“ BRD umfasst, zeigt ihr defizitäres Verständnis von Rassismus sowie ihr fehlendes Interesse, institutionellen Rassismus zu thematisieren.

Die Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 löste bei den Angehörigen Wut und Trauer aus. Die Urteile für den wegen der Beschaffung der Tatwaffe, also Beihilfe zum neunfachen Mord, angeklagten Ralf Wohlleben und den wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Beihilfe zum versuchten Mord und Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion angeklagten André Eminger blieben sogar hinter den Forderungen der BAW zurück. Eminger wurde einzig wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt und verließ den Gerichtssaal unter dem Jubel anwesender Neonazis. Zwei Wochen nach Prozessende wurde bekannt gegeben, dass die BAW hinsichtlich des Teilfreispruchs von Eminger Revision eingelegt hat.

Nach allem, was über ihr Agieren zum NSU bekannt ist, sind die Worte des Generalbundesanwalts Peter Frank, das Urteil dürfe „Kein Schlussstrich“ sein, schlicht zynisch. Angesichts der Tatsache, dass über mehr als fünf Jahre keine Erkenntnisse aus den parallelen Ermittlungen bekannt gegeben wurden, zeichnet sich ja eben dieser Schlussstrich ab. Bislang gibt es seitens der BAW keine Auskunft darüber, ob sich ein zweiter NSU-Prozess ergeben könnte. Der NSU-Prozess hat die strukturellen Defizite in der Strafverfolgung rechtsterroristischer Gewalt aufgezeigt und eindringlich dargelegt, wie die BAW als politisch agierende Behörde den Staat schützt und eine strafrechtliche Aufarbeitung im Sinne der Betroffenen verhindert.

  • 1Siehe dazu von der Behrens, Antonia (Hrsg.): Kein Schlusswort. Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstützungsnetzwerk. VSA Verlag.
  • 2Daimagüler, Mehmet (2017): Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Bastei Lübbe.
  • 3Plädoyer der Bundesanwaltschaft vom 25.07.2017.
  • 4Lingen zitiert nach: Aust, Stefan/Laabs, Dirk (2016a): NSU-Ausschuss: „Das ist eine völlig neue Qualität des Skandals“. Welt Online, 29.09.2016.