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Zu neuerlichen Kriminalisierungsversuchen bei Demonstrationen

Einleitung

Ostentatives Mitmarschieren“ – über dieses juristische Wortpaar ist in den letzten Jahren viel gesprochen worden. 2017 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) festgestellt, dass in einem Fall der Auseinandersetzung von Fußballfans außerhalb des Stadions die Verurteilung zweier Fußballfans, die zwar auf dem Weg zur Prügelei in der Formation mitgelaufen, sich aber im letzten Moment abgesetzt bzw. sich nicht selbst an Gewalttätigkeiten beteiligt hatten, durch das Landgericht Köln Bestand haben könne.

Bild: unitedwestand.blackblogs.org

Die Verurteilungen zu kleinen Geldstrafen hatten folgende Begründung: „„Ostentatives Mitmarschieren“ auf dem Weg zum Ort der Begehung von Gewalttätigkeiten, reicht aus. Die Angeklagten haben durch Eingliederung in die Formation erkennbar ihre Solidarität mit den gewaltbereiten Gruppenmitgliedern zum Ausdruck gebracht. Alle Teilnehmer der Menschenmenge verfolgten einzig das Ziel, geschlossen Gewalttätigkeiten zu begehen. Dadurch unterscheidet sich dieser Fall der „Dritt-Ort-Auseinandersetzung“ gewalttätiger Fußballfans von Fällen des „Demonstrationsstrafrechts“, bei denen aus einer Ansammlung einer Vielzahl von Menschen heraus Gewalttätigkeiten begangen werden, aber nicht alle Personen Gewalt anwenden oder dies unterstützen wollen. Im vorliegenden Fall war die Begehung der Gewalttätigkeiten jedoch das alleinige Ziel aller Beteiligten.“1

Unter ostentativ versteht der Duden „bewusst herausfordernd, zur Schau gestellt, betont; in herausfordernder, provozierender Weise“. Das heißt, das dortige Gericht hatte feststellen können, dass die Angeklagten sich in besonders zur Schau gestellter Weise in die Formation eingegliedert hatten. Die politischen Staatsanwaltschaften landauf landab waren begeistert. So wurde in Berlin etwa eine große Anzahl an Personen angeklagt, die an einer Fahrraddemo teilgenommen haben sollen. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, dass es aus der Menge heraus zu Farbbeutelwürfen gekommen sei, ohne dass ihnen das jeweils persönlich zur Last gelegt wurde. Dies wäre dann wohl „ostentatives Mitradeln“. Immerhin lehnte das Gericht die Eröffnung des Verfahrens ab, wogegen die Politabteilung der Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegte.2 In der Schweiz wurde eine große Personenanzahl verurteilt, denen vorgeworfen worden war, bei einer Solidaritätsdemonstration für Afrin mitgelaufen zu sein, bei der es zu Sachbeschädigungen gekommen war.3

Die Krone setzte jedoch die Staatsanwaltschaft Hamburg diesen Kriminalisierungsversuchen auf. Unter bewusster Umgehung der im BGH-Beschluss deutlich zu Tage getretenen Einschränkung, wonach die „Hooligan-Entscheidung“ nicht auf Demonstrationen übertragbar sei, wurde zunächst Fabio V. angeklagt. V, ein zum Zeitpunkt des G20-Gipfels 18-Jähriger, war mit einer überwiegend schwarz gekleideten Demonstration auf dem Weg in die Innenstadt in der berühmt gewordenen Straße Rondenbarg festgenommen worden. Zuvor hatte er sich nach den Videos zu urteilen um Verletzte gekümmert, die durch den äußerst brutalen Polizeieinsatz der berüchtigten Bundespolizeiabteilung Blumberg („Hier ist Euer Frühstück, Antifa-Schweine!“) unter anderem vier Meter tief gefallen waren und sich teilweise Knochen gebrochen hatten. Der Kriminalisierungsversuch scheiterte, das Verfahren platzte, seitdem ruht der See still.4

Indes hatte die Staatsanwaltschaft nicht genug, sondern fertigte die nächste Anklage – diesmal eine Demonstration betreffend, die am Freitagvormittag des G20-Gipfels im westlichen Hamburg stattfand. Dort war es zu Glasbruch und brennenden Autos gekommen. Das auffällige war, dass die Polizei die Demonstration bei einer Dauer von etwa 30 Minuten weder begleitete noch Anstalten machte, diese aufzuhalten, obwohl 30.000 Beamt*innen in der Stadt waren. Entsprechend war auch niemand vor Ort festgehalten worden. Diesmal meinte die Soko „Schwarzer Block“ nach einer Fahndung zehn Personen ermittelt zu haben. Bei einigen war jedoch der Verdacht nicht groß genug, bei anderen stand die (Schweizer) Staatsangehörigkeit einer Auslieferung im Weg, sodass letztlich im Herbst 2018 fünf Personen angeklagt wurden.

Bei den Ermittlungen setzte die zwischenzeitlich mit bis zu 300 Beamten ausgestattete Soko „Schwarzer Block“ ein technisches Verfahren ein, was vom BKA ursprünglich aus den USA übernommen worden war, um nach terroristischen Anschlägen möglichst schnell Fahndungen einleiten zu können – die sog. „Boston Infrastruktur“. Da es das Ziel dieser Infrastruktur ist, möglichst schnell und möglichst viel Videomaterial zu erhalten, wird hierfür ein Internetportal freigeschaltet, über das von Beobachter*innen gefertigte Schnappschüsse oder vom Balkon getätigte Videoaufnahmen, gerne auch anonym, an die Polizei versandt werden können. Diese Denunziationsplattform erfreute sich reger Beteiligung, so dass die Soko auf etwa 300 Terabyte Video- und Fotomaterial zugreifen kann (wobei der Löwenanteil auf Videos der öffentlichen Nahverkehrsunternehmen zurückgeht).

Da dieser Umfang an Videomaterial selbst von 300 Beamt*innen kaum bewältigt werden konnte und von diesen allein 80 nur dazu da waren, die polizeiliche Version über die (sozialen) Medien zu verbreiten, ging die Soko noch einen Schritt weiter: Das Material wurde mit einer sogenannten Gesichtserkennungssoftware kombiniert, wie sie etwa auch in China eingesetzt oder am Bahnhof Südkreuz in Berlin als Pilotprojekt mit Amazon-Gutschein für beteiligungswillige Bürger*innen vorangetrieben wird.
Obwohl der Hamburger Datenschutzbeauftragte kurz darauf die Löschung dieses Instruments anordnete, da hierfür eine Rechtsgrundlage erforderlich sei, also ein von der Legislative beschlossenes Gesetz und nicht einfach eine Dienstanweisung der Polizei5 , nutzten Staatsanwaltschaft und Polizei diese Konzeption in einer Vielzahl von Fällen und erstellten so Überwachungsvideos von Personen, die (angeblich) deren gesamtes Wochenende vom 7. und 8. Juli 2017 darstellen sollten.

Ungeachtet der Tatsache, dass die der BGH-Entscheidung zugrunde liegende Verurteilung durch das Landgericht Köln im Geldstrafenbereich lag, richtete die Staatsanwaltschaft ihre Anklage direkt an das Hamburger Landgericht (und nicht ans Amtsgericht) und begründete dies damit, die erwachsenen Angeklagten hätten – allein fürs Mitlaufen - eine Haftstrafe von mehr als vier Jahren zu erwarten. Das Landgericht nahm die Anklage an und begann am 18. Dezember 2018 mit der Verhandlung. In der Anklage stellte die Staatsanwaltschaft minutiös entstandene Sachschäden zusammen und bekam hinsichtlich des oben dargestellten juristischen Konstruktes auch noch Unterstützung durch das Hamburger Oberlandesgericht, das den „Einheitstäterbegriff“ aus einer verstaubten Schublade herausholte und die Differenzierung zwischen einzelnen Teilnehmenden der Versammlung und deren Handlungen unterließ.

Bereits drei Tage nach dem Prozessauftakt schloss das Gericht die Öffentlichkeit aus. Diese juristische Möglichkeit war ihnen eröffnet, da auch zwei Jugendliche angeklagt sind. Welche Motive dahinter steckten, wird das Geheimnis der Richter*innen bleiben. An die Öffentlichkeit drang zuletzt ein Beschluss des zuständigen Gerichts, in dem der Gang der Hauptverhandlung beschrieben wurde6 : Auf das „geschriebene Wort“ in der Akte sei demnach „wenig Verlass“, Zeugen hätten polizeiliche Vermerke als „Quatsch“ beschrieben und versichert, derartiges nie gesagt zu haben. Dabei geht es wohl vor allem um die Frage eines einheitlichen Willens der rund 200 Versammlungsteilnehmenden.

Nachdem dies noch Arbeitshypothese der Ermittlungsbehörden gewesen war, ließ sich das in der Hauptverhandlung gerade nicht bestätigen: Eine Zeugin, die angeblich einen Menschen, der Kommandos gegeben haben soll, gesehen hatte, bestätigte dies in der Verhandlung gerade nicht. Zudem stellte das Gericht klar, dass die zusammengetragenen Videos durch die polizeilichen Regiearbeiten, Kürzungen, Pfeile, Markierungen etc. suggestiv seien und ein Sachverständigengutachten zur Frage der Identifizierung jedenfalls des einen Angeklagten eingeholt werden müsse. Dieses mittlerweile vorliegende Gutachten gibt entsprechend an, dass diese Videos nicht für eine Identifizierung des schweigenden Angeklagten ausreichen. Der Prozess ist noch bis Ende September 2019 terminiert. Bis zum Urteil wird wohl noch etwas Wasser die Elbe heruntergeflossen sein. Inzwischen gibt es jedoch Gerüchte, dass auch die Demonstration am Rondenbarg von der Staatsanwaltschaft noch einmal angeklagt werden soll.