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»Tot ermittelt«

Einleitung

NS-Verbrechen, Justiz und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-H27798 /CC BY-SA 3.0

In Umfragen vertrat lediglich ein Drittel der Befragten die Auffassung, die Nürnberger Prozesse seien gerecht gewesen.

Am Abend des 22. Juni 2005 spielten sich im Justizgebäude der norditalienischen Stadt La Spezia ergreifende Szenen ab. Soeben hatte der Vorsitzende des Militärgerichts die Urteile gegen zehn ehemalige Soldaten der SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« verkündet. Die Richter verhängten jeweils lebenslängliche Freiheitsstrafen wegen »fortgesetztem Mord, begangen mit besonderer Grausamkeit«.

Alle zehn Angeklagten wurden schuldig gesprochen, an einem der brutalsten von Deutschen verübten Verbrechen in Italien während des Zweiten Weltkrieges beteiligt gewesen zu sein. Am 12. August 1944 hatten vier Kompanien der SS-Einheit im toskanischen Dorf Sant Anna di Stazzema ein Massaker angerichtet. Innerhalb weniger Stunden waren 560 Bewohner der Ortschaft ermordet worden. Unter dem Deckmantel angeblicher »Partisanenbekämpfung« hatten 300 SS-Soldaten Männer, Frauen und Kinder regelrecht abgeschlachtet. 61 Jahre lang waren diese Taten weder von der deutschen noch von der italienischen Justiz verfolgt worden. Im Gerichtssaal brandete daher nach der Urteilsverkündung spontaner Applaus auf. Gleichzeitig kämpften Angehörige der Opfer des Massakers mit den Tränen.

Erleichterung über die Entscheidung der Richter mischte sich mit traumatischen Erinnerungen an jenen 12. August 1944, aber auch mit hilfloser Wut. Keiner der Angeklagten war zum Prozess in La Spezia erschienen. Das Gericht hatte die Urteile in deren Abwesenheit gesprochen. Die Hoffnung, dass die ehemaligen SS-Männer jemals für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, erscheint indes zweifelhaft. Alle zehn verbringen ihren Lebensabend in der Bundesrepublik, die NS-Täter und Kriegsverbrecher grundsätzlich nicht an andere Staaten ausliefert. Zwar ermittelt die Stuttgarter Staatsanwaltschaft zum »Komplex Sant Anna«, ob und wann jedoch gegen die Beschuldigten Anklage erhoben wird, ist nicht absehbar.

Dem Urteil von La Spezia misst die deutsche Justiz allenfalls untergeordnete Bedeutung bei: »Wir gehen da ein bisschen tiefer als die Italiener« ließen die Stuttgarter Ermittler verlauten, schließlich müssten »die Mordmerkmale wie Grausamkeit dem Einzelnen nachgewiesen werden.«1 Dies aber sei 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein zeitintensives Unterfangen – Zeit, die angesichts des hohen Alters der Beschuldigten kaum mehr zur Verfügung steht. Zu befürchten ist, dass die Ermittlungen gegen die zehn in La Spezia Verurteilten enden werden wie zahllose andere Ermittlungsverfahren, die im Zusammenhang mit NS-Verbrechen eröffnet wurden –  ohne Ergebnis.

Die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit gilt heute als Nachweis einer auf lange Sicht respektablen Vergangenheitsbewältigung. In diesem Zusammenhang wird gerne auf die Ermittlungstätigkeit der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen« verwiesen, die im Dezember 1958 in Ludwigsburg ihre Arbeit aufnahm. Ein Großteil der in der Bundesrepublik seit 1945 eingeleiteten 106.496 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter ging auf die Initiative der Behörde zurück, ohne deren Existenz die Strafverfolgung von NS-Verbrechen wohl noch beschämender ausgefallen wäre. Gegenwärtig beschäftigen sich die Mitarbeiter der Zentralen Stelle noch mit 24 »Tatkomplexen« in ganz Europa.2 Dennoch erweist sich die Bilanz der juristischen Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik als niederschmetternd. Die Verfahren gegen 102.223 Personen endeten mit Einstellungsverfügungen oder Freisprüchen. Lediglich 6.495 Beschuldigte wurden rechtskräftig verurteilt. In nur 157 Fällen verhängten bundesdeutsche Gerichte lebenslange Freiheitsstrafen.3

Rechtspolitische Weichenstellungen im »Schatten der Volksgemeinschaft«

Die Gründe, weshalb sich die Verfolgung von NS-Verbrechen zu einem »Desaster« (Norbert Frei) entwickelte, sind vielschichtig. Zum einen sind hier vergangenheitspolitische Weichenstellungen zu nennen, die in den 1950er und 1960er Jahren vorgenommen wurden. Zum anderen Ermittlungs- und Entscheidungspraktiken von Polizei, Staatsanwälten und Richtern, die bisweilen abenteuerliche, in den meisten Fällen aber »täterfreundliche« Auffassungen und Deutungsmuster erkennen ließen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich die juristische Vergangenheitsbewältigung »im Schatten der Volksgemeinschaft« (Marc von Miquel) vollzog. Vor allem im ersten Nachkriegsjahrzehnt halluzinierten sich die Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrheit als ein Kollektiv von Opfern. Zwar führten generationelle, politische und kulturelle Umbrüche seit den 1960er Jahren in Teilen der Gesellschaft zu einem kritischeren Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus.

Die Forderungen nach einem »Schlussstrich«, die sich nicht zuletzt an den fortwährenden Ermittlungen gegen NS-Verbrecher entzündeten, blieben jedoch feste Bestandteile vergangenheitspolitischer Diskurse. Schon seit dem Ende der 1940er Jahre stieg in der deutschen Bevölkerung der Unmut über die alliierten Entnazifizierungsmaßnahmen. In Umfragen vertrat lediglich ein Drittel der Befragten die Auffassung, die Nürnberger Prozesse seien gerecht gewesen. In der frühen Bundesrepublik avancierten die Forderungen, die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen zu begrenzen zu einem zentralen innenpolitischen Thema.

In diesem Klima wurden während der 1950er und 1960er Jahre folgenreiche rechtspolitische Entscheidungen getroffen:
Erstens verzichtete die Bundesrepublik darauf, NS-Verbrechen mit einem speziellen juristischen Instrumentarium zu verfolgen. Die alliierten Kontrollratsgesetze, die etwa »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« unter Strafe stellten, verloren ihre Gültigkeit. Als Grundlage der Strafverfolgung sollten ausschließlich die Bestimmungen des Strafgesetzbuches (Mord, Totschlag, Freiheitsberaubung, schwere Körperverletzung) dienen. Dies bedeutet, dass NS-Tätern ihre individuelle Schuld präzise nachgewiesen werden muss. Die nationalsozialistischen Massenverbrechen, die u.a. dadurch gekennzeichnet waren, dass sie oftmals von größeren Akteursgruppen kollektiv und arbeitsteilig begangen wurden, sind damit juristisch kaum zu erfassen.

Zweitens wurden unzählige NS-Täter durch den 1952 zwischen den Westalliierten und der Bundesrepublik geschlossenen »Überleitungsvertrag« faktisch amnestiert. Der Vertrag schützte diejenigen vor strafrechtlicher Verfolgung, gegen die bereits englische, französische oder amerikanische Behörden wegen Kriegsverbrechen ermittelt, das Verfahren aber eingestellt hatten. Diese Personen konnten von deutschen Staatsanwälten selbst dann nicht angeklagt werden, wenn sich neue Indizien für deren Schuld ergaben.

Drittens verabschiedete der Bundestag in den Jahren 1949 und 1954 zwei Amnestiegesetze, auf die sich insgesamt über eine Million Menschen berufen konnten. Beide Regelungen ermöglichten Personen, die nach dem Ende des »Dritten Reichs« unter falschem Namen untergetaucht waren eine Rückkehr in die Legalität, ohne dabei unbequeme Fragen nach den Hintergründen des Abtauchens fürchten zu müssen. Das Gesetz vom Juli 1954 amnestierte Straftaten mit einem Strafmaß von bis zu drei Jahren, die zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 »in Annahme einer Dienst- oder Amtspflicht oder auf Grundlage eines Befehls« begangen worden waren. Die Amnestieregelungen führten zur Einstellung von Ermittlungsverfahren, in denen es etwa um Befehle zur Erschießung von britischen Fliegern oder um Misshandlungen amerikanischer Kriegsgefangener ging.

Viertens begannen seit Mitte der 1950er Jahre einige Delikte, wie schwere Körperverletzung oder Freiheitsberaubung, zu verjähren. Obgleich die fatalen Konsequenzen dieser Entwicklung auf der Hand lagen, verzichteten die Bundesregierung und die bürgerlich-konservative Mehrheit des Bundestages darauf, die Ablauffristen zu verlängern. Als am folgenreichsten erwies sich in diesem Zusammenhang das Auslaufen der Verjährungsfrist für Totschlag im Mai 1960.

Seither können NS-Täter lediglich wegen »Mord« und in begrenzten Fällen wegen »Beihilfe zum Mord« belangt werden. Die Hürden hierfür liegen allerdings hoch. Demnach müssen die Taten der Beschuldigten bestimmte »Mordmerkmale« wie »Grausamkeit« oder »Heimtücke« aufweisen, um sie auch tatsächlich als »Mord« anklagen zu können.

Ähnlich kompliziert gestalten sich Ermittlungen wegen »Beihilfe zum Mord«. Im Zuge der Novellierung des Ordnungswidrigkeiten-Gesetzes im Jahr 1968 wurde der entsprechende Paragraf im StGB neu geregelt. »Beihilfe zum Mord« kann seitdem nur noch verfolgt werden, wenn einem auf Befehl handelnden Mittäter »niedere Beweggründe« nachzuweisen sind, die vollendete Tat somit durch »persönliche Merkmale« gekennzeichnet ist. In der Praxis bedeutete dies eine »Amnestie durch die Hintertür«. Den ehemaligen Funktionseliten des »Dritten Reichs«, die fernab vom eigentlichen Mordgeschehen die nationalsozialistischen Massenverbrechen geplant und koordiniert hatten, konnten »persönliche Motive« kaum mehr nachgewiesen werden.

»Trostlose Bilanz« –  die Entscheidungspraktiken der Justizbehörden

Das Scheitern der juristischen Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik ist aber auch den Entscheidungspraktiken der Justizbehörden zuzuschreiben. An diesem Befund ändert der Hinweis auf die akribische Ermittlungstätigkeit der »Zentralen Stelle« wenig.

Von Beginn an sah sich die Zentrale Stelle mit Problemen und Widerständen konfrontiert. Der ehemalige Generalbundesanwalt und CDU-Rechtsexperte Max Güde bezeichnete die Staatsanwälte der Zentralen Stelle noch im Jahr 1968 unverhohlen als »unsere Idioten«.4 Als entscheidendes Manko lässt sich festhalten, dass die Zentrale Stelle nur mit eingeschränkten Befugnissen versehen worden war. Zum einen gehörte die Aufklärung von Wehrmachtsverbrechen zunächst nicht zum Aufgabenfeld der Behörde. Zum anderen beschränkt sich die Arbeit der Ludwigsburger Staatsanwälte darauf, Vorermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter einzuleiten. Danach werden die Verfahren an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben. Spätestens ab diesem Zeitpunkt, durften und dürfen viele Beschuldigte mit einem für sie günstigen Ausgang des Verfahrens rechnen. Denn die Tatsache, dass der größte Teil der Ermittlungen wegen NS-Verbrechen scheiterte, war besonders den Staatsanwälten vor Ort zu zuschreiben, die unzählige Fälle regelrecht »tot ermittelten« (Wolfgang Scheffler).

Dies zeigt ein Blick auf die Ermittlungs- und Entscheidungspraktiken der nordrhein-westfälischen Justizbehörden. In NRW wurden seit 1961 die Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter vor allem durch die Zentralstellen bei den Staatsanwaltschaften in Köln und Dortmund geführt. Mit wenig Erfolg, wie sich aus den behördeninternen Statistiken entnehmen lässt. So ermittelte die Dortmunder Staatsanwaltschaft bis 1999 gegen insgesamt 25.000 Beschuldigte, erhob aber in nur 159 Fällen Anklage. Über die Zahl der tatsächlich Verurteilten gibt es keine Angaben. Die Kölner Zentralstelle führte Ermittlungen gegen 5.402 Beschuldigte durch. 76 von ihnen mussten sich vor Gericht verantworten, 41 wurden rechtskräftig verurteilt.5 Diese »trostlose Bilanz« (Stefan Klemp) resultierte aus mehreren Faktoren, die nicht nur den Umgang der NRW-Justiz mit NS-Verbrechen kennzeichneten, sondern auch für die problematischen Vorgehensweisen der Justizbehörden in der übrigen Bundesrepublik charakteristisch waren.

Mythos »Befehlsnotstand«

So folgten Richter und Staatsanwälte vielfach Interpretationen, die fraglos die mutmaßlichen Täter begünstigten. Ein klassisches Beispiel hierfür stellte die von zahllosen Beschuldigten vorgetragene Behauptung dar, sie hätten sich in einem vermeintlichen »Befehlsnotstand« befunden und unter Zwang an verbrecherischen Aktionen teilgenommen. Insbesondere in Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Angehörige von Polizeibataillonen, die maßgeblich an den Massenmorden in Osteuropa und in der Sowjetunion mitgewirkt hatten, waren die Strafverfolgungsbehörden ohne weiteres bereit, auf putativen Befehlsnotstand zu erkennen.

Die Verfahren wurden daraufhin in aller Regel eingestellt. Obgleich der Verweis auf den angeblichen Befehlsnotstand bereits am Beginn der 1960er Jahre als von der historischen Forschung widerlegte Rechtfertigungslegende gelten konnte, gelang es zahlreichen Beschuldigten bis in die 1970er Jahre hinein, sich mit Hilfe dieser Argumentation aus der strafrechtlichen Verantwortung zu stehlen.

Demgegenüber kennzeichnete ein auffallend geringes Interesse für die Aussagen von NS-Opfern die Ermittlungspraxis der Dortmunder Behörde bis in die Gegenwart, was sich im Fall des ehemaligen Leiters des Gestapo-Gefängnisses »Kleine Festung« in Theresienstadt, Anton Malloth, zeigte, gegen den in NRW beinahe 30 Jahre ergebnislos ermittelt worden war. Die Staatsanwaltschaft München benötigte hingegen nur ein halbes Jahr, um Anklage gegen Malloth zu erheben und dessen Verurteilung zu einer lebenslangen Haftstrafe im Mai 2001 zu erreichen. Der zuständige Staatsanwalt übte in diesem Kontext deutliche Kritik an den Ermittlungspraktiken seiner Dortmunder Kollegen, indem er feststellte: »Jahrzehnte lang hat sich niemand für noch lebende Zeugen interessiert.«6

Als problematisch für die Strafverfolgung von NS-Tätern erwies sich ferner der Umstand, dass die Staatsanwaltschaften bei ihren Ermittlungen auf die Polizeibehörden angewiesen waren. Diese zeigten sich häufig wenig kooperativ, zumal sich ein erheblicher Teil der Verfahren gegen ehemalige Angehörige von SS-Einheiten und Polizeibataillonen richtete, die spätestens seit dem Beginn der 1950er Jahre wieder im Polizeidienst untergekommen waren. Dies galt besonders für die Landeskriminalämter, die mit den Ermittlungen wegen NS-Verbrechen beauftragt wurden. Aber auch in den Justizbehörden der Bundesrepublik zeigten sich personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit. So wurde ausgerechnet die Zentrale Stelle in Dortmund bis ins Jahr 1972 von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern geleitet.

Die Rückkehr der Vergangenheit? NS-Prozesse seit den 1990er Jahren

So verwundert es nicht, dass zwar die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen seit Einrichtung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg anstieg, die Quote der rechtskräftigen Verurteilungen aber niedrig blieb. Die Zahl der richterlichen Entscheidungen sank im Verlauf der 1960er Jahre sogar unter das Niveau der 1950er Jahre, das mit durchschnittlich 28 verurteilten Beschuldigten (1954-1959) ohnehin äußerst bescheiden war.

Mit den Urteilen im Düsseldorfer »Majdanek-Prozess« der nach einer Verhandlungsdauer von über fünf Jahren im Juni 1981 mit Freiheitsstrafen zwischen drei Jahren und lebenslänglich (bei einem Freispruch) für die neun Angeklagten geendet hatte, schien nach allgemeiner Auffassung die Strafverfolgung von NS-Verbrechen an ihr Ende gekommen zu sein. Tatsächlich ging die Zahl der Ermittlungsverfahren während der 1980er Jahre zurück. Umso überraschender wirkt daher die Feststellung, dass sich seit dem Beginn der 1990er Jahre entgegen allen Erwartungen doch noch einige NS-Täter vor Gericht verantworten mussten.

Die neuen Verfahren fanden vor folgendem Hintergrund statt:
Erstens wurden nach dem Ende der Blockkonfrontation bislang nicht beachtete NS-Verbrechen in Osteuropa sowie auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion bekannt. Zudem stellte sich heraus, dass etliche Verbrechen, die SS und Wehrmacht in west- bzw. südeuropäischen Staaten begangen hatten, über Jahrzehnte hinweg von den Justizbehörden ignoriert worden waren. Dies geschah nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Italien. Dort wurden Ermittlungsunterlagen, die sich etwa mit dem Massaker von Sant Anna befassten buchstäblich weggeschlossen. Aus Rücksicht auf den deutschen NATO-Verbündeten verschwanden diese Akten seit den 1950er Jahren in einem so genannten »Schrank der Schande«, in einem Büro der Militärstaatsanwaltschaft in Rom und fristen dort bis 1999 ein Schattendasein.

Zweitens gewannen seit Mitte der 1990er Jahre entgegen allen geschichtspolitischen Tendenzen, die fortwährende Präsenz der NS-Zeit zurückzudrängen, Diskussionen an Bedeutung, die um die Beteiligung »ganz normaler« Deutscher an den NS-Verbrechen kreisten. Ursächlich hierfür war vor allem die  erste Wehrmachtsausstellung, die einem breiten Publikum die Dimensionen der von der Wehrmacht begangenen Verbrechen drastisch vor Augen führte.

Drittens vollzog sich innerhalb der Polizei- und Justizbehörden ein Generationswechsel. Die Obstruktionen, die für die polizeilichen Ermittlungen gegen NS-Täter in den 1950er und 1960er Jahren kennzeichnend gewesen waren, wurden allmählich seltener.

Viertens verloren die Netzwerke und Lobbygruppen an Einfluss, die sich seit Gründung der Bundesrepublik auf unterschiedlichen Ebenen durchaus mit Erfolg für die Straffreiheit mutmaßlicher NS-Täter eingesetzt hatten.    
 
Die Verfahren seit den 1990er Jahren, führten jedoch nicht in jedem Fall zu Verurteilungen. Während die ehemaligen SS-Offiziere Josef Schwammberger (1992), Julius Viel  (2001) und Anton Malloth (2001) wegen Mord bzw. Beihilfe zum Mord langjährige Gefängnisstrafen erhielten, konnten andere Beschuldigte den Gerichtssaal als freie Männer verlassen. So wurde der Prozess gegen Herbertus Bikker vor dem Landgericht Hagen, wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit im Februar 2004 eingestellt. Die Anklage hatte dem früheren Freiwilligen der Waffen-SS vorgeworfen, im November 1944 einen niederländischen Widerstandskämpfer erschossen zu haben. Mit einer nicht rechtskräftigen Verurteilung endete im Juli 2002 der Prozess gegen Friedrich Engel. Als Leiter des SD-Außenkommandos von Genua war er im Mai 1944 an der Ermordung von 59 italienischen Gefangenen beteiligt. Das Landgericht Hamburg verurteilte Engel zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Der BGH hob die Entscheidung zwei Jahre später auf. Das Gericht verwies darauf, dass dem Angeklagten das Mordmerkmal der »Grausamkeit« unzureichend nachgewiesen worden war. Einen neuen Prozess wollte der BGH dem ehemaligen SS-Offizier nicht zumuten.

Eine Bilanz der Strafverfolgung von NS-Verbrechen seit den 1990er Jahren fällt zwiespältig aus. Zwar wurden einige NS-Täter, wenn auch viel zu spät, zur Rechenschaft gezogen und zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch trotz der veränderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, ist die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Gegenwart weiterhin von den Schwierigkeiten gekennzeichnet, die schon für die Jahrzehnte zuvor charakteristisch waren. Verwiesen sei hier auf schleppende Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaften, bisweilen haarsträubenden Ermittlungspannen und eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die den Mordparagrafen nach wie vor äußerst eng auslegt. Hinzu kommen das hohe Alter der Beschuldigten und deren eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit.

Ungesühnte Verbrechen – Kephallonia und Kommeno

Auch in den noch laufenden Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche NS-Täter lassen sich kaum nennenswerten Veränderungen in den Praktiken der Strafverfolgungsbehörden beobachten. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der zehn Verdächtigen im Fall Sant Anna. Ebenso ziehen sich die Ermittlungen im Zusammenhang mit der Ermordung von mindestens 5000 italienischen Kriegsgefangenen auf der griechischen Insel Kephallonia durch deutsche Gebirgsjägereinheiten im September 1943 in die Länge. Zwar bezeichnete bereits vor einem Jahr der mit dem Gesamtkomplex befasste Oberstaatsanwalt Maß, Leiter der Zentralen Stelle in Dortmund, die Verfahren gegen zwei Wehrmachtsveteranen aus der Nähe von Augsburg als »abschlussreif«. Die mittlerweile zuständigen bayerischen Strafverfolgungsbehörden haben bislang allerdings keine Anklagen erhoben. Ob die Ermittlungsverfahren gegen eine unbekannte Zahl weiterer Tatverdächtiger jemals zu konkreten Ergebnissen führen werden, ist auch nach Ansicht von Maß vollkommen unklar.

Ähnliches gilt für die Ermittlungen im Fall Kommeno. Im August 1943 hatte eine Gebirgsjägereinheit in dem nordgriechischen Dorf ein Massaker angerichtet und 317 Männer, Frauen und Kinder ermordet. Das Verbrechen hatte schon am Ende der 1960er Jahre die Staatsanwaltschaft München beschäftigt. Wie kaum anders zu erwarten, war das Verfahren aber eingestellt worden. Den Anstoß dafür, dass sich die Münchner Ermittlungsbehörden nach über 30 Jahren erneut mit dem Massaker von Kommeno befassen müssen, lieferten nicht zuletzt die von antifaschistischen Gruppen getragenen Proteste gegen die alljährlich an Pfingsten im oberbayrischen Mittenwald stattfindenden Gebirgsjägertreffen. Zu dieser Gelegenheit übergaben im Jahr 2003 Aktivisten des »Arbeitskreises Angreifbare Traditionspflege« der Polizei eine Liste mit den Namen von 150 noch lebenden ehemaligen Angehörigen des Regiments, das für das Massaker verantwortlich war. Seitdem ist wenig geschehen. Die Staatsanwaltschaft scheint ohne großen Elan zu ermitteln, so dass vermutlich auch die Verbrechen von Kommeno, ungesühnt bleiben werden.  

  • 1Vgl. Taz (Nord) vom 20.4.2004; Taz (Nord) vom 28.11.2005.
  • 2Vgl. Rheinischer Merkur Nr. 41 vom 13.10.2005.
  • 3Vgl. Michael Greve, »Im Namen des Volkes…« Eine kurze Bilanz von 50 Jahren bundesdeutscher Strafverfolgung von NS-Verbrechen, http://www.michael-greve.de/strafenbrd.htm [2002]
  • 4Zit. nach Greve, Bilanz.
  • 5Vgl. Stefan Klemp, »Nicht ermittelt«. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz – Ein Handbuch, Essen 2005, S. 369.
  • 6Ebenda, S. 352.