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»So viel Konsens ist selten«

Jörg Kronauer (Gastbeitrag)
Einleitung

Otto Schily hat es geahnt. »Mit dem Kopf durch die Wand – das geht schief«, warnte der deutsche Innenminister die Vorsitzende des »Bundes der Vertriebenen« (BdV), Erika Steinbach. Schily hat Recht behalten. Die Auseinandersetzungen um das vom BdV geplante »Zentrum gegen Vertreibungen« sind im September 2000 etwas aus dem Ruder gelaufen: Steinbachs taktisch ungeschicktes Vorgehen hat Widerstand gegen das deutsche Revisionsprojekt hervorgerufen. Nicht in Deutschland freilich – aber in Polen. 

Feierlichkeit zum 50. Jahrestag der Charta der Deutschen Vertriebenen im Schauspielhaus in Berlin. Links Erika Steinbach, rechts Gerhard Schröder

Begonnen hatte das »Vertriebenen«-Projekt recht aussichtsreich. Im Frühjahr 1999 beschloss der BdV ein »Zentrum gegen Vertreibungen« zu errichten – in Berlin, eventuell nahe beim Holocaust-Mahnmal und mit staatlicher Unterstützung. Die Umsiedlung der Deutschen (»Vertreibung«) sollte dokumentiert werden, mit Wechselausstellungen wollte man ganz Europa einbeziehen – etwa durch Hinweise auf ethnisch motivierte Verfolgung im früheren Jugoslawien. Alles lief wie geschmiert. Steinbach gelang es rasch CDU und CSU für ihr Vorhaben zu gewinnen; SPD-Innenminister Schily sprach sich ebenso für das Zentrum aus wie mehrere sozialdemokratische Länderministerpräsidenten.

Im September 2000 wurde die »Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen« aus der Taufe gehoben, unter dem gemeinsamen Vorsitz von Erika Steinbach (CDU) und Peter Glotz (SPD) verschaffte sie sich das Wohlwollen der SPD-Bundestagsfraktion und finanzielle Unterstützung von inzwischen 400 Kommunen (darunter mehrere Großstädte). Und das trotz oder vielleicht auch gerade wegen der politischen Stoßrichtung des Projekts. Politisches Ziel des Zentrums war und ist es, die Umsiedlung der Deutschen zum »Unrecht« zu erklären. Dies ist nichts anderes als ein Angriff auf das Potsdamer Abkommen, das die Grundlage der europäischen Nachkriegsordnung bildet. Denn im Potsdamer Abkommen wurde die Umsiedlung der Deutschen völkerrechtlich verbindlich angeordnet, bevor sie dann nach nationalen Ausführungsbestimmungen umgesetzt wurde. Würde die Umsiedlung zum »Unrecht« erklärt, dann wären wichtige Bestimmungen des Potsdamer Abkommens Unrecht, Europa müsste völlig neu »geordnet« werden.

Den handelnden Personen ist der Angriff auf das Potsdamer Abkommen durchaus bewusst. »Es ist auch keineswegs nur ein Thema, das wir mit Tschechen und Polen diskutieren müssen«, bemerkte Peter Glotz beim »Tag der Heimat« 2001: »Es lohnt auch die Diskussion mit Amerikanern, Engländern und Franzosen« – mit Garantiemächten des Potsdamer Abkommens also. Nicht weniger deutlich äußerte sich ein anderer sozialdemokratischer Befürworter des Zentrums, Markus Meckel. »Wir müssen es zugeben«, erklärte er im Mai 2002 im Bundestag, »auch Demokraten wie Churchill, Roosevelt und Truman akzeptierten Vertreibungen, indem sie Zwangsumsiedlungen als einen Teil von Stabilitätspolitik betrachteten. Heute lehnen wir dies ab, weil es Unrecht ist.«

Schwierigkeiten taktischer Art

Probleme mit dem BdV-Projekt hatte vor allem eine kleine, politisch hochspezialisierte Personengruppe: AußenpolitikerInnen, die in den Vorfeldorganisationen des Auswärtigen Amts die deutsche Polen-Politik vorbereiten und begleiten. Die Schwierigkeiten waren eher taktischer Natur. Sie beruhten darauf, dass die deutschen »Vertriebenen«-Verbände in Polen und Tschechien sehr unbeliebt sind. Ein vom BdV gegründetes »Zentrum gegen Vertreibungen«, das wurde den deutschen AußenpolitikerInnen in Gesprächen mit ihren KollegInnen aus Polen rasch deutlich, riefe heftigen Unmut in der polnischen Bevölkerung hervor. Und da es zu ihren Aufgaben gehört, die deutsche Polen-Politik möglichst ohne größere Unruhen über die Bühne zu bekommen, sannen die deutschen Polen-Fachleute auf Abhilfe.

Den rettenden Einfall hatte Markus Meckel, einer der führenden SPD-Außenpolitiker, zu dessen Aufgabengebiet vor allem Polen gehört. Meckel trat im Frühjahr 2002 mit einem eigenen, angeblich alternativen Konzept an die Öffentlichkeit. Er befürworte ein »Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen«, erklärte der Sozialdemokrat und begann, sich verbal von den BdV-Plänen abzusetzen, die er inzwischen als »national« bezeichnet. Inhaltlich unterscheiden sich Meckels Vorstellungen kaum von denen der »Vertriebenen«, die ja im Übrigen auch eine klare »europäische« Komponente enthalten; als der Bundestag im Mai 2002 über die beiden konkurrierenden Konzepte debattierte, hielt ein CDU-Abgeordneter dies ausdrücklich fest (»So viel Übereinstimmung gab es selten«). Der Kern ist in beiden Planungen gleich: Auch Meckel will die Umsiedlung der Deutschen ausdrücklich zum »Unrecht« erklären, auch ihm ist die Stoßrichtung gegen das Potsdamer Abkommen wichtig.

Meckels Vorstellungen von einem »Europäischen Zentrum«, die vom Bundestag schließlich im Juli 2002 verabschiedet wurden, unterscheiden sich vor allem in einem Punkt von den »Vertriebenen«-Plänen: Sie sind in der Standortfrage offen. Während der BdV das Zentrum unbedingt in Berlin haben will, ist Meckel bereit, das Zentrum in Wroclaw anzusiedeln und damit den polnischen Eliten Einfluss auf die konkrete Gestaltung zuzugestehen. Die – von Berlin definierte – politische Stoßrichtung gegen das Potsdamer Abkommen freilich steht für den Sozialdemokraten nicht zur Debatte. Im Gegenteil – er weitet sie sogar aus. Ein »Zentrum gegen Vertreibungen« in Wroclaw ruft nicht nur die deutsche Vergangenheit des ehemaligen Breslau ins Gedächtnis. Es erinnert auch daran, dass in Wroclaw nach der Umsiedlung der Deutschen PolInnen einzogen, die aus dem heute ukrainischen Lviv kamen; die polnische Vergangenheit der heutigen Westukraine käme ins Gespräch, polnischer Revanchismus bekäme Zündstoff. Kein Staat in Osteuropa ist frei von ähnlichen verborgenen Konflikten, Meckels konsequente »Europäisierung« des Zentrums könnte zu einem wahren Flächenbrand beitragen.

Selbst die BdV-Vorsitzende hält dies für riskant. »Vor diesem Hintergrund müssen wir sehr sorgfältig überlegen«, gab sie im Bundestag zu bedenken, »ob man anderen Völkern einen Gefallen tut, wenn man sie in die Behandlung einer Frage einbindet.« In die möglicherweise entscheidende Phase ist die Debatte im Juli 2003 getreten – kurz nach den EU-Beitrittsreferenden in Polen und Tschechien, deren Gelingen weder Meckel noch die »Vertriebenen« aufs Spiel setzen wollten. Seitdem trommeln alle Beteiligten lauthals für ihr Vorhaben. Die Fronten sind – trotz der weitgehenden Übereinstimmung der beiden Konzepte – verhärtet: Steinbach und der BdV beharren auf dem Standort Berlin, Meckel und sein Gefolge profilieren ihren »europäischen« Ansatz gegenüber dem »nationalen« der Vertriebenen.

Die Bundesregierung hat sich mehrheitlich auf Meckels Seite geschlagen. Der Kanzler will das Zentrum »nicht in Berlin«, der Außenminister will die »Vertriebenen« aus dem Spiel nehmen, nur der Innenminister versucht verzweifelt zu vermitteln. Dabei ist die wirklich wichtige Entscheidung längst gefallen. Am 6. September 2003 hat sich das deutsche Staatsoberhaupt öffentlich zu »Vertriebenen«-Positionen bekannt und die Umsiedlung der Deutschen zum »Unrecht« erklärt. »Die Konferenzteilnehmer von Teheran, Jalta und Potsdam«, so Bundespräsident Rau beim Festakt zum letztjährigen Tag der Heimat, könnten sich nicht von der »Verantwortung« für ihr Handeln »den Deutschen« gegenüber freimachen; und um jeden Zweifel zu zerstreuen, fügte er hinzu: »Hitlers verbrecherische Politik entlastet niemanden, der furchtbares Unrecht mit furchtbarem Unrecht beantwortet hat.«