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Diskussion über das Hamburger Schanzenviertel

AutorInnen aus dem Umfeld der Roten Flora (Gastbeitrag)
Einleitung

Das Hamburger Schanzenviertel ist über die Stadtgrenzen hinaus zu einem stehenden Begriff geworden. Mit der Kernaussage: »Ein Stadtteil kippt um« wurde vor etwa einem Jahr die Hetze gegen HändlerInnen und KonsumentInnen illegalisierter Drogen medienwirksam losgetreten. Insbesondere im Rahmen des Hamburger Wahlkampfes bildete das »subjektive Unsicherheitsgefühl« der BürgerInnen einen Dauerbrenner, eingerahmt von elendsvoyeuristischen Junkiereportagen und teils offen rassistischen Klagen über das Verbrechen der Dealer, die bald unter den schwarzafrikanischen Flüchtlingen verortet und zur Bedrohung stilisiert wurden. Die BürgerInnen verlangen »ihren Stadtteil« zurück. Von Teilen wurde auch die Forderung nach weiteren Druckräumen im Viertel vertreten, vor allem um die Drogenszene von der Straße zu haben. Die Rote Flora hat Ende 1997 beschlossen, die zunehmende Nutzung der Fläche hinter dem Haus durch UserInnen und Dealer zu billigen und durch Baumaßnahmen praktisch zu unterstützen. Dieser Entscheidung ging eine intensive Diskussion über altbekannte, scheinbar unumstößliche Positionen zum Thema voraus. Seither ist einiges passiert, hat sich vieles verschärft und ist manches erstarrt. Das AIB hat AutorInnen aus dem Umfeld der Roten Flora gebeten, die Situation und die politischen Einschätzungen zu beschreiben. Dieser Artikel, den wir gekürzt abdrucken, soll auch ein Anstoß für eine breitere Diskussion zum Umgang mit den Themen »Drogenproblematik«, »Repression« und »Illegalisierung« sein. Wir sind gespannt auf Eure Reaktionen.

Bild: flickr.com; sany; CC BY-ND 2.0

»Nichts von dem, was sich hier gerade durchsetzt, ist erträglich«

Am 14. 11. 1997 wurde Alimang S. aus Sierra Leone im Hamburger Schanzen-Viertel von zwei Männern aufgehalten. Sie zwangen ihn, in ihr Auto zu steigen und brachten ihn auf ein unbeobachtetes Grundstück. Dort mußte S. aussteigen, einer der Männer stopfte ihm einen Handschuh in den Mund, dann schlugen beide auf ihn ein. Dann ließen sie ihn laufen. Alimang S. ist nur einer von vielen im Schanzenviertel, die seit Herbst 1997 von Delikten wie Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung betroffen sind. Grund für diese Entwicklung ist die »Wiederherstellung ordentlicher Verhältnisse« im Viertel. Wie S. schwarzer Hautfarbe zu sein, reicht zur Zeit, um als potentiell des Dealens Verdächtigter zum Objekt polizeilicher Maßnahmen zu werden. Die beiden Schläger sind Zivilfahnder der Hamburger Polizei. Daß für fast niemanden die Mißhandlung Anlaß war, die polizeiliche Praxis der Drogenbekämpfung wenigstens kritisch zu hinterfragen, geschweige denn, sie als das zu benennen, was sie ist - eine Kette von rassistischen Übergriffen -, zeigt, wie unhaltbar die Verhältnisse im Stadtteil sind: Haben Übergriffe auf (weiße) Autonome durch Polizisten der Wache 16 Anfang der 1990er Jahre noch für breite Empörung gesorgt und 1994 die Mißhandlung eines Schwarzafrikaners wiederum durch Beamte der 16er Wache den Polizeiskandal mit ausgelöst, ist heute Schweigen im Walde. Das mutet umso bemerkenswerter an, als in der letzten Zeit eigentlich jedeR sich berufen fühlte, etwas zur Situation im Viertel zu sagen. Demnach müßte es ziemlich schlecht um das Schanzenviertel stehen: schwarzafrikanische Dealer böten ungehindert und aggressiv Drogen an, in aller Öffentlichkeit fixende Junkies bestimmten das Bild, Kinder stolperten von einer liegengelassenen Spritze zur nächsten. Kurz, der Stadtteil kippt.

Die Fakten liegen allerdings anders. Schließlich stehen die HändlerInnen vor allem auf der Straße, weil sie Geschäfte mit DrogenkonsumentInnen erledigen wollen. Sie haben weder Interesse daran, braven BürgerInnen Kokain zu verkaufen, noch mit irgendwem Streß zu bekommen, der sehr bald die Polizei auf den Plan rufen würden. Nützt es, festzustellen, daß vermutlich Dreiviertel aller DrogenkonsumentInnen sich ihren Schuß entweder unmittelbar hinter der Roten Flora (mit ausdrücklicher Billigung des Projekts) bzw. tagsüber im Druckraum des nahegelegenen Drogenhilfeprojekts »Fixstern« setzen? Kaum jemand im Stadtteil will hören, daß trotz der etablierten Drogenszene die Zahl klassischer Delikte sogenannter Beschaffungskriminalität im Schanzenviertel etwa auf dem Niveau des Hamburger Nobelstadtteils Harvestehude liegt. Doch um Logik geht es hier schon lange nicht mehr. Wie kommt es, daß sich die Mehrheit der im Stadteil lebenden Menschen dafür entschieden zu haben scheint, ein soziales und gesellschaftliches Problem vor allem durch den Einsatz polizeilicher Repression aus dem Blick geschafft haben zu wollen? Warum schlagen die meisten im Stadtteil (z. Zt. noch nur) verbal auf die gesellschaftlich am schlechtesten gestellten Menschen ein; an zweiter Stelle auf die UserInnen, an erster auf die (oft schwarzafrikanischen) HändlerInnen?

Ausgrenzung aus »der guten Stube«

Die Fragen beantworten sich dadurch, daß das Schanzenviertel z. Zt. ein Studienfeld für die Bildung eines kleinen nationalen Kollektivs ist. Dies steht hier nicht im Widerspruch zum positiven Bezug auf ein multikulturelles Ideal. Im alternativen Wohlfühlambiente sind »erwünschte« MigrantInnen explizit einbezogen. In der gemeinsamen Allianz gegen »schwarze Dealer« finden der türkische Gemüsehändler und der deutsche Tabakladenbesitzer problemlos zusammen. Die Medieninszenierung des vermeintlich »toleranten« Viertels, das von der Drogenszene bedroht sei, hat eine neue Qualität von Identifikation mit dem Stadtteil geschaffen. Sie benötigt ein abgrenzbares Gegenüber, welches in diesem Fall durch verschiedene marginalisierte Gruppen gebildet wird. Besonders trifft dies Flüchtlinge, denen immer wieder bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden: »glücksspielende Kosovoalbaner«, »marodierende Rumänenbanden«, oder, wie eben im Schanzenviertel, »dealende Schwarzafrikaner«. Sie werden zum zweifach Fremden: Als Nicht-Deutsche, die ohnehin rassistisch wahrgenommen werden, wie auch als möglicherweise Illegale. Sei es, weil sie ohne Papiere unterwegs sind, sei es, weil sie als Dealer stigmatisiert werden. Das Wechselspiel zwischen bereits vorhandenen rassistischen und anderen ausgrenzenden Einstellungen und der medialen Inszenierung des Viertels bildet einen Legitimationszirkel. In der Zeitung steht, das Viertel kippe; weil es in der Zeitung steht, glauben es alle, das ist neuer Stoff für Reportagen.

»Repressive Toleranz«

Der Rahmen der Debatte um die Hamburger Drogenpolitik ist sehr eng abgesteckt. Bei aller Unterschiedlichkeit in den konkreten Vorstellungen gilt in der Auseinandersetzung ein unangefochtenes Dogma der sogenannten »repressiven Toleranz«. Es wird zwar mal mehr Repression oder mal mehr Toleranz gewünscht. Die Legitimität der »freundlichen« oder eben offen gewalttätigen Verdrängung von Menschen, die nicht ins Ideal des satten Wohlstands passen und aus der Verwertungslogik herausfallen, wird an keinem Punkt in Frage gestellt. Dies ist ein Ausdruck der Durchsetzung von ordnungspolitischen Konzepten, die als »Null Toleranz« in der Innenstadt beginnen und in andere Gebiete bedarfsgerecht ausgedehnt werden. In einem noch unter SPD-Alleinregierung formulierten Behördenpapier, dem sogenannten Bettlerpapier, wurde ziemlich unverblümt die »Säuberung« der Innenstadt von unliebsamen Gruppen gefordert. Nach öffentlichen Protesten zunächst zurückgezogen, wird es mittlerweile unter der Regie des grünen Senators Maier als »Handlungskonzept Hauptbahnhof« umgesetzt. Die darin vorgesehene Koordination zielgerecht eingesetzter Sozialarbeit mit polizeilichen Maßnahmen wie u.a. massiven Platzverweisen und der effektiven Zusammenarbeit mit der AusländerInnenbehörde, wird hamburgweit praktiziert. Die konkrete Ausgestaltung »repressiver Toleranz« in diesem Sinne kann dabei je nach Situation unterschiedlich ausfallen. Im Schanzenviertel etwa ist es die mediale Herstellung eines toleranten Mikrokosmos, in dem sich Ausgrenzung als linksalternativ gerieren kann. Dieses Bild entfaltet eine Integrationskraft, die unterschiedlichsten Gruppen eine Zusammenarbeit erlaubt (besorgte Eltern, Geschäftsleute, Polizei, alternativ angehauchte BürgerInneninis u.a.). Die Einheit stiftende Wirkung des immer beschworenen Bildes des eigentlich so »vielfältigen Miteinanders im Schanzenviertel« ist nicht zu unterschätzen. Entlang dieser Parole werden klare Grenzlinien gezogen, durch einen liberalen Mitleidsdiskurs legitimiert und mittels polizeilicher Repression verwirklicht. Zusätzlich leistet dies die endgültige Legitimation reaktionärer Haltungen: Dadurch, daß sogar den Alternativen die ganze Sache zu bunt wird, sieht sich jedeR andere befugt, nach weiteren Maßnahmen gegen Schwarze und Dealer zu schreien und die UserInnen mit der liberalen Forderung nach weiteren Druckräumen von der Straße zu schaffen.

Reaktionen und Aktionen

Waren zunächst die Schwarzen im Sternschanzenpark vorrangiges Ziel polizeilichen Zugriffs, sind seit vergangenem Herbst im Zuge der polizeilich erzwunge nen Verlagerung der Szene in den Bereich um die Rote Flora UserInnen im ähnlich unerträglichem Ausmaß davon betroffen. Nach anfänglicher »Untätigkeit« finden, auch auf Druck der AnwohnerInnen, seit spätestens Februar diesen Jahres tägliche Razzien im »provisorischen Druckraum« hinter der Flora und ständige Kontrollen auf der Straße statt. Mittlerweile werden auch vermehrt Obdachlose Opfer des allgegenwärtigen polizeilichen Kontrollwahns.

Das Erdrückende an der Situation besteht in ihrer Alltäglichkeit und Normalität. Genau das infragezustellen und effektiv anzugreifen, wäre die Aufgabe linker Intervention. Es ist zugleich die schwerste. Die angeblich so bedrohliche Atmosphäre im Schanzenviertel besitzt allerdings eine bedrohliche Realität: Für die Betroffenen, an denen die Polizei täglich demonstriert, daß Bürgerängste ernstgenommen werden. Darin besteht auch der qualitative Unterschied zwischen Medienhetze und Polizeipräsenz. Diese setzt um, was »öffentliche Meinung« ist, und wird entsprechend herzlich aufgenommen. Gleichzeitig macht es für die Betroffenen einen realen Unterschied, ob sie Gegenstand von Ablehnung und Vorurteilen sind, oder ob sie kontrolliert, vertrieben, in Gewahrsam genommen und zusammengeschlagen werden. Es gab immer wieder Interventionsversuche. Im Spätsommer 1997 veranstaltete ein »Bündnis gegen Rassismus, Ausgrenzung und Vertreibung« Aktionstage am Sternschanzenbahnhof. Im gleichen Sommer fanden zwei Diskussionsveranstaltungen statt. Kontinuierlich agiert ein Bündnis »Kontrolleure kontrollieren!«, das Polizisten »begleitet« und ihre Arbeit zu behindern versucht. Anfang Oktober 1997 wurde die mobile Revierwache am Schanzenbahnhof zerstört. Am 8.November 1997 fand eine Demonstration »Rechte für afrikanische Flüchtlinge in Deutschland!« statt, die von den Betroffenen der Razzien am Sternschanzenpark und antirassistischen Gruppen getragen wurde. Als letzte größere Aktion ist der Angriff auf einen Streifenwagen Mitte April 1998 zu nennen. Mit der Einrichtung eines »provisorischen Druckraums« hinter der Roten Flora wurde darauf reagiert, daß der Platz dort zum Drücken und als Treffpunkt der Drogenszene genutzt wird. Über Flugblätter und Öffentlichkeitsaktionen wurde dieser Ansatz vermittelt. Seit die Polizei auch dort massiv vorgeht, wird versucht, dort präsent zu sein und sich in die Razzien einzumischen. Inzwischen finden sie mehrmals täglich statt, und die alltägliche Notwendigkeit des Eingreifens, nicht nur hinter der Flora, sondern im ganzen Viertel, zeigt die Schwierigkeiten und Schwächen linksradikaler Politik auf. Zwar wurde in Debatten im letzten Jahr ein wichtiger Schritt vollzogen, indem, ein Novum in der autonomen Linken, die Position entwickelt wurde, daß sowohl das Konsumieren als auch das Dealen zu akzeptieren sind. Die Hetze gegen die Betroffenen transportiert ausgrenzende und aggressive gesellschaftliche Tendenzen. Die liberale Spaltung in »Junkies = arme Kranke« und »Dealer = Verbrecher« darf nicht nachvollzogen werden, da sich Konsum und Handel unter den Bedingungen der Illegalisierung nicht trennen lassen. Letztlich geht es um die Freigabe illegalisierter Drogen und die Schaffung von sozialen Bedingungen, in denen Menschen nicht mehr gezwungen sind, auf der Straße überleben zu müssen. Daraus hat sich allerdings weder eine kontinuierliche und breiter getragene Debatte, noch ein gemeinsamer Prozeß linker Gruppen ergeben. Der Widerstand besteht allzuoft aus dem gänzlich individualisierten Sicheinmischen in Kontrollsituationen, so mensch nicht mittlerweile, von der eigenen Hilflosigkeit gelähmt, verschämt vorbeigeht. Hilflosigkeit bis Desinteresse überwiegen. Dennoch ist es wichtig, die rassistische Dimension der aktuellen Atmosphäre und der Vertreibungsrealität zu begreifen und zu handeln. Die saubere Trennung des Rassismus von der Drogenpolitik, die im Schanzenviertel vollzogen wird, ignoriert, daß die Polizeikontrollen Teil rassistischer Ordnungspolitik sind. Dabei wird systematisch übersehen, daß die seit langem verbreitete Alltagswahrnehmung »Schwarzer = Dealer« ganz unbestreitbar rassistisch ist und durch die Fixierung auf die »Drogenproblematik« legitimiert wird. Dieses Konstrukt muß aufgebrochen werden. Deshalb wäre es letztlich nicht nur Ignorant, sondern auch gefährlich, den Schwerpunkt der eigenen Politik auf die aktuelle Drogendebatte zu beschränken. Nichts von dem, was sich hier gerade durchsetzt, ist erträglich. Der Frieden, der im Schanzenviertel aktuell auf Kosten der Dealer, der KonsumentInnen, der Schwarzen und der Obdachlosen hergestellt wird, bedeutet eine Niederlage linksradikaler Politik.