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Ein rassistisches Pogrom in Quedlinburg

Antifaschistische BeobachterInnen Rhein/Main
Einleitung

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Aus einem Erlebnisbericht der Antifaschistischen BeobachterInnen Rhein/Main.

Bild: Screenshot mz-web.de

Seit Montag, den 7. September 1992, wurden die 120 in der einzigen Unterkunft der Stadt untergebrachten Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien von der deutschen Bevölkerung angegriffen. Im Laufe der Woche sammelten sich vor dem völlig heruntergekommenen Haus RassistInnen und bedrohten in der inzwischen bekannten Art und Weise die Flüchtlinge. Am Donnerstag machten mutige Menschen aus Quedlinburg ihre erste Mahnwache. Am gleichen Abend demonstrierten 250 autonome AntifaschistInnen gegen Rassismus und die dortigen Zustände. Die Demonstration wurde aus dem rechten Mob heraus mit einem Moletowcocktail beworfen (laut Informationen von Polizei und Presse). Der örtliche Bürgermeister dementierte dies in einem Radiointerview und sprach davon, daß Quedlinburger Bürger linke Gruppen an ihrem Vorhaben gehindert hätten, und letztere so den Ort verlassen mußten...!

Am Freitag Abend stand eine Mahnwache von PazifistInnen unterschiedlicher Parteien und Organisationen vor der Unterkunft, ausdrücklich, um die Flüchtlinge durch ihre Anwesenheit zu schützen. Diese Mahnwache wurde dann im Laufe des Abends von der auf etwa 500 Leute angewachsenen Menge der AngreiferInnen mit Steinen und Leuchtspurgeschossen angegriffen. Während des Angriffs der zwischen anderthalb und zweieinhalb Stunden dauerte, wurden ca. 30, zum Teil schon arg verletzte PazifistInnen aufgefordert, die ausländischen Frauen aus dem Heim herauszugeben: »Wir wollen nicht, daß hier noch mehr Kanackenbrut geboren wird, wir hängen die an den nächsten Baum.« Es herrschte Lynchstimmung. Die sich schützenden, meist auf dem Boden liegenden, UnterstützerInnen der Flüchtlinge wurden aufgefordert, die Arme von den Gesichtern wegzunehmen, »damit wir wissen, wer ihr seid«. Als endlich ein Krankenwagen den »Schauplatz« erreichte, wurde der Fahrer aus dem Wagen gezogen und verprügelt, damit niemand wegfahren, geschweige denn medizinisch versorgt werden konnte. Der Einsatzleiter der Polizei erklärte dazu: »Wir können nicht jeden einzelnen Bürger schützen, der sich in Gefahr begibt.« Die persönliche Bedrohung der FlüchtlingsunterstützerInnen ging und geht im Alltag weiter. Sie werden beim Einkaufen angepöbelt, ihnen wird gedroht, oder, wie es Einem geschah, wegen "geschäftsschädigendem Verhalten" von der Arbeit entlassen. (...)

Am Samstag wurde zur antifaschistischen Demonstration mobilisiert und über den Mitteldeutschen Rundfunk wurde verbreitet, daß auch die Neonazis mobilisieren würden. 50 Meter vor der Flüchtlingsunterkunft entfernt wuchs die gaffende Menge auf ca. 250 bis 300 Personen an. Um ca. 19.30 Uhr erreichten die Menschen der Mahnwache das Haus, in dem noch ca. 30 Flüchtlinge untergebracht waren, die anderen waren auf eigene Faust geflüchtet. Als eine Reaktion auf die negativen Schlagzeilen die der Nicht-Polizeieinsatz am gestrigen Abend ausgelöst hatte, versprach die Polizei den Mahnwachenden einen Abtransport mit einem bereitgestellten LKW, »falls die Lage zu brenzlig wird«. An diesem Abend war relativ viel Polizei (ca. 200 bis 300) vor Ort. Die meisten »begleiteten« die Demonstration. (...) Wir haben die Ankunft der Demo an der Kreuzung in unmittelbarer Nähe der Unterkunft mitbekommen. Wir wissen nicht was bis dahin passiert war, wie sich die Polizei bis dahin verhalten hatte. Die Demo kam in relativ lockeren Ketten zu der Absperrung, wo sich bis zu diesem Zeitpunkt 300 RassistInnen versammelt hatten.

Die erste Durchsage des Lautsprecherwagens war eine Aufforderung an die Polizei, sich und den Wasserwerfer zurückzuziehen und die »Provokation zu unterlassen«. Dazu sei gesagt, daß der Wasserwerfer mit abgeschaltetem Motor und ohne Licht an der der Flüchtlingsunterkunft gegenüberliegenden Straßenseite geparkt war. Wir wissen natürlich nicht , ob es vorher zu Provokationen durch die Polizei gekommen war, fanden allerdings, daß die Situation vor Ort nicht unseren sonstigen Erfahrungen entsprach. (…) Für die Demonstrationsbeteiligten stellte sich die Situation sicher anders dar: Mit einem Konvoi in eine »feindliche Stadt«; die üblichen Polizeiformation drumherum; geschlossen zum Ort des Geschehens und dort die Polizeiketten und »Schaulustige«. Diese »Schaulustigen« hätten aber das Hauptangriffsziel - in Wort und Tat (?) - sein müssen, die Menge der normalen BürgerInnen, aus der heraus die beifallsunterstützten rassistischen Aktionen stattfanden. Von ihnen wurden die gehaltenen Reden mit höhnischem Lachen und entsprechenden Kommentaren verfolgt - der Gegner war eben nicht nur die Staatsmacht aus der uns üblichen Fixiertheit heraus. Der Redebeitrag bestand zu mehr als der Hälfte aus einer Aufzählung der Ereignisse der vergangenen Woche. Uns war unklar an wen sich diese Erzählung richtete: an die TeilnehmerInnen der Demonstration? Die waren deshalb dort hingefahren. An die Polizei? Die waren deshalb dort abkommandiert worden. An die umstehende Bevölkerung? Das waren Frauen und Männer, die sich in der einen oder anderen Weise an den Überfällen beteiligt hatten. Nach der Rede wurde noch versucht einige Neonazis anzugreifen. (...)

Nachbemerkung zu den Mahnwachen: Mit Transparenten »Auch ohne Ausländer bleiben die 'Probleme'«, »Keine Gewalt, reich den Flüchtlingen die Hand« ausgestattet und sich selbst in einer Märtyrerrolle erlebend, befanden sich die Mahnwachenden in der Minderheit und Defensive. Das drückte sich z.B. dann auch darin aus, daß überlegt wurde, ob die Überschrift des eigenen Flugblattes »Die dummen Argumente der Brandstifter« nicht zu aggressiv sei ... So wurde auch Furcht den DemonstrantInnen von außerhalb und selbst den Presseberichten über die Ausmaße der rassistischen Angriffe gegenüber zum Ausdruck gebracht: »Das heizt die Stimmung an und wir kriegen es ab.« Das ist natürlich politisch fatal, aber aus der Sicht der Betroffenen nachvollziehbar. Es war wohl die richtige Einschätzung, daß die Leute meinten: »Hätten wir uns beim Angriff gegen uns gewehrt, wären wir totgeschlagen worden.« Dementsprechend war die Einstellung gegenüber der organisierten Antifa-Demonstration zwar ängstlich, aber nicht ablehnend und ein besserer Kontakt zwischen »Wessis« und »Ossis« wäre wohl angebracht gewesen.