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Personenkult um Peter Singer an der TU Braunschweig ?

Einleitung

Im Wintersemester 1997/98 fand an der TU Braunschweig am Seminar für Philosophie ein Proseminar mit dem Titel »Peter Singer - sein Standpunkt und dessen Rezeption in Deutschland« statt. Bei Peter Singer handelt es sich um einen australischen Philosophen, der mit seinem Buch »Praktische Ethik« Anfang der 1980er eine neue "Euthanasie"-Debatte eingeleitet hat. Dieses Buch ist auch das einzige, das in der Literaturliste zum Seminar aufgeführt ist. Gleich in der ersten Sitzung sollte der auf Emotionen zielende Film »Zum Leiden geboren?« gezeigt werden; das Thema »Euthanasie im Dritten Reich« dagegen wurde erst am Ende des Semesters behandelt. Einige StudentInnen befürchteten, daß sich nur sehr unkritisch mit Singers Thesen auseinandergesetzt werden würde. Sie forderten, daß vor allem eine Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse stattfinden müßte, in denen es verschärft zu Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Menschen kommt, die im Produktionsprozeß nicht "verwertbar" sind. Aufgrund der Proteste gestaltete Seminarleiter Wolfgang Buschlinger das erste Treffen zu einer Diskussionsveranstaltung um, in der es um die Fortführung des Seminars ging. Das Ergebnis dieser Diskussion war jedoch, daß das Seminar trotzdem abgehalten wurde. Diskussionsleiter Roland Simon-Schäfer schlug sogar vor, Singer selbst als Referenten in die Universität einzuladen. Den »Behinderten«-VertreterInnen wurden dagegen »irrationale Ängste« vorgeworfen. Ein Großteil der Anwesenden berief sich bei ihrer Unterstützung für das Seminar auf die sogenannte »Freiheit der Wissenschaft«.

Foto: Crawford Forum; CC BY 2.0; wikimedia.org

Doch erstmal zu Peter Singer und seiner Arbeit: Er ist Gründer der Organisation "The Life You Can Save" und neben Helga Kuhse Co-Direktor am "Centre for Human Bioethics" an der "Monash University" in Melbourne (Australien) und bezieht sich in seinen Werken auf die philosophische Richtung des Utilitarismus. Obwohl schon im 18.Jahrhundert entstanden, hat der Utilitarismus in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. In der Ethik des Utilitarismus geht es darum, einen »größtmöglichen Nutzen für eine größtmögliche Zahl von Menschen« zu erreichen. Das Wohl des Einzelnen hat sich hierbei dem Allgemeinwohl unterzuordnen. In den letzten Jahren wird bei politischen Entscheidungen verstärkt mit utilitaristischen Kosten-Nutzen-Rechnungen gearbeitet. Im Jahre 1984 veröffentlichte Peter Singer das umstrittene Buch »Praktische Ethik«. Darin führt er Kriterien auf, um Menschen in zwei Kategorien einzuteilen. Er unterscheidet zwischen »Personen« und »Nicht-Personen«. Zu den Kriterien, die laut Singer eine »Person« ausmachen, gehören Rationalität, Autonomie, Selbstbewußtsein und die Fähigkeit, die Zukunft zu planen. Wenn ein Mensch diese Kriterien nicht erfüllt, sei dieser auch keine »Person« und habe damit weniger Anspruch auf ein Recht zum Leben: »Sie zu töten kann daher nicht gleichgesetzt werden mit dem Töten normaler menschlicher Wesen.« Dies gilt nach Singer beispielsweise für Menschen mit Alzheimer oder für Komapatientinnen. Auch Neugeborenen spricht er z.T. ein Lebensrecht ab. Mit Hilfe von utilitaristischen Kosten-Nutzen-Rechnungen versucht er, die »Summe des Glückes« zu ermitteln; schwerbehinderte Neugeborene werden in dieser Logik als ein Kostenfaktor gewertet. Da ja die Kriterien des »Personseins« fehlen, dürfen sie (theoretisch) getötet werden. Gesunde Neugeborene dagegen wirken positiv auf die Summe des Glücks. Nach Singers Personenkriterium können allerdings auch Neugeborene getötet werden, wenn deren Geschlecht unerwünscht ist. Dies trifft in patriarchalen Gesellschaften meist nur auf Mädchen zu.

Peter Singer ist neben seiner Befürwortung neuer Formen der "Euthanasie" auch als Tierrechtler und Autor des Buches "Animal Liberation" bekannt. Er spricht bestimmten Tieren, z.B. Schimpansen, die Eigenschaft zu, »Person« zu sein, und fordert für diese Grundrechte ein. Darüber hinaus ist Singer führendes Mitglied bei den australischen "Grünen" im Bundesstaat Victoria.

Peter Singer in Deutschland

In Deutschland erregte Peter Singer das erste Mal Aufsehen, als er auf einem Symposium der "Lebenshilfe" in Marburg reden sollte, aber aufgrund der Proteste von Behindertenbewegungen wieder ausgeladen wurde. Auch andere Vorträge Singers sind durch massive Proteste verhindert worden. Trotzdem hat die Veröffentlichung der »Praktischen Ethik« einer neuerlichen "Euthanasie"-Debatte zum Durchbruch verholfen. Die Debatte über Bioethik darf jedoch nicht nur anhand von Peter Singer geführt werden. Denn es gibt noch jede Menge anderer BioethikerInnen, die ähnliche Gedanken und Ansätze haben.

Auch die wirtschaftlichen Interessen an der Bioethik müssen analysiert werden. Es ist kaum verwunderlich, daß in Zeiten, in denen die Ausgaben für ärztliche Versorgung gekürzt werden, eine »Euthanasie-Diskussion« geführt wird. Staat und Wirtschaft kommt dieser Diskurs durchaus als Argumentationshilfe bei Kürzungen im Gesundheitsbereich gelegen. Auch die Bioethik-Konvention des Europarates ist in diesem Zusammenhang zu sehen, geht es darin doch unter anderem um die Forschung an nicht »einwilligungsfähigen Menschen« - also Menschen, die Singers Personenkriterien nur zum Teil oder gar nicht erfüllen. An diesen Menschen soll selbst dann Forschung erlaubt sein, wenn von dem getesteten Medikament keine Besserung zu erwarten ist. Forschung zum Wohl der Allgemeinheit .....

Protest in Braunschweig

Zurück zu den Protesten gegen das Singer-Seminar in Braunschweig: Der AStA der TU Braunschweig rief zu einem Boykott des Seminars auf. Gemeinsam mit KritikerInnen der Bioethik sowie AktivistInnen von »Behinderten«-Gruppen wurde eine Veranstaltungsreihe organisiert. Obwohl dabei die Diskussion und Stimmung eindeutig gegen die Fortführung des Singer-Seminars waren, betonte TU-Präsident Bernd Rebe bei einer Podiumsdiskussion, daß seiner Ansicht nach das Seminar auf jeden Fall stattfinden müßte.

Das hat es auch getan, wobei Buschlinger trotz der Proteste keine Änderungen an dem Seminarkonzept vornahm. Währenddessen wurde die Gegenveranstaltungsreihe des AStA durchgeführt. Die Vorträge - z.B. mit Oliver Tolmein und Udo Sierck - waren zum Teil sehr gut besucht. Außerdem hat sich ein außeruniversitärer »Arbeitskreis Bioethik« gegründet. In diesem Zeitraum wurden auch in der Lokalpresse und in regionalen Radiosendern mehr und mehr Stimmen gegen das Singer-Seminar laut. Im Laufe der Zeit wurde deutlich, daß die Öffentlichkeit keineswegs geschlossen für die Fortführung des Seminars ist. Insbesondere linke, liberale und auch christliche Gruppen und Einzelpersonen engagierten sich stark. Einige Menschen aus der autonomen »Behinderten«-Bewegung suchten auch die direkte Auseinandersetzung und erschienen während einer der Sitzungen des Seminars. Sie versuchten, mit den TeilnehmerInnen über den Zusammenhang zwischen alltäglicher »Behinderten«feindlichkeit und den Thesen Singers zu diskutieren. Dabei wurde jedoch deutlich, daß sich die SeminarteilnehmerInnen durch die »Behinderten« eher gestört fühlten und eine Diskussion nicht erwünscht war.

Gegen Ende des Semesters änderte Buschlinger aufgrund des öffentlichen Druckes, der auch nicht an den offiziellen Stellen der TU vorbeigegangen ist, den Seminarplan. Er sah sich gezwungen, im Seminar Texte zu verteilen und zu behandeln, die sich kritisch mit Singers Personenbegriff auseinandersetzen.

Ein Teilerfolg

Erwähnenswert ist auch das Verhalten der Hochschulleitung während des ganzen Semesters. So wurden Einladungen des AStA an die Institute zu einem Vorbereitungstreffen, auf dem der Protest gegen das Singer-Seminar hätte organisiert werden sollen, auf Anweisung der Hochschulleitung bis nach dem Treffen zurückgehalten. Ähnlich ist es mit dem »Appell wider tödliche Philosophie« gelaufen, der von der "Lebenshilfe" und der "Evangelischen Stiftung Neuerkerode" in Zusammenarbeit mit dem AStA initiiert worden ist, sowie mit einer Veranstaltungsankündigung, die beide erst nach Protesten von AStA-Mitgliedern von der Poststelle verteilt wurden. Der Appell richtete sich gegen das Stattfinden des Singer-Seminars und Singers "Euthanasie"-Thesen. Dabei wurden über zweitausend Unterschriften gesammelt, darunter auch die Unterschriften aller Braunschweiger Bundestagsabgeordneten. Die Unterschriften wurden wegen »Terminschwierigkeiten« erst nach dem Ende des Singer-Seminars an den Präsidenten der TU Braunschweig überreicht. Als es dann zu der Übergabe der Unterschriften in Anwesenheit der Presse kam, distanzierte sich TU-Präsident Rebe vom Singer-Seminar und einer von Buschlinger bei dieser Gelegenheit gemachten Äußerung, daß für ihn das menschliche Leben nicht auf jeden Fall erhaltenswert sei. Auch hat Rebe darauf hingewiesen, daß ein derartiges Seminar nicht noch einmal an der TU Braunschweig stattfinden werde - eine klare, wenn auch völlig verspätete Distanzierung von seiner anfänglichen uneingeschränkten Unterstützung des Seminars. Die Presse nahm diese Aussagen irritiert zur Kenntnis, ist doch von Rebe bis zu diesem Zeitpunkt jegliche Kritik an dem Seminar zurückgewiesen worden.

Festzuhalten bleibt, daß das Seminar zwar nicht verhindert worden ist. Den Veranstaltern des Seminars ist es jedoch nicht gelungen, ihre akademisch ummantelte Form einer menschenverachtenden Ideologie ungestört zu verbreiten. Deutlich wurde auch, daß progressive Positionen in der Studierendenschaft nicht unbedingt vorausgesetzt werden können. In derartigen Fällen ist es von Vorteil, auch die oftmals verschmähten bürgerlichen Kräfte als BündnispartnerInnen zu gewinnen.