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Wie gedenken? Migrantische Jugendliche und NS-Geschichte

Rosa Fava (Gastbeitrag)
Einleitung

»Wozu soll man die alten Nazis vor Gericht bringen, wenn man in Israel nichts macht?«, bemerkte eine Schülerin, als bei einer Führung durch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg die größtenteils sehr verspätete Strafverfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen zur Sprache kam. Je nach eigener Haltung im Nahost-Konflikt würde man ihr vielleicht antworten: »Man muss die alten Nazis vor Gericht bringen und in Israel was machen« oder »Das hat nichts miteinander zu tun, in Israel gibt es keinen Holocaust.« Man wäre entweder irritiert darüber, wie direkt die Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden, oder erschrocken über die weite Verbreitung des antisemitischen Antizionismus schon bei Jugendlichen. 

Eine Ergänzung: Die Schülerin trug ein Kopftuch und hätte arabischer Herkunft sein können. Nun werden sicherlich viele LeserInnen den Kommentar des Mädchens als einen Ausdruck von wahnhaftem islamischem Antisemitismus begreifen. Sie werden alarmiert sein über das Eindringen von Antisemitismus durch die muslimische Einwanderung und sich fragen, welche Maßnahmen man dagegen ergreifen kann. Andere wiederum werden den Antizionismus als eine herkunftskulturell bedingte verständliche Kritik an Israel verharmlosen, die nicht so gemeint sei, und außerdem anmerken, man könne Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht mit der deutschen Geschichte behaften.

Die Anderen und das Eigene

Die Realität der deutschen Einwanderungsgesellschaft und die »Erziehung nach/über/gegen Auschwitz« beziehungsweise die gedenkpolitische Diskussion werden zueinander in Beziehung gesetzt: der Fokus richtet sich dabei größtenteils auf »die Anderen« als Problem, »das Eigene« wird nicht mehr gesehen; Gleiches wird mit unterschiedlichem Maßstab gemessen – in positivem wie im negativem Sinne.

Seit einigen Jahren wird unter PädagogInnen, LehrerInnen, GeschichtsdidaktikerInnen und im erinnerungspolitischen Diskurs das Phänomen thematisiert, dass ein oft beträchtlicher Anteil der Bevölkerung nichtdeutscher Herkunft ist und somit womöglich keinen Bezug zur NS-Geschichte habe. Nicht immer geht es um so brenzlige Themen wie Antisemitismus oder Antizionismus, sondern im allgemeinen wird eher ein Desinteresse von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft am Nationalsozialismus beobachtet oder oft nur konstatiert.

Daher werden Mittel gesucht, den EinwanderInnen und ihren Nachkommen1 die als fremd postulierte Geschichte nahe zu bringen. Ein typisches Beispiel für diese Sichtweise liefert der durch sein Buch »Opa war kein Nazi« bekannt gewordene Harald Welzer. Er spricht sich zunächst generell für den Vergleich von Nationalsozialismus und Holocaust mit »genozidalen Prozessen in anderen Gesellschaften und zu anderen Zeiten« aus und führt als ein Argument an, es hätten dann: »auch die vielen Migrantenkinder einen besseren Bezugspunkt zum Sinn der Behandlung des Themas, als wenn es immer nur um eine Geschichte geht, die sie mit Recht nicht für die ihre halten.«2
Nichtmigrantenkinder, so die impliziten Annahmen, würden die NS-Geschichte als die ihre annehmen und in der Beschäftigung damit einen Sinn sehen. Vergessen sind dann plötzlich Jahrzehnte alte Klagen darüber, dass Schülerinnen und Schüler nur noch mit einem »Nicht schon wieder!« auf die Ankündigung von LehrerInnen reagieren, jetzt den Nationalsozialismus »Durchzunehmen«. Vergessen sind Welzers eigene Forschungsergebnisse, dass gerade die EnkelInnen das Mitläufertum ihrer Großeltern zum heldenhaften Widerstand umdeuten – eher eine Art, die NS-Geschichte verschwinden zu lassen, denn sie als eigene anzunehmen.

Erfahrungen aus der Praxis

Neben eher theoretischer Reflexionen – was bedeutet es für die nationale Identität, wenn das kommunikative Gedächtnis eines Teils der Bevölkerung einerseits (angeblich) keine Anknüpfungspunkte zur deutschen Geschichtserzählung aufweist und andererseits seine spezifischen Inhalte im nationalen Narrativ nicht repräsentiert werden – wird die Diskussion auf empirischer Ebene geführt. Es gibt zahllose Beispiele aus der Praxis an Schulen und Gedenkstätten und manchmal aus der Erwachsenenbildung, mit denen sich die jeweils eigene Perspektive auf das »Problem« belegen lässt: »ausländische« Jungs, die sich abwenden, wenn sie mitbekommen, dass keine Türken/Portugiesen/etc. im Konzentrationslager waren; Jugendliche die feststellen: »dann waren die Nazis damals mehr gegen Juden, heute mehr gegen Ausländer«; Mädchen aus Afghanistan, die das Schicksal jüdischer Kinder erforschen usw.

Als bisher einzige systematische Studie liegt die Arbeit Viola Georgi vor.3 Georgi führte mit Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft Gespräche, die als narrative, episodische biografische Interviews angelegt waren. Sie stellte bei den Jugendlichen eine sehr intensive Beschäftigung, aktive Aneignung und persönliche Auseinandersetzung fest und im Gegensatz zu verbreiteten Annahmen spielte dabei die jeweilige Herkunft bzw. eine spezifische kulturelle Prägung eine untergeordnete Rolle: »Nur in ganz wenigen Fällen zeichnete sich eine national-kulturelle oder auch gruppenbezogene Spezifik im Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ab. In der Regel zeigten sich die national-kulturellen Merkmale als von anderen überlagert ...«4 Und weiter: »(Es) erwies sich die Kategorie der Zugehörigkeit als Schlüsselkategorie.«5 An anderer Stelle: »Ausschlaggebend ist ... die Fremdzuschreibung ‚Ausländer’ und der häufig damit einhergehende Zwang, seine Identität in der Marginalität ausbilden zu müssen. (...) Wer ‚richtiger’ Deutscher sein will, der muss sich auf irgendeine Weise mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust befassen.«6

Letzteres könnte wie eine bewusste instrumentelle Herangehensweise wirken, liest sich aber beispielsweise wie folgt: »... gerade weil wir hier leben, und als Ausländer musst du dich doch auch irgendwo mit der ganzen Sache auseinandersetzen ..., da wir einen Bezug zu Deutschland ja auch haben. Und genau so, wie ein Deutscher über seine Geschichte Bescheid wissen müsste. In dem Moment, wo wir hier leben, ist das ja auch ein Teil von unserer Geschichte, und darum ist es auch wichtig, meiner Meinung nach, sich darüber klar zu werden, was passiert ist, wie es dazu kam, die Umstände und dass es genauso gut auch anderswo passieren könnte.«7

Unterschiedliche Aneignungsweisen

Georgi erkennt in den Interviews mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft vier typische Aneignungsweisen: Jugendliche, die sich aufgrund eigener Ausgrenzungserfahrungen mit den jüdischen Opfern identifizieren (»Die waren deutsche Juden und wurden nicht als Deutsche akzeptiert, genau wie bei den Ausländern heute«); Jugendliche, die den Holocaust mit anderen staatlichen Verfolgungen von Minderheiten vergleichen und auch gleichsetzen (»Und was früher mit Deutschland passiert ist, ist fast gleich wie heute mit den Kurden«);8 andere, die sich mit der deutschen Bevölkerung identifizieren (»Also, was mal fehlt, ist zu erwähnen, dass es auch Deutsche gab, die nicht so waren«), und wieder andere, die den Nationalsozialismus unter universalistischen Fragestellungen betrachten (»Weil es in anderen Ländern ja auch möglich ist«).

Als besonders problematisch gelten die oft gleichsetzenden Vergleiche mit anderen staatlichen Verbrechen oder Massentötungen; dies als Relativierung des Holocaust wahrzunehmen, wirkt in einer Gesellschaft, die in Serbien wie Rudolf Scharping 1999 »die Fratze der eigenen Geschichte« erblickte, jedoch scheinheilig. Ansonsten zeigt sich, dass die Art und Weise der Bezugnahme auf den Nationalsozialismus sich zwischen Jugendlichen wenig unterscheidet: All die zitierten Aussagen könnten auch Jugendliche deutscher Herkunft tätigen – sie können zwar nicht sagen, »Ich versteh’ schon was, weil ich weiß, was Leiden heißt« und von der Ermordung ihres kurdischen Onkels in der Türkei berichten. Aber sich mit dem Leiden von Kurden oder bosnischen Musliminnen identifizieren und den jeweiligen Konflikt nach dem Schema der nationalsozialistischen Judenverfolgung deuten, können und tun sie.

Direkte Traditionsübernahmen à la »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« seitens Jugendlicher nichtdeutscher Herkunft werden bisher nicht berichtet, jedoch positive Bezugnahmen auf die Ermordung der Juden und Jüdinnen. Last but not least gibt es politische Jugendliche mit explizit antifaschistischen Positionen zum Nationalsozialismus und seine Nachfolgesellschaften und zu guter Letzt welche, die sich so wenig dafür interessieren, wie Deutsche ohne Migrationshintergrund auch.

Nun sollte Ungleiches nicht gleich behandelt werden: wer seine Familie in einem der arabisch-israelischen Kriege verloren hat, versteht mit seinen/ihren Gleichsetzungen den Holocaust auf andere Weise falsch als jemand, dessen/deren Vorfahren SS-Mann und Frauenschaftsleiterin waren und jetzt in »den Palästinensern« die Opfer der Opfer sieht. Oder als jemand, dessen/deren Vorfahren als KommunistInnen ermordet wurden. Die Deutschen ohne deutsche Herkunft sind mindestens so verschieden wie diejenigen mit deutscher Herkunft und ihre Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus lassen sich nicht entlang der Kategorien von ethnischen Identitäten und Erinnerungskulturen von den deutschen Zugangsweisen abgrenzen. 

Die Autorin ist Lehrerin und freie Mitarbeiterin im museumspädagogischen Bereich der KZ Gedenkstätte Neuengamme.

  • 1Es geht fast ausschließlich um Jugendliche und junge Erwachsene, da andere nicht institutionell fassbar sind.
  • 2Harald Welzer, »Ach Opa!« Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Tradierung und Aufklärung
    in: Wolfgang Meseth/ Matthias Proske/ Frank-Olaf Radtke (Hg.)
    Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts
    Frankfurt/New York 2004
    S. 49–64, hier S. 62.
  • 3Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003. »Entliehene Erinnerung« ist eine Abwandlung des »entliehenen Gedächtnisses« (Maurice Halbwachs); eine Figur, mit der benannt wird, dass die Individuen eines jeden Kollektivs sich an Dinge »erinnern«, die vor ihrer Geburt stattgefunden haben.
  • 4Ebd., S. 125.
  • 5Ebd., S. 299.
  • 6Viola Georgi
    Wem gehört die deutsche Geschichte? Bikulturelle Jugendliche und die Geschichte des Nationalsozialismus
    in: Bernd Fechler/ Gottfried Kößler/ Till Liebertz-Groß (Hg.)
    »Erziehung nach Auschwitz« in der multikulturellen Gesellschaft
    Weinheim und München 2000
    S. 141–162, hier S. 161.
  • 7Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 251.
  • 8Zu dieser Gruppe zählt Georgi auch Jugendliche wie ein Mädchen polnisch-jüdischer Herkunft und einen Jungen, dessen Großeltern in Serbien PartisanInnen waren. Sie sieht in ihnen trotz enger »familienbiographischer Verstrickungen« (S. 309) Migranten und Migrantinnen, die sich eine ihnen äußerliche deutsche Geschichte aneignen.