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Zwischen Wolfsschanze und Weltsicherheitsrat

Einleitung

60 Jahre »20. Juli«: Einige Beobachtungen zu aktuellen geschichtspolitischen Diskursen

Foto:Bundesarchiv, Bild 146-1972-025-12/CC BY-SA 3.0

Hitler-Attentat am 20. Juli 1944. Führerhauptquartier "Wolfsschanze" bei Rastenburg: Inneres der zerstörten "Lager-Baracke"

Am 20. Juli 1944 explodierte im ostpreußischen »Führerhauptquartier« Wolfsschanze gegen 12.42 Uhr eine von Oberst Claus Schenk von Stauffenberg deponierte Bombe. Das Ziel, Adolf Hitler zu töten und das NS-Regime zu stürzen, schlug jedoch fehl. Stauffenberg sowie mehrere hundert vermeintliche Mitverschwörer wurden während der folgenden Wochen festgenommen und hingerichtet. Seit den frühen 1950er Jahren avancierte der 20. Juli zu einem der zentralen Gedenktage der Bundesrepublik.

Die öffentliche Erinnerung an das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 begann letztes Jahr bereits im Februar. Fünf Monate vor dem eigentlichen Gedenktag sendete die ARD den aufwändig produzierten Fernsehfilm »Stauffenberg«. Beinahe gleichzeitig startete im ZDF eine mehrteilige Dokumentation mit dem Titel »Sie wollten Hitler töten«, in der Guido Knopp und die Mitarbeiter seiner »Redaktion Zeitgeschichte« neben anderen Protagonisten des Widerstandes gegen das NS-Regime auch die Verschwörer des 20. Juli porträtierten. Im Juni folgte das ebenfalls im Auftrag des ZDF produzierte Doku-Drama »Die Stunde der Offiziere«. Die ARD legte nach und präsentierte in den Tagen unmittelbar vor dem 20. Juli die dreiteilige Dokumentation »Offiziere gegen Hitler«.

Dem militärischen Widerstand im Allgemeinen sowie dem Bombenanschlag auf Hitler im Besonderen widmeten sich jedoch nicht nur diverse Fernsehproduktionen. Seit Anfang des Jahres bogen sich die Regale in den Buchhandlungen förmlich unter einer Flut von Publikationen zum 20. Juli. Diese Medienoffensive fand durchaus ihr Publikum. So verkaufte sich Knopps Begleitband zu »Sie wollten Hitler töten« wieder einmal glänzend, während es der »Stauffenberg«-Film der ARD auf eine Einschaltquote von fast 23 Prozent gebracht hatte.

»Differenzierte Heroisierung«

Inhaltlich waren die meisten Beiträge von den Bemühungen um eine »differenzierte Heroisierung« der Akteure des 20. Juli gekennzeichnet. Wurden in früheren Darstellungen Stauffenberg und seine Mitverschwörer als schillernde, von Beginn an dem Nationalsozialismus feindselig gegenüberstehende Ikonen des Widerstandes verklärt, flossen in die aktuellen Produktionen nun Erkenntnisse historischer Forschungen ein, die zwar im Grunde seit langem bekannt waren, in der offiziellen Erinnerung an die »Männer des 20. Juli« jedoch kaum Erwähnung gefunden hatten. Die Beobachtung etwa, dass zahlreiche Verschwörer über lange Zeit hinweg begeistert den Nationalsozialismus unterstützt hatten und auch zum Zeitpunkt des Attentats gesellschaftspolitische Vorstellungen vertraten, die in höchstem Maße autoritär, elitär und antidemokratisch waren. Ebensowenig ließ sich die nochmals durch neuere Studien unterstrichene Feststellung leugnen, dass einige der am Anschlag auf Hitler beteiligten Offiziere dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht in der Sowjetunion grundsätzlich durchaus positiv gegenüberstanden. Selbst Guido Knopp kam in seinen Produktionen nicht umhin, diese historischen Makel auf den Uniformen von Stauffenberg, Tresckow und anderen zu einzuräumen.

Die Bemühungen, die Attentäter des 20. Juli zu Identifikationsfiguren zu stilisieren, wurden dadurch jedoch nicht in Frage gestellt. Nunmehr lässt sich die Geschichte der Verschwörer nach der Dramaturgie einer religiösen Erweckungsgeschichte erzählen: Demnach paktieren die Protagonisten des Attentats zunächst mit dem Bösen, erkennen allmählich dessen Verbrechen, versuchen das Böse aus der Welt zu schaffen, scheitern, sterben dabei den Märtyrer-Tod, hinterlassen aber das Vermächtnis, es habe so etwas wie ein »anderes« oder gar »heiliges« (Stauffenberg) Deutschland gegeben.

In diesem nationalen Identitätsnarrativ spiegeln sich einige der geschichtspolitischen Kontroversen der vergangenen zehn Jahre. In Folge der beiden »Wehrmachtsausstellungen« des Hamburger Instituts für Sozialforschung schien es für seriöse Produzenten und Autoren kaum mehr möglich zu sein, die Rolle der Wehrmacht und ihrer Offiziere im Vernichtungskrieg zu unterschlagen. Andererseits wurden gerade in den medialen Produktionen zum 20. Juli auch gegenläufige Tendenzen sichtbar. Vor dem Hintergrund des unwiderruflich zerstörten Mythos einer »sauberen« Wehrmacht, sowie den Studien etwa von Christopher Browning, Daniel Goldhagen oder Robert Gellately, die drastisch die massenhafte Beteiligung der »ordinary germans« (Goldhagen) an den nationalsozialistischen Verbrechen dokumentierten, fungiert die Überhöhung des militärischen Widerstandes gegen Hitler als einer der zentralen Fluchtpunkte für die Konstitution identitätsstiftender Geschichtsbilder.

Diesem Anliegen fühlt sich ZDF-Historiker Knopp schon seit annähernd 20 Jahren verpflichtet. Und so mag es kaum verwundern, wenn Ulrich Lenze, Produzent des ZDF-Doku-Dramas »Die Stunde der Offiziere«, ganz in diesem Sinne konstatiert, »dass fast 60 Jahre nach Auschwitz, 15 Jahre nach dem Ende des SED-Regimes und eine allgemein als unsicher und orientierungslos empfundene Zukunft vor Augen, eine offenbar kollektive deutsche Suche nach hellen, identifikationsfähigen Momenten und Figuren der eigenen Geschichte eingesetzt hat«, um daran anschließend festzustellen: »Heldengeschichten sind plötzlich auch hierzulande hoffähig.«1

Die Instrumentalisierung des 20. Juli – einige historische Etappen

Die Verklärungen des 20. Juli stellen freilich keine neuen Phänomene dar. Wirklich »neu« war bestenfalls der immense mediale Hype, der in diesem Jahr rund um das Datum entstand. Bis dahin konnte der 20. Juli als Gedenktag gelten, an dem sich zwar regelmäßig geschichts- und erinnerungspolitische Kontroversen entzündeten, der aber seit den frühen 1950er Jahren in erster Linie von den politischen Eliten in der alten Bundesrepublik durchgesetzt worden war. Die bundesdeutsche Bevölkerung stand den Verschwörern des 20. Juli lange Zeit distanziert bis ablehnend gegenüber. Umfragen zufolge, wollten im Jahr 1951 nicht einmal 40 Prozent der Deutschen das Attentat auf Hitler gutheißen. Annähernd 30 Prozent missbilligten den Anschlag sogar ausdrücklich. Unter den Angehörigen der 1955 gegründeten Bundeswehr fiel die Ablehnung noch drastischer aus. Über 50 Prozent der Berufssoldaten bezeichneten den Umsturzversuch als »Verrat«. Eine Auffassung, die noch bis in die 1960er Jahre ca. 25 Prozent der Deutschen teilten. Insofern taugte der 20. Juli angesichts einer Bevölkerung, in der über Jahrzehnte hinweg volksgemeinschaftliche Einstellungsmuster weithin verbreitet waren, nur bedingt als konsensfähiger Gründungsmythos eines »anderen«, »demokratischen« Deutschlands.

Dennoch gab es in der alten Bundesrepublik keinen anderen Gedenktag, der derart mit gegenwartsbezogenen Deutungen überfrachtet war und zur ideologisch-historischen Legitimierung tagespolitischer Erwägungen herangezogen wurde, wie der 20. Juli. »Mit den Nöten der Gegenwart veränderten sich die Fragen an die Geschichte, wurden diese auf jene bezogen und umgekehrt.«2 In zahllosen Gedenkreden avancierten Stauffenberg und seine Kameraden, zumal während des sich zuspitzenden Kalten Krieges, zu Kronzeugen der freiheitlich-demokratischen antitotalitären bundesdeutschen Staatsdoktrin. In diesem Sinne wurde etwa der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 ebenso in die Tradition des 20. Juli gerückt, wie gut zwei Jahrzehnte später die staatlichen Maßnahmen im Kontext der Terrorismusbekämpfung. Darüber hinaus bedeutete die starke Konzentration der offiziellen Erinnerungspolitik auf den 20. Juli und seine Protagonisten eine jahrzehntelange – bewusst in Kauf genommene – Missachtung der Widerstandsgeschichte anderer gesellschaftlicher und politischer Spektren. Eine Feststellung, die in besonderem Maße für die Erinnerung an den kommunistischen Widerstand zutraf und bis in die 1980er Jahre in der Bundesrepublik marginalisiert blieb.

Aber auch in der DDR bzw. der SBZ war der geschichtspolitische Umgang mit dem 20. Juli von ideologischen und gegenwartsbezogenen Erwägungen geprägt. Wurden die Attentäter des 20. Juli und die nationalkonservativen Widerstandskreise im Rahmen größerer antifaschistischer Kundgebungen in den Jahren 1945/1946 noch durchaus wohlwollend erwähnt (bei einer Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer des Faschismus im Berliner Lustgarten am 22. September 1946 durfte sogar Gräfin Yorck von Wartenburg als Vertreterin des konservativen Kreisauer Kreises sprechen), änderte sich dies jedoch mit der zunehmenden Stalinisierung der SBZ seit dem Ende der 1940er Jahre. Die sich verschärfende Blockkonfrontation förderte auch hier polarisierte geschichtspolitische Deutungen. Wäh­rend der (kommunistische) Arbeiterwiderstand gegen das NS-Regime ideologisch überhöht wurde, galt der 20. Juli nunmehr in der DDR-offiziellen Rhetorik als »Palastrevolution«, die lediglich darauf aus gewesen sei »der Nazihydra den Kopf abzuhacken, ohne sie zu töten.«3

Erst nach einer Phase relativer deutsch-deutscher Entspannung seit Mitte der 1960er Jahre fanden einige Protagonisten des 20. Juli – vor allem Stauffenberg – in der Erinnerungspolitik der DDR wieder vorsichtige Erwähnung. Im Vorfeld des 20. Juli 1984 (dem 40. Jahrestag des Attentats) war man gar um die Integration Stauffenbergs in die Traditionsbestände der DDR bemüht.

Die Auseinandersetzungen darüber, wem der 20. Juli »gehöre« und welche Personen bzw. Widerstandsgruppen an jenem Tage staatsoffiziell geehrt werden sollten, setzten sich auch nach der Wiedervereinigung fort. Die Kontroversen in der »Ära Kohl« folgten dabei im Wesentlichen den Konfliktlinien, die schon für die geschichtspolitischen Debatten der vorangegangenen Jahrzehnte kennzeichnend gewesen waren und kreisten vor allem um die Rolle des kommunistischen Widerstandes.

So entzündeten sich die Diskussionen vor allem zum 50. Jahrestag des Attentats (1994) an einer Dokumentation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, die an das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) und den Bund Deutscher Offiziere (BDO) erinnerte. Beide Gruppen waren von Wehrmachtsangehörigen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft so­wie deutschen Kommunisten im Moskauer Exil – u.a. Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht – gegründet worden, um auf Seiten der Roten Armee den Kampf gegen das NS-Regime zu unterstützen. Der ehemalige CSU-Abgeordnete Franz Ludwig Graf Schenk von Stauffenberg (der Sohn Claus Schenk Graf von Stauffenbergs) forderte vehement, die Dokumentation aus der Gedenkstätte zu entfernen.

Unterstützung erhielt Stauffenberg von prominenter Seite: Neben zahlreichen konservativen Publizisten, Historikern, Wehrmachtsveteranen und Angehörigen der Bundeswehr meldete sich auch der damalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) zu Wort, indem er apodiktisch feststellte: »Menschen, die ein Unrechtsregime nur durch ein anderes ersetzt haben« verdienten es nicht, »an gleicher Stelle und in gleichem Atemzug mit Persönlichkeiten wie Graf von Stauffenberg, Goerdeler und Leuschner geehrt zu werden«. Letztendlich blieb die umstrittene Dokumentation zwar unverändert, die Kontroversen um die Erinnerung an das NKFD bzw. den BDO verdeutlichten jedoch die ungebrochene Virulenz antikommunistischer Argumentationsmuster während der 1990er Jahre.

»Generationswechsel im Leben unserer Nation«

Nach dem Ende der »Ära Kohl« sind jedoch hinsichtlich des offiziellen Gedenkens an den 20. Juli einschneidende Paradigmenwechsel festzustellen. Für die geschichtspolitischen Dis­kurse unter rot-grüner Hegemonie spielen die noch von der Blockkonfrontation geprägten ideologischen Konfliktfelder der 1990er Jahre keine entscheidende Rolle mehr. Spätestens mit dem Regierungswechsel im Jahr 1998 habe sich, so Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein »Generationswechsel im Leben unserer Nation« vollzogen. Wurde bis ans Ende der »Ära Kohl« nicht zuletzt auf dem Schlachtfeld der Geschichtspolitik der weltanschauliche, gewissermaßen anachronistisch gewordene Kampf zwischen »Freiheit und Sozialismus« ausgetragen, geht es nun darum, das Projekt einer »demokratisch geläuterten«, aber nach Weltgeltung strebenden Nation historisch zu fundieren und ideologisch zu legitimieren. Bereits in seiner Regierungserklärung vom November 1998 forderte Schröder für die Bundesrepublik »das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss, die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft sich damit auseinander zusetzen, doch nach vorne blickt.«4

Der 20. Juli avancierte seither zu einem Tag, an dem »das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation« im wahrsten Sinne des Wortes »mit Pauken und Trompeten« zelebriert wird. Markanteste Beispiele hierfür stellen zweifellos die mit großem Aufwand begangenen und polizeilich geschützten öffentlichen Rekrutengelöbnisse dar, die seit 1999 regelmäßig im Hof des Bendlerblocks, dem Ort der Hinrichtung Stauffenbergs, stattfinden. Die Attentäter des 20. Juli fungieren, wie auch schon in der Vergangenheit, als die historischen Bezugspersonen einer sich nunmehr neu strukturierenden Bundeswehr.

Die Betonung dieser Traditionslinien hat an Bedeutung gewonnen, seit sich Deutschland verstärkt an »out of area«-Einsätzen weit jenseits der eigenen Grenzen beteiligt. Insofern wirkte es geradezu paradigmatisch, dass das erste öffentliche Rekrutengelöbnis im Bendlerblock am 20. Juli 1999 nur wenige Monate nach Beginn des maßgeblich von Deutschland forcierten Kosovo-Krieges inszeniert wurde. Für die Konstruktion einer geschichtlichen Kontinuitätslinie von der Gruppe um Stauffenberg hin zur neuen deutschen Militärstrategie ist die Behauptung zentral, heute wie damals gehe es darum, die »Herrschaft des Rechts« zu verteidigen oder wiederherzustellen.

So führte Verteidigungsminister Struck in seiner Rede zum Jahrestag des Attentats im Juli 2003 aus, der 20. Juli sei »auch eine Mahnung an uns, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung nach innen […], aber auch Verantwortung nach außen […] Vor diesem Hintergrund leisten die internationalen Einsätze der Bundeswehr […] einen wertvollen Beitrag, immer mehr Menschen immer mehr Frieden und Stabilität zu ermöglichen. Die Streitkräfte stehen mit diesen Worten vor allem auch in der Tradition des militärischen Widerstandes.«5

Der 20. Juli als »europäisches Vermächtnis«?

Auf dem Weg zu neuer Weltgeltung verfolgt die deutsche Außenpolitik eine multilaterale »europäische«, mithin gegen die USA gerichtete Strategie, was sich nicht zuletzt im Kontext des Irak-Krieges zeigte. Weniger Beachtung finden bislang dagegen die von deutscher Seite vorangetriebenen Versuche, einen europäischen Machtblock (mit den Hegemonialstaaten Deutschland und Frankreich) nicht nur diplomatisch, militärisch und ökonomisch, sondern auch geschichts- und erinnerungspolitisch  zu fundieren.

Als einigendes Band dieser Form des Nationbuildings fungiert die Interpretation der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte kollektiv erfahrenen Leids, aber auch des in der europäischen Einigung gipfelnden gemeinsamen Strebens nach Befreiung. Innerhalb dieses teleologischen Deutungsmusters kommt aus deutscher Perspektive der Erinnerung an den 20. Juli eine zentrale Bedeutung zu, wird das gescheiterte Attentat auf Hitler neben der friedlichen Revolution in der DDR doch zu einem der bedeutendsten deutschen Beiträge auf dem Weg zu einem »freiheitlichen« gesamteuropäischen Bewusstsein hochstilisiert.

Vor allem im vergangenen Jahr war man daher bemüht, die Verschwörer des 20. Juli in einen europäischen Kontext zu rücken. Das offizielle Ge­denken zum 60. Jahrestag des Attentates sollte nicht als isoliertes, rein »deutsches« Ereignis begangen werden, sondern in einer Reihe mit den Gedenkveranstaltungen anlässlich des »D-Days« sowie des »Warschauer Aufstandes« stehen. So betonte Kulturstaatsministerin Weiss in ihrer Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung »20. Juli 1944 – Vermächtnis und Erinnerung« am 19. Juli in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand: »Der Sieg von Freiheit und Recht – dieses Ziel verband den deutschen Widerstand mit den Résistance-Kämpfern in den besetzten europäischen Ländern und darüber hinaus mit dem Widerstand gegen alle europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts«. Mit der seit Mai 2004 erweiterten Europäischen Union sei nun endlich auch »eine der Visionen des deutschen Widerstandes« verwirklicht worden.6

Besonders deutlich wurden die Bemühungen um die Konstruktion eines »europäischen Gedächtnisses« nicht zuletzt in den Reden, die Gerhard Schröder im Rahmen der Gedenkveranstaltungen in Caen (D-Day), in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand sowie in Warschau hielt. Auch Schröder schlug den Bogen von den Verschwörern des 20. Juli hin zu den Angehörigen der polnischen Heimatarmee und anderer Widerstandsgruppen, deren gemeinsames Ziel ein freies Europa gewesen sei: »Europa hat heute guten Grund, diese beiden Daten – den 20. Juli und den 1. Au­gust 1944 [Jahrestag des Warschauer Aufstandes] – als flammendes Zeichen auf dem Weg zu einer wahren europäischen Wertegemeinschaft zu verstehen und in Ehren zu halten. Erst heute, 60 Jahre später, können wir dieses europäische Vermächtnis des Widerstandes vollenden.«7

Diese im In- und Ausland überwiegend positiv kommentierten Deutungsangebote des Bundeskanzlers erweisen sich freilich in vielfacher Hinsicht als höchst problematisch. So entspricht die Verortung der Verschwörer des 20. Juli als Teil einer gesamteuropäischen Widerstandsbewegung ebenso wenig den historischen Fakten wie die Behauptung, Stauffenberg und seine Kameraden seien Vordenker der Europäischen Union gewesen. Wesentlich bedenklicher ist allerdings, dass die Versuche, eine gemeinsame europäische Identität auf der Grundlage kollektiver Leidenserfahrungen zu konstruieren, sich nahtlos in die neueren deutschen Opferdiskurse um Bombenkrieg, Flucht, Vertreibung und Kriegsgefangenschaft einfügen. Zwar vergaß Schröder in keiner seiner Reden darauf hinzuweisen, dass Krieg und Terror vom nationalsozialistischen Deutschland ausgingen, die Folgen der Gewalt seien jedoch für alle gleich gewesen: »Deutsche Soldaten fielen, weil sie in einen mörderischen Feldzug zur Unter­drückung Europas geschickt wurden. Doch in ihrem Tod waren alle Soldaten über die Fronten hinweg verbunden […]«8

Das »Ende der Nachkriegszeit«

Im Kontext dieser »Anthropologisierung des Leids« (Dan Diner) vollzieht sich somit – aller europäischen Rhetorik zum Trotz – eine Re-Nationalisierung deutscher Erinnerungsdiskurse. Die Feststellung, dass sich Schröder bei seinen Auftritten in Frankreich und Polen gegen offen revisionistische Forderungen wandte, steht dazu nicht im Widerspruch, sondern verweist vielmehr auf den kühl berechnenden Pragmatismus rot-grüner Geschichtspolitik. In der Normandie verzichtete der Bundeskanzler auf den Besuch eines deutschen Soldatenfriedhofs, peinlich darum bemüht ein zweites »Bitburg« zu vermeiden. In Warschau erteilte Schröder den Plänen für die Errichtung des nationalen »Zentrums gegen Vertreibungen« eine deutliche Absage. Den Bemühungen, zum einen die deutsche Geschichte, zum anderen Deutschlands gegenwärtige Rolle in der Welt zu »normalisieren« tun diese Distanzierungen freilich keinen Abbruch.

Besonders im vergangenen Sommer war das Ineinandergreifen von Geschichts- und Außenpolitik deutlich zu erkennen. Während in der Normandie der Bundeskanzler im Kreise der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges selbstbewusst das »Ende der Nachkriegszeit«9 verkündete, verschärfte Außenminister Fischer die deutsche Forderung nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Unabhängig davon, ob es Deutschland letztendlich gelingen wird, diesen Anspruch durchzusetzen, erwies sich der rot-grüne Weg hin zu einer »Normalisierung« deutscher Zustände im »Gedenksommer« 2004 als relativ erfolgreich. Eine Feststellung, die hin­sichtlich des »Supergedenkjahrs« 2005 nichts Gutes erwarten lässt.

  • 1Ulrich Lenze: Wie wir den 20. Juli 1944 heute erzählen können, in: www.zdf.de (28.06.2004).
  • 2Vgl. Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die national­sozialistische Vergangenheit, Frankfurt/M. 1999, S. 256.
  • 3So das SED-Organ »Einheit« vom Dezember 1947; zit nach Reichel, S. 267.
  • 4Zitate nach: Cornelia Siebeck: Inszenierung von Geschichte in der »Berliner Republik«. Der Umgang mit dem historisch symbolischen Raum zwischen Reichstagsgebäude und Schlossplatz nach 1989, in: Werkstatt Geschichte 33 (2002), S. 45-58, hier S. 50.
  • 5Peter Struck: Aufstand und Aufschrei zugleich, Gedenkrede am 20. Juli 2003 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin.
  • 6Christina Weiss: Gottesfurcht statt Selbstvergottung, Rede am 19. Juli 2004 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin.
  • 7Gerhard Schröder: Das europäische Vermächtnis des Widerstands, Rede am 20. Juli 2004 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin.
  • 8Gerhard Schröder: Rede bei den deutsch-französischen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des D-Day in Caen am 6. Juni 2004.
  • 9Zit. nach SZ vom 4.6.2004.