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Tschüss und auf nimmer Wiedersehen!

Ermittlungsausschuss Dresden (Gastbeitrag)
Einleitung

Johannes D. sagte zwölf Tage vor dem Oberlandesgericht (OLG) Dresden gegen seine ehemaligen Genoss*innen aus. Der Lohn dafür war ein mildes Urteil vor dem Landgericht Meiningen am 27. Februar 2023.1

  • 1J.D: wurde zu einer Haftstrafe von 1,5 Jahren auf Bewährung und einer Zahlung von 1.500 Euro an die Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ verurteilt.
Antifas zeigen in einem Gruppenfoto Solidarität
(Foto: Twitter @wirsindalleLinx)

Solidaritätsbekundung für kriminalisierte Antifaschist*innen aus Freiburg.

Im folgenden Text geben wir1
einen Überblick über die Aussagen von D.2
, versuchen eine Einordnung und enden mit Überlegungen zu kollektiver Verantwortung und patriarchaler Gewalt.

Die Aussagen

Im März 2022 wurde Johannes D. vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Warschau angesprochen und ihm das Angebot unterbreitet, ihn an das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen als Zeuge zu vermitteln. Die Entscheidung ging fix: Nach nur zwei Tagen traf er sich wieder mit dem BfV und besprach die weitere Zusammenarbeit.

Ausschlaggebend für seine Entscheidung war, dass er keinen Weg „zurück“ gesehen habe und ihm die Situation mit der linken Szene absolut verfahren erschien. Die Ursachen dafür bezeichnet er als Meinungsverschiedenheiten. In seiner Deutung gab es unterschiedliche Sichtweisen auf ein mehr oder minder triviales Problem, das er ausdiskutiert hätte, wenn jemand mit ihm geredet hätte. Da das niemand tat, habe er auch keinen Grund gesehen, seinerseits auf die Szene zuzugehen.

Das ist natürlich absoluter Unfug, den wir ihm so nicht abkaufen. Um sich als Opfer darstellen zu können, blendet D. die Ursachen konsequent aus. Weder die sexualisierte Gewalt, die er ausübte, noch die Versuche einer Auseinandersetzung kommen in seiner Version der Geschichte vor.

Bis Ende April 2022 traf sich das BfV sechsmal mit D. und tastete seine Eignung zum Kronzeugen ab: Wieviel Wissen hatte er? Eignete er sich generell für den Zeugenschutz? Im April wurde D. von seiner Arbeitsstelle in einem Kindergarten wegen anonymer elterlicher Beschwerden gekündigt. In seinen Erklärungen dazu hieß es, die Kündigung sei die Schuld derjenigen, die ihn geoutet hätten. Im Internet sei sein Name jetzt mit Vergewaltigungsvorwürfen verknüpft. Diese Begründung haut für uns nicht hin. Schon im März 2022 wurde das Sexualstrafverfahren gegen ihn eingestellt.3
Damit hätte D. sich gegen anonyme Internetanschuldigungen wehren können. Vielleicht hatten die polnischen Kindergarteneltern auch keine Lust auf einen Erzieher mit Antifa-Vergangenheit? Auch fällt die Kündigung mit der Ansprache durch das BfV zusammen. Blöder Zufall? Das spielt in D.‘s Aussagen jedoch keine Rolle. Er weiß, wem er die Schuld geben möchte.

Bis zum Ende seiner Aussagen vor dem OLG Dresden plauschte D. wohl sieben Mal mit dem LKA Sachsen zum "Antifa Ost-Verfahren", zwei Mal mit dem Bundeskriminalamt (BKA) zum §129a-Verfahren in Frankfurt am Main (FFM) / Leipzig4
und sechs Mal mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV).

Bei all seinen Aussagen beantwortete D. auch immer bestimmte Fragen nicht, da die Antworten ihn selbst belasten könnten. Darüber wollte er sich nach Aussage des verhörenden Beamten Daniel M. ("Soko LinX") erst mit seinem Anwalt besprechen. Egal wie, weitere Aussagen von D. werden nicht mehr in das Verfahren vor dem OLG Dresden einfließen. Dort ist die Beweisaufnahme so gut wie abgeschlossen.

Von D.‘s Aussagen zum Prozess sind wir enttäuscht. Von einem Kronzeugen hätten wir mehr erwartet. Konkret konnte er nur zu einem der vorgeworfenen Straftatenkomplexe, „Eisenach 2“, Personen benennen und Abläufe beschreiben. Zu allen anderen vor dem OLG Dresden angeklagten Taten musste er mehr oder minder wild spekulieren.

Dieser Befund kann jedoch nicht darüber hinwegtrösten, dass die Aussagen für die Angeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen geführt haben. Außerdem gibt es mehrere Ermittlungsverfahren, denen D. abseits des Antifa Ost-Verfahrens neuen Stoff geliefert hat.

Zum Tatkomplex „Eisenach 2“ äußerte sich D. umfassend: Er beschrieb, wie er für die Aktion angesprochen worden sei, mit wem er in Berlin darüber kommuniziert habe und wie die Fahrt nach Eisenach am Abend des 14. Dezember 2019 abgelaufen sei. Er nannte Namen, soweit er sie kannte. Seine Aufgabe vor Ort soll die Ausspähung des Neonazis Leon Ringl5
gewesen sein, der seine Kneipe, das „Bulls Eye“, spät nachts verließ und mit seinen Freunden den Heimweg antrat. Als das erledigt war, fuhr D. nach eigener Aussage wie geplant davon, merkte aber schnell, dass etwas bei der Aktion schiefgegangen sein müsse. In einem Chatgespräch am nächsten Tag sei er dann über die am Abend erfolgten Festnahmen informiert worden.

Zudem gab D. an, er habe regelmäßig Trainings in Leipzig besucht, bei denen Angriffe auf politische Gegner*innen in verschiedenen Szenarien geübt worden seien. Auch zwei Trainings in größeren Gruppen hätten stattgefunden. Angriffe in der eingeübten Variante hätte er aber nie mitgemacht und auch keine Kenntnis, ob andere Teilnehmende diese tatsächlich umgesetzt hätten. Zusammen mit Teilen der vor dem OLG Angeklagten habe er seit mehreren Jahren in unterschiedlicher Besetzung an sogenannten „Ausfahrten“ teilgenommen. Er habe die Zuganreise von Neonazis zu Demonstrationen ausgespäht, damit diese später an Bahnhöfen überfallen werden könnten. Dabei belastete D. vor allem Lina E. stark, da er ihr eine führende Rolle in der Planung und Kommunikation der Gruppe zuwies und damit das Konstrukt der Generalbundesanwaltschaft (GBA), sie sei „Rädels­führerin“, bestätigte.

Zu den anderen Ange­klagten habe er weniger Kontakt gehabt und sie auch erst sehr viel später kennengelernt. Dennoch: D. lieferte der GBA damit die Informationen über ihre kriminelle Vereinigung, die ihr zwei Jahre lang gefehlt hatten.6

Militante Politik a la Kronzeuge D.

D.‘s ganzer Auftritt machte auf uns den Eindruck, als würde da jemand von uns sitzen, der zwar ziemlich tief in linken Zusammenhängen dringesteckt hatte, mit „unseren“ Inhalten und ihren Konsequenzen für unser Handeln jedoch wenig anzufangen wusste.

Sicherlich hat D. von den Ideen der Abschaffung des Patriarchats und des Kapitalismus gehört, sich vielleicht auch mal irgendwie theoretisch damit beschäftigt, grundsätzlich begriffen hat er dabei allerdings wenig. Seine Ausführungen dazu, was Politik für ihn war, zeigen das ganz gut. Sinngemäß sagte er aus: „Militante Politik ist für mich der Überbegriff zur politischen Praxis und Ziel“. Ideologische Differenzen seien von geringer Bedeutung dafür. Militanz ist bei D. anscheinend etwas, dass allein schon einen Wert oder Sinn für sich selbst besitzt. Nach freier Übersetzung bedeutet dies, alles was unter Draufhauen und Kaputtmachen bleibt, interessierte ihn nicht.

D. sagte aus, bei ihm habe sich ein Wandel vollzogen, weg vom klassischen Riot hin zu klandestinen Angriffen auf Neonazis. Motivierend habe dabei gewirkt, dass er bei den Riots anlässlich der EZB-Eröffnung7
geschnappt und später verurteilt wurde. Das persönliche Risiko erwischt zu werden, war ihm bei militanten Aktionen bei Demonstrationen etc. zu hoch.

Inhaltliche Erwägungen spielten beim Umdenken keine Rolle. Inhalte waren ihm ja schon bei der Wahl der Kompliz*innen egal: Ob Anarchist*in oder Kommunist*in, Feminist*in oder Antideutsche*r mit ihm unter der Sturmhaube steckte, war für ihn nicht so wichtig. Vielleicht, sagt er, sei er nicht politisch genug für solche Differenzierungen. In der „Action“ werden alle gleich, ein kollektives Wir, das sich über die militaristische Konfrontation konstruieren lässt. Nachdem er in Frankfurt am Main verhaftet und verurteilt worden war, musste er sich neue Wege suchen, um nicht aus militanten Kreisen herauszufallen. Wenig verwunderlich lag für einen kampfsportaffinen Typen mit seiner Körperstatur die Konfrontation mit Neonazis nahe.

Dabei schien D. aber schon noch in der Lage zu sein, nach Sinn und Unsinn zu unterscheiden. So gab er an, dass ihm durchaus wichtig war, welche Neonazis angegriffen werden sollen. Einfach nur irgendwelche „Thor Steinar“- Träger*innen zu behelligen, erschien ihm nach eigener Aussage nicht zielführend genug. Der letzte Lichtblick an politischem Inhalt, der ihm vor Gericht entfuhr.

Allerdings konnte er auch hierbei nicht so wirken, wie er gewollt hätte, denn da war ja noch die Bewährung offen. Also begann D. sich in das Scouten (beobachten von z.B. An- und Abreisen bei Neonazi-Demonstrationen) akribisch einzuarbeiten.

Unter keinen Umständen wollte er dabei eine Haftstrafe riskieren, und äußerte vor Gericht einige Angst davor. In Diskussionen mit anderen will er darauf hingewiesen haben, dass die angedachten Aktionen keineswegs so ungefährlich seien wie vermutet. DNA sei bspw. genauso leicht übertragbar bei Schlägereien wie bei anderen Aktionen. Darum beschäftigte er sich ausführlich mit seiner Sicherheit: wie, von wo, wann mit der Bahn fahren, um nicht ins Visier zu geraten; keine Zigarettenstummel irgendwo hinterlassen; Kommunikation immer nur nach hohen Standards führen; mögliche Verfolger*innen durch Umwege abschütteln und so weiter. Vor Gericht äußerte er sogar mit einiger Herablassung, andere hätten sich auf die Klandestinität weniger gut verstanden als er.

Alles in allem also ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Genosse? Für uns nicht. Zunächst einmal: D. hat mehrere verheerende Fehler gemacht, welche die Ermittlungsbehörden zu ihm geführt haben. Er hat sich auf dem Weg zu einer Aktion und auch noch auf dem Rückweg mit dem Auto blitzen lassen, sein E-Mail-­Postfach konnte entschlüsselt werden und wer weiß, was ihm sonst noch an Fehlern unterlaufen ist.

Davon abgesehen haben wir aber noch wichtigere Einwände gegen sein Verhalten. Zum ersten sind Militanz und klandestine Organisierung kein Selbst­zweck: nichts, was wir um ihrer selbst willen machen. Sie sind nur die Mittel, die uns aufgedrängt werden von Neonazis, die die Hegemonie auf ostdeutschen Straßen beanspruchen, einer Polizei, die Besetzungen räumt, und Bossen, die ihre Produktionsmittel nicht hergeben. Wer keine Lust hat in den Knast oder in Konfrontationen zu gehen, die*der muss das eben auch nicht tun. Es gibt zahlreiche und schöne andere Formen, der alltäglichen Scheiße unser „Fick dich“ entgegenzuschleudern: vom politischen Theater über die Küfa-Crew, die Seenotrettung bis hin zu Bildungs- sowie Gewerkschaftsarbeit und vieles mehr. Wer für sich entschieden hat, dass Haft aufgrund von politischen Aktionen nicht allzu tragisch und deshalb einzugehen ist, herzlichen Glückwunsch. Das macht die Person aber um keinen Deut cooler oder wichtiger als diejenige, die sich an anderen Organisierungsversuchen beteiligt. Diese Trennung zwischen coolen Straftaten und langweiliger „legalistischer“ Praxis bei D. ist infantil. Linksradikale Praxis kann sich eben nicht nur um das Einhauen von Fensterscheiben drehen.

Angesichts dieser Herangehensweise wundert es uns auch nicht, dass D. an einem bestimmten Punkt von den Aktionen, an denen er teilnahm, ernüchtert war. Er hatte wohl den Eindruck, dass die Aktionen viel weniger wirksam gewesen sind, als er vorher annahm. Als wären ein paar verhauene Neonazis allein die Lösung gegen den Rechtsruck.

Gerade die Trennung in die eine und die andere Seite sorgen dort für die Isolation einer militanten und klandestinen Organisierung, wo sie eigentlich mit anderen Formen des Widerstands zusammenkommen müssten. Stattdessen schlagen sie den Irrweg einer militaristischen Logik ein, bei der es nur noch darum geht, dem Feind noch krassere Verletzungen und Schäden zuzufügen.

Angst vorm Knast

D. scheint große Angst vor Haftstrafen gehabt zu haben. Wer für sich entschieden hat, unter keinen Umständen im Knast landen zu wollen, die*der hat auch nichts in Zusammenhängen verloren, die eine entsprechende Politik forcieren. Repression ist dafür die logische Folge und wenn’s hart auf hart kommt, müssen alle Beteiligten dafür einstehen wollen. Es geht nicht darum, Superheld*innen herbei zu fantasieren: Natürlich spielen Angst und Unsicherheit immer eine große Rolle und niemand ist davor gefeit. Beziehungsweise, gerade denen, die meinen, ihnen könne nichts und niemand etwas anhaben, sollten wir lieber mit großer Vorsicht begegnen.

Also müssen wir uns damit auseinandersetzen, wo Ängste bestehen und wie wir ihnen gemeinsam begegnen können. Die gegenseitige Versicherung, dass es auch dann weitergeht, wenn die Repressionsbehörden mal einen Erfolg verbuchen und dass die Begründung für eine Aktion nicht wegbricht, nur weil mal etwas schiefgeht, ist ein besserer Schutz gegen Repression, als die akribische, technische Vorbereitung. Eine solche Auseinandersetzung würden wir als Sorge füreinander bezeichnen und die sollte in Zusammenhängen immer eine große Rolle spielen.8

Dagegen sind wir uns ziemlich sicher, dass wer dabei ist, weil’s cool ist, eine „Hassi“ aufzuziehen und ein paar Fäuste zu verteilen, hohe Gefahr läuft, dort zu landen, wo D. jetzt sitzt: als Verräter im Zeugenschutzprogramm. Und so etwas muss vorher geklärt werden: Sind die Leute dabei, weil es ihnen um die politische Auseinandersetzung geht? Wissen alle, warum was gemacht wird und mit welchem Ziel? Oder sind die Leute dabei, weil sie „zu den Krassen“ gehören möchten? Es geht nicht um Coolness, einen kriminellen Lifestyle oder Street Credibility.

Diese Abwägung zu treffen beinhaltet logischerweise auch, dass bestimmte andere Sachen nicht mehr gehen. Vielleicht habe ich unter Drogeneinfluss nicht immer alle Sinne beisammen und quatsche zu viel. Dann muss ich das lassen, wenn ich Aktionen machen will. Vielleicht werde ich in Zusammenhängen, die öffentlich stark präsent sind, zu auffällig und das gefährdet anderen Kram. Das sind die Rahmenbedingungen von Klandestinität.

Aber das darf sich dann niemals so auswirken, wie D. sich selbst vor Gericht geschildert hat. Die Auseinandersetzung mit Politik hatte er weitgehend aus seinem Alltag gestrichen. Aber der ganze alltägliche Kram, vom Spülbecken bis zum Schreibtisch, ist politisch. Es gibt keinen Ort, an dem wir den Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung ausklammern können. Das ist so essentiell wie einfach. Unsere Auseinandersetzung muss sich immer auf all das richten. Nur mal „Action“ machen gehen reicht nicht. Tagsüber ein spießiges Leben führen und nachts die Konfrontation suchen, erscheint uns zumindest ziemlich gewagt. Da zeigt sich dann die nächste Trennung in seinen Aussagen, die von politisch und privat. Als hätte es die letzten 50 Jahre feministischer Politik nicht gegeben.

Antworten auf Verrat und sexualisierte Gewalt?

Die Reaktionen auf das Publikwerden von D.‘s Zusammenarbeit mit den Behörden waren verständlicherweise hasserfüllt. Auch uns, die in einer komfortablen Zuschauer*innenrolle stecken, kommt die Galle hoch bei der Vorstellung, ein langjähriger Mitstreiter könnte so handeln. Nach allem, was davor aber schon klar war – Vergewaltigung, Bedrohung, Erpressung gegen die eigenen Genossinnen – ist sein Überlaufen nur folgerichtig.

Wie oben schon ausgeführt, halten wir D. für ein rückgratloses Arschloch. Doch wir wollen ihn auch nicht als einen außergewöhnlichen Einzelfall hinstellen. Es gibt genug Genoss*innen, die sich einbilden, ihr Privatkram hätte nix mit Politik zu tun. Genoss*innen, die mit den Bullen reden.9
Und auch Genoss*innen, die sexualisierte Gewalt ausüben.

Insofern zeigt uns D. erneut, dass es keine Szenestandards gibt, die wir nur auswendig lernen müssen, um bessere Menschen zu sein. Stattdessen müssen wir immer und immer wieder in die Auseinandersetzung gehen, unsere Grundsätze verteidigen, diskutieren und verbreiten. Wir wollen, dass Gruppen, Strukturen und Einzelpersonen Verantwortung für den derzeitigen Totalschaden im "Antifa Ost-Verfahren" übernehmen.

In unserer Wahrnehmung hat das Verfahren und alles drum herum extrem viel Lähmung, Resignation und wenig Erfreuliches hervorgebracht. Es liegt an den Personen, die ihn kannten und die mit D. Politik gemacht haben, sich dieser Verantwortung zu stellen. Für den verbockten Mist geradezustehen sollte ein wichtiger Aspekt im Leben sein. Explizit fordern wir das von Menschen, die sich in der Causa D. vorwerfen müssen, seine sexualisierte Gewalt verteidigt, gedeckt und relativiert zu haben.

D., der sich hübsch individuell aus der Scheiße ziehen wollte, indem er Aussagen machte, setzen wir eine kollektive Organisierung entgegen. Letztlich geht es darum, Gruppen, Strukturen und Zusammenhänge zu ersinnen, die sich kollektiv der ganzen Scheiße entgegenstellen, ohne Einzelne unterzubuttern. Doch es hilft nicht weiter, nur mit erhobenem Zeigefinger durch die Gegend zu rennen. Denn wir müssen gemeinsam verhindern, dass es zum nächsten Outcall kommen muss. Das schaffen wir nur, indem wir langfristig unsere Gruppen und Strukturen verändern.

Ein Merkmal der Diskussionen um sexualisierte Gewalt ist ihre ausgesprochene Kurzweiligkeit. Ein paar Wochen, manchmal auch ein paar Monate drehen sich alle um den*die Täter*innen und empören sich nach bestem Wissen. Immer wieder wird den Täter*innen Gewalt als Rache angedroht, wie das auch bei D. der Fall war. Dann herrscht erneut Friedhofsruhe. Dieser Ablauf ist nicht nur der allgemeinen Aufmerksamkeitsspanne geschuldet, sondern kann auch als Teil patriarchaler Abwehr analysiert werden. Wer vom patriarchalen Ist-Zustand profitiert, hat, ob bewusst oder unbewusst, auch ein Interesse daran, dass sich nicht allzu viel verändert. Um dieser Kurzweiligkeit zu begegnen, brauchen wir eine langfristige Auseinandersetzung mit patriarchaler Unterdrückung, Strukturen, die diese Auseinandersetzung einklagen können, und proaktive Absprachen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt. Nicht erst, wenn es zu spät ist, sondern schon bevor Übergriffe passieren. Dass sie passieren, ist leider alltäglich. Das zu begreifen hieße, sich nicht auf die Seite der „Unfehlbaren“ zu schlagen, sondern einen Umgang damit zu entwickeln, dass die meisten Menschen – allen voran die meisten Cis-Männer – im Laufe ihres Lebens die Grenzen anderer überschreiten und sexualisierte Gewalt ausüben.

Weil die meisten Übergriffe von Cis-Männern ausgehen, muss auch die Bewegung aus dieser Richtung kommen. Betroffene und ihre Unterstützer*innen können noch so sehr anklagen, fordern und sich abgrenzen, sie können den patriarchalen Status Quo nicht beenden, wenn sich nicht die andere Seite bewegt. Ein Anknüpfungspunkt hierfür könnte die profeministische Männerbewegung sein, die sich bspw. rund um den "Männerrundbrief"10
der 1990er Jahren entwickelte. Sich zu bewegen hieße für Cis-Männer also ein wenig Extraarbeit auf sich zu nehmen: Gruppen bilden zur Auseinandersetzung mit den eigenen Männlichkeiten, Räume denen überlassen, die vom Patriarchat permanent (negativ) betroffen sind, die eigene feministische Bildung forcieren, andere Cis-Männer in die Verantwortung nehmen und Auseinandersetzung und Kritik aussprechen, um Flinta* Extraarbeit zu ersparen.

Gleichwohl wünschen wir uns als Gruppe aber, dass es durch die Auseinandersetzung mit dem Patriarchat nicht zu einer immer kleinteiligeren Aufspaltung anhand identitätspolitischer Linien kommt. Wir brauchen auch die Räume, in denen wir alle gemeinsam streiten, diskutieren und aktiv werden. Wo es keine gefestigten feministischen Gruppen gibt, kein feministisches Verständnis sozialer Zusammenhänge und keine feministische Herrschaftskritik, da können Cis-Männer, respektive Arschlöcher, weiter ihre patriarchalen Bündeleien durchziehen. Dieses Verhalten wird der Grund für den nächsten Outcall sein.