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»Gefährlicher sind die normalen Menschen«

Klaus-Peter Löwen
Einleitung

Neue Ansätze bei der NS-Täter-Forschung aus Stuttgart

Bild: stuttgarter-ns-taeter.de

Die braune Rathausspitze in Stuttgart 1935.

»Es gibt Ungeheuer, aber es sind zu wenige, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.« Die Worte des italienischen Schriftstellers und KZ-Überlebenden Primo Levi sind Programm und Leitfaden des Buches »Stuttgarter NS-Täter – Vom Mitläufer zum Massenmörder«, das von Hermann G. Abmayr herausgegeben wurde und zum Teil heftige Reaktionen hervorgerufen hat. So hat Volker Lempp, ein Enkel des NS-»Euthanasie«-Arztes Karl Lempp, versucht, den Verkauf des Buches zu stoppen, was ihm für gut zwei Wochen sogar gelungen ist. Erst im letzten Augenblick hat er den Antrag auf eine einstweilige Verfügung beim Landgericht Stuttgart aus formalen Gründen zurückgenommen. Im Mai 2010 startete er einen erneuten Versuch. Ob er nun tatsächlich gerichtlich gegen das Kapitel über seinen Großvater vorgeht, war bis zum Redaktionsschluss noch offen.

In dem Buch werden in 38 Kapiteln 45 Täter vorgestellt, die zum Teil weit über Württemberg hinaus von Bedeutung waren: Ärzte, Handwerker, Pfarrer, Lehrer, Richter, Unternehmer, Gemeinderäte, Mitglieder der NSDAP, aber auch solche ohne Parteiausweis. Die Wirtschaftskapitel des Buches zeigen beispielhaft, wie die Nazis mit geraubtem Geld die Grundlagen gelegt haben für den Aufstieg so manches deutschen Konzerns. So beschreibt der Wirtschaftsjournalist Ulrich Viehöver den Aufstieg der Firma Porsche in Stuttgart.

Im Gegensatz zu anderen Büchern über NS-Täter befassen sich die Autoren nicht nur mit den obersten Repräsentanten des NS-Regimes und ihren brutalen Helfern in den Lagern oder bei den Einsatzgruppen. Das Buch plädiert für einen weiten Täterbegriff und porträtiert deshalb auch Männer wie Paul Binder, die der NSDAP gar nicht angehörten. Der Filmemacher und Journalist Hermann G. Abmayr porträtiert erstmals den wichtigsten Arisierungsmanager der Nazis, den Banker und Wirtschaftsprüfer Paul Binder, der später als CDU-Politiker zu den »Vätern des Grundgesetzes« gehörte.

Es waren, so zeigen die 30 Autoren des Buches, »normale« Männer, meist aus gebildeten, gut situierten Familien und aus kleinbürgerlichem Milieu, praktizierende Christen und Familienväter, und doch half jeder einzelne von ihnen, das grausame Räderwerk der Vernichtung am Laufen zu halten. Das Spektrum dieser Täter reicht vom Mitläufer, der Unrecht stillschweigend duldete, über den Sympathisanten, der sich durch Denunziation Vorteile verschaffte, bis hin zum Massenmörder, der den Gashahn aufdrehte.
Das Porsche-Kapitel hat schon mit Erscheinen im Oktober 2010 im In- und Ausland für Schlagzeilen gesorgt (DER SPIEGEL, taz, Stuttgarter Zeitung...). Nachdem auch die israelische Zeitung Haaretz über Viehövers Enthüllungen zur Zwangsarbeit im Stuttgarter Porsche-Werk berichtet hatte, sah sich das Unternehmen zu der Ankündigung gezwungen, eine unabhängige Historiker-Kommission einzusetzen, die sich mit dem Thema Zwangsarbeit bei Porsche in Stuttgart-Zuffenhausen auseinandersetzen soll.

Dabei haben die Medien die Sprengkraft des Porsche-Beitrags noch gar nicht erkannt. Viehöver hat Quellen entdeckt, die zeigen, dass der rasche Aufstieg der Firma Porsche, die 1933 beinahe hätte Konkurs anmelden müssen, ohne die Nazis und ohne deren (häufig geraubtes) Geld nicht möglich gewesen wäre. Es stellt sich die Frage, ob sich Porsche nicht ähnlich über ehemaliges Gewerkschaftsvermögen finanziert hat wie VW. Streng genommen müsste das Unternehmen deshalb den Gewerkschaften gehören oder sich zumindest in öffentlichem Eigentum befinden.

Aber auch ein Arbeiter wird vorgestellt, der Maler Eugen Notter, der als 17-jähriger der Gewerkschaft und später der SPD beigetreten ist. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise hat sich der städtische Arbeiter der NSDAP angeschlossen. Die Nazis waren stolz auf ihn, berichten die Autoren Hermann G. Abmayr und Gerhard Hiller, denn sie waren in der Arbeiterschaft nicht gut verankert. 1933 setzte Oberbürgermeister Karl Strölin die gewählten Betriebsräte der Stadt Stuttgart ab und ernannte neue. Zum Vorsitzenden machte er Eugen Notter. Und dann begann das große Reinemachen: Strölin, Notter und Co. haben dafür gesorgt, dass 159 Arbeiter und sechs Angestellte – die meisten von ihnen aktive Gewerkschafter – wegen »politischer Unzuverlässigkeit« entlassen wurden.

Eugen Notter wurde Spitzenfunktionär der Deutschen Arbeitsfront (DAF), Gemeinderat der Stadt Stuttgart und Mitglied des Vorsteherrates der Württembergischen Landessparkasse. Obwohl er kein Eigenkapital besaß, gewährte ihm die Bank einen Kredit zum Kauf eines Drei-Familien-Hauses. Das Anwesen hatten die Nazis der jüdischen Besitzerin im Zuge der »Arisierung« weggenommen. Die meisten jüdischen Bewohner des Hauses sind später in Vernichtungslagern ermordet worden.

Einen Schwerpunkt des Buches bildet das Kapitel »Fachleute der Vernichtung«, in dem sich verschiedene Autoren mit den im Gesundheitswesen beschäftigten Tätern auseinandersetzen. Da waren beispielsweise die Ärzte und Obermedizinalräte Eugen Stähle und Otto Mauthe (Autor: Thomas Stöckle), die im Herbst 1939 im Rahmen der »T4-Aktion« Schloss Grafeneck beschlagnahmten und es als erste Vernichtungsanstalt ausbauen ließen. Albert Widmann (Autor: Hermann G. Abmayr), von Beruf Chemiker, hatte die Aufgabe übernommen, Massentötungsmittel zu entwickeln. Und eben jener Karl Lempp, der kommissarischer Leiter des Städtischen Gesundheitsamtes Stuttgart und Leiter der Städtischen Kinderheime (Kinderkrankenhäuser) war. Autor Karl-Horst Marqaurt weist nach, dass Lempp verantwortlich war für Zwangssterilisationen und die Ermordung von behinderten Kindern.

»Das Buch ist ein Meilenstein in der Regionalen Geschichtsschreibung« schreibt Gabriele Prein in den Informationen des Studienkreises Deutscher Widerstand (Nr. 71, Mai 2010). »Es kann und sollte für andere Städte Anlass zu eigenen Recherchen sein.« Und Ingo Arzt schreibt in der taz: »Die Recherchen in dem Buch sind akribisch und schockierend, denn sie zeigen, wie viele Täter der damaligen Zeit nie als solche verurteilt wurden.«

Stuttgarter NS-Täter
Vom Mitläufer bis zum Massenmörder

Verlag Hermann G. Abmayr, Stuttgart
383 Seiten, 48 Schwarz-Weiß-Abbildungen

Weitere Informationen:
www.stuttgarter-ns-taeter.de

Bestellung: 
Info [at] Stuttgarter-NS-Taeter.de (Info(at)Stuttgarter-NS-Taeter.de)