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Braunes Erbe

Florian Osuch
Einleitung

Alte Nazis im Landtag von Nordrhein-Westfalen und die mühsame Aufarbeitung

SS-Stammakte des ehemaligen FDP-Fraktionsvorsitzenden Eberhard Wilde

Der Nationalsozialismus scheint in all seinen Facetten zwar noch lange nicht abschließend, jedoch umfangreich erforscht. Über die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurden mehr als über jede andere Zeitepoche Werke publiziert, bis in die heutige Zeit. Neben den umfangreichen Forschungen zum Zweiten Weltkrieg, zu Zwangsarbeit und zur Vernichtung insbesondere von Jüdinnen und Juden bleibt nahezu kein gesellschaftlicher Bereich ausgespart – Wirtschaft, Militär, Justiz, Medizin, Polizei, Sport, Verwaltung, Kirche, Kultur und Presse.

Es gibt jedoch immer noch Felder, wo eine Aufarbeitung aussteht, so etwa die Rolle ehemaliger Nazis in westdeutschen Landesparlamenten. Erst seit 2008 beschäftigten sich Historiker_innen mit dem oftmals nahtlosen Übergang alter Nazis, teilweise auch SS-Angehörige, in neue Führungspositionen. Den Aufschlag machte die Fraktion Die Linke im Landtag von Niedersachsen, die im Oktober 2008 eine Studie zum Thema vorlegte.1 Wenige Monate zuvor, während einer Plenarsitzung am 9. Mai 2008, hatte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende und parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion, Dr. Bernd Althusmann im Landtag folgendes erklärt: »Meine Damen und Herren, die CDU hat ihre geistigen und politischen Wurzeln im christlich motivierten Widerstand gegen den Terror des Nationalsozialismus. Das ist die Wahrheit«.2 Im Jahr 2009 veröffentlichte Rüdiger Sagel von der Linken eine Studie zu ehemaligen Nazis im Landtag von Nordrhein-Westfalen.3 Im April diesen Jahres legte dann die hessische Linksfraktion eine Studie zu den Abgeordneten aus ihrem Landesparlament4 nach.

Der folgende Artikel legt den Schwerpunkt auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Der Autor der Studie, der Historiker Dr. Michael Klepsch, wälzte Archivbestände in Berlin und Düsseldorf und durchforstete Unterlagen, Korrespondenz und Mitgliedskarteien von NSDAP, SS und SA sowie Akten aus dem Bestand der Entnazifizierung. Die offiziellen Handbücher des Landtags gaben nicht viel her. Klepsch untersuchte insgesamt 451 Abgeordnete, die bei Kriegsende mindestens 18 Jahre alt waren. Unter den 41 Männern mit NSDAP-Parteibuch befanden sich auch hauptberufliche NS-Funktionäre und Mitglieder von SS bzw. Waffen-SS. Besonders brisant: Unter den ehemaligen Nazis waren später nicht weniger als acht Fraktionsvorsitzende und zwei spätere Landesminister, zum Beispiel Willy Weyer (FDP) und Paul Mikat (CDU). »Insbesondere in der FDP war der Anteil ehemaliger Nazis hoch: In den Nachkriegsjahren hatte mehr als jeder fünfte FDP-Landtagsabgeordnete eine braune Vergangenheit. Die Partei war in NRW regelrecht unterwandert. Zwischen 1955 und 1975 wurde die FDP-Fraktion von sechs ehemaligen Nazis, darunter drei SS-Männern geführt«, heißt es bei der Linkspartei.5

Altnazis versuchten FDP zu unterwandern

Der recht hohe Anteil »belasteter Abgeordneter« bei der FDP – immerhin 16 von 75 Männern – muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass es in den 1950er Jahren Bestrebungen von Altnazis gab, die FDP zu unterwandern und dort führende Funktionen zu besetzen. Die damaligen Pläne sind als »Naumann-Affäre«6 bekannt. Dazu der Historiker Dr. Hans-Peter Klaus: »[Werner] Naumann und [Ernst] Achenbach verfolgten das Ziel, mit weiteren hochrangigen Vertretern des untergegangenen NS-Regimes vornehmlich die FDP, aber auch die DP [Deutsche Partei] und den BHE [Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten] zu infiltrieren, um aus den Reihen dieser im Bundestag bereits verankerten Parteien heraus eine neue ›Nationale Sammlungsbewegung‹ rechts von der CDU zu etablieren, der sich die kleineren neonazistischen Parteien und maßgebliche Teile der Soldatenverbände, Vertriebenenorganisationen usw. anschließen sollten«.7

Den Anstoß zur Studie gab Rüdiger Sagel, der lange Jahre für die Grünen im Landtag NRW saß. Er verließ die Partei unter anderem wegen der Hartz-IV-Gesetze, behielt jedoch sein Landtagsmandat und wechselte später zur Partei Die Linke. Zum Entstehen der Broschüre äußerte Sagel: »Im 2008 erschienenen Jahrbuch ›60 Jahre Landtag in Nordrhein-Westfalen‹ hatte nur ein einziger Abgeordneter auf seine Nazi-Vergangenheit hingewiesen. Alle anderen haben sie verschwiegen«.5

Aufarbeitung steht weiterhin aus

Die Abwehrreaktionen der bürgerlichen Parteien waren massiv. »Während die ansonsten um Polemik gegenüber der Linken nicht verlegene nordrhein-westfälische FDP zu keinerlei Stellungnahme bereit war und auch heute noch lebende Betroffene sich zu den dokumentierten Beweisen ihrer Verstrickung mit dem Nationalsozialismus eisern in Schweigen hüllten, zogen es CDU und SPD in der parlamentarischen Auseinandersetzung vor zu behaupten, dass sich der Landtag seit jeher mit der NS-Vergangenheit zu Genüge auseinandergesetzt habe und ungeachtet unvollständiger und fehlerhafter Angaben im biografischen Handbuch kein weiterer Aufklärungsbedarf bestehe«.8

Nach Erscheinen der Studie stellte der damals noch fraktionslose Abgeordnete Rüdiger Sagel im Landtag NRW den Antrag zur Einrichtung einer historischen Kommission zur Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Landtagsabgeordneten.9 In diesem Zusammenhang sollte auch das biografische Lexikon des Landtages überarbeitet werden.

Bei der anschließenden Debatte im Landtag NRW bezeichnete zwar die SPD die bisherigen Angaben über die Biographien aller Abgeordneten nach dem Zweiten Weltkrieg als »rudimentär«, für eine Kommission bestünde jedoch »keine Notwendigkeit«.10 Der Antrag wurde mit Stimmen von CDU, SPD und FDP abgelehnt, bei Enthaltung der Grünen.

Im Frühjahr 2011 griff die nun in Fraktionsstärke vertretene Linkspartei das Thema erneut auf und stellte abermals einen Antrag auf Einrichtung einer unabhängigen historischen Kommission11 . Inzwischen hatte jedoch bereits das Landtagspräsidium das Thema aufgegriffen und sorgte dafür, dass über den Antrag nicht erneut abgestimmt wurde. Stattdessen wurde die Verwaltung des Landtages beauftragt, ein Konzept für eine Aufarbeitung zu erstellen. Inzwischen soll sich eine Arbeitsgruppe mit dem Thema beschäftigen, obgleich nicht bekannt ist, ob bereits Historiker_innen mit der Untersuchung beauftragt wurden.

  • 1Dr. Hans-Peter Klausch: Braune Wurzeln – Alte Nazis in den niedersächsischen Landtagsfraktionen von CDU, FDP und DP, Hannover 2008.
  • 2Zitiert nach Klaus: Braune Wurzeln, Seite 3.
  • 3Dr. Michael Klepsch: Das vergessene braune Erbe – 60 Jahre Landtag NRW. Nahtloser Übergang in neue Führungspositionen. Alte Nazis in den nordrhein-westfälischen Landtagsfraktionen von CDU und FDP, Düsseldorf 2009.
  • 4Dr. Hans-Peter Klaus: Braunes Erbe – NS-Vergangenheit hessischer Landtagsabgeordneter der 1.-11. Wahlperiode (1946-1987), Wiesbaden, April 2011.
  • 5 a b Interview mit Rüdiger Sagel in: junge Welt, 11.01.2011.
  • 6Vgl. dazu AIB 59 | 2.2003: Nazis und »Nationale Sammlung«: Pflicht nach rechts. Die FDP in den fünfziger Jahren.
  • 7Klausch: Braunes Erbe, a.a.O., Seite 17.
  • 8Dr. Michael Klepsch: Das vergessene braune Erbe, 2. Auflage, Düsseldorf 2011.
  • 9Vgl. Landtag NRW, Drucksache 14/10012 (PDF) vom 27.20.2009.
  • 10Edgar Moron, Abgeordneter der SPD, Landtag NRW, Plenarprotokoll 14/134 (PDF) vom 04.11.2009.
  • 11Vgl. Landtag NRW Drucksache 15/661 (PDF)