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Das Netzwerk rechter Onlinekulturen von #Gamergate zu „Alt Right

Miro Dittrich und Jan Rathje
Einleitung

Rechte Attentäter entstammen zunehmend Netzwerken, die nur locker mit klassischen Organisationen und Strukturen der extremen Rechten verbunden sind. Ihre Quellen liegen in Männerrechtsgruppen, reaktionären Gaming- und Trolling-Subkulturen, die sich in einem Ökosystem aus Social Media Plattformen, Foren und Chan-Boards radikalisiert haben. Dieses Netzwerk bildet einen Teil des internationalen Phänomens der „Alt-Right“.

Foto: Screenshot von YouTube/N&F

Milo Yiannopoulos aus der Gamergate Bewegung, hier bei einem Besuch in Berlin zur AfD-Medienkonferenz im Mai 2019, wurde 2015 Leiter der „Breitbart Tech“ Abteilung, um Breitbart zu „DER Plattform für die Alt-Right” zu machen.

„The Mob is the Movement“

Das Attentat von Halle am 9. Oktober 2019 verdeutlichte der deutschen Öffentlichkeit, dass internationale Entwicklungen des Rechtsterrorismus auch in Deutschland Auswirkungen entfalten. Die Veröffentlichung von Dokumenten des mutmaßlichen Attentäters Stephan Balliet auf Image-Boards und das Live-Übertragen des Attentats auf der für Gaming bekannten Plattform Twitch entsprach weniger der Handlungsweise klassischer Gruppierungen der extremen Rechten in Deutschland, sondern vielmehr derjenigen des Attentäters von Christchurch, Brenton Tarrant, sieben Monate zuvor. Horst Seehofer kündigte nach dem Anschlag an, „die Gamer-­­Szene … stärker in den Blick“ zu nehmen, da aus ihren Reihen Terroristen hervorgehen würden. Prominente YouTuber, Gamer und Industrievertreter kritisierten die undifferenzierte Darstellung des Innenministers. Das Problem bilde der deutsche Rechts­extremismus und nicht 34 Mio. Gamer in Deutschland, die pauschal durch die Aussagen verunglimpft würden. Kritische Stimmen wiesen jedoch darauf hin, dass bestimmte Gaming Subkulturen seit Jahren neonazistische, misogyne und andere diskriminierende Darstellungen in Spielen und Äußerungen ihrer Mitglieder ignorieren, wenn nicht gar stützen würden.

Der Zusammenhang zwischen Gaming und Rechtsterrorismus ist nicht so unmittelbar herzustellen, wie es die Äußerungen des Innenministers nahelegen. Einzeln agierende Attentäter der 2010er Jahre sehen ihre Vorgänger nicht nur als Inspira­tion, sondern sind mit ihnen in einem amorphen Netzwerk aus verschiedenen online Subkulturen verbunden, innerhalb dessen Antifeminismus, Misogynie und Antisemitismus eine zentrale Position einnehmen. Jenseits der extrem rechten Ursprünge dieses Netzwerks liegen ihre Quellen in den online-Sphären der „Manosphere“ frustrierter (junger) Männer, männlicher Incels und der Gamergate- und Imageboard-Trolle. In diesem Netzwerk werden bestimmte Identitätsangebote und Handlungsformen propagiert, die in ihren radikalisierten Formen Terrorismus und Amok­läufe ermutigen.

Manosphere und Incels

Als „Manosphere“ wird seit 2009 ein Netzwerk von Webseiten und Online-Communities bezeichnet, dessen Ursprünge auf das progressive Men’s Liberation Move­ment in den USA der 1970er Jahre zurück reicht, welches an der Seite von Frauen­bewegungen traditionelle Geschlechterrollen kritisierte. Ab dem Ende der 1980er Jahre entwickelten sich jedoch aus dieser amorphen Bewegung Gruppen von Men’s Rights Activists (MRA), die Maskulinität feierten, den Feminismus für die Unterdrückung von Männern verantwortlich machten und in denen die Ungleichwertigkeit von Frauen und LGBTIQ* propagiert wurde. Sie bilden den Kern der „Mano­sphere“, innerhalb derer der Begriff des „redpilling“ bzw. der „Red Pill“ seit den 2010er Jahren entscheidend geprägt wurde. Gemeint war damit die verschwörungsideo­logische „Erkenntnis“, dass Feminismus eine Verschwörung gegen (weiße) Männer sei, welche von „Kulturmarxisten“ durchgeführt werden würde.1

Neben dem „redpilling“ wurden innerhalb der „Manosphere“ auch die Dienstleistung von sexistischen bis misogynen „pick up artists“ (PUA) propagiert, um Betas zu Sex und Männlichkeit zu verhelfen. Einer ihrer herausragenden Akteure, Daryush Valizadeh (Roosh V), inte­grierte 2015 das antifeministische „red­pilling“ in den Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“, indem er behauptete, der Feminismus sei eine jüdische Strategie im Kampf gegen die weiße Bevölkerung Amerikas. Dabei bezog er sich positiv auf den amerikanischen extrem rechten und antisemitischen Evolutionsbiologen Kevin MacDonald, der sich zum White Supremacy Movement bekennt.

Eine Überschneidung mit der „Mano­sphere“ lässt sich auch für Gruppierungen selbsterklärter Incels (involuntary celibate, unfreiwillig zölibatär) feststellen.2 In den 1990er Jahren zunächst als geschlechter­unabhängige Selbsthilfezusammenschlüsse entstanden, bildeten sich in den folgenden Jahrzehnten rein männliche Gruppen aus, die ihre Männlichkeit in Abgrenzung zu „alpha“ Männern definierten und misogynen Hass kultivierten. Auf Grundlage dieser Vorstellungen verübten Mitglie­der dieser Subkultur Anschläge in den USA und Kanada. Der Incel-Attentäter Elliot Rodger tötete 2014 im kalifonischen Isla Vista sechs Menschen und verletzte 14 weitere, bis er sich nach einem Schusswechsel mit der Polizei selbst erschoss.3   Zunächst plante er Mitglieder einer weiblichen Studierendenverbindung zu ermorden. Als er jedoch deren Gebäude nicht betreten konnte, lief er Amok. Während der Attentate veröffentlichte er ein „Manifest“ und ein Video auf YouTube, in denen er seine Taten als „Vergeltung“ für die sexu­elle Abweisung von Frauen rechtfertigte.

Innerhalb von Incel Communities auf reddit und 4Chan wurde Rodgers anschließend als Held gefeiert. Zu seinen Verehrern gehört auch Alek Minassian, der 2018 in Toronto mit einem Van gezielt zehn Menschen, davon acht Frauen, tötete und 16 verletzte. Auf seiner Facebookseite veröffentlichte er vor der Tat ein an das Imageboard 4Chan adressiertes ironisches Posting, in dem er sich positiv auf Elliot Rodger bezog und den Beginn der „Incell Rebellion“ proklamierte. Auch während der Vernehmung durch die Polizei rechtfertigte Minassian seine Tat durch subkulturelle Codes und Memes seines adressierten Zielpublikums auf 4Chan. Das Southern Poverty Law Center, eine Bürgerrechtsorganisation in den USA, bezeichnet diese misogynen Gruppierungen und Subkulturen analog zum Begriff der White Supremacy als Male Supremacy. Beide werden durch Wut über und Angst vor Egalisierungsprozessen liberaler Gesellschaften angetrieben, die als Statusverluste weißer Männer wahrgenommen werden.

Hardcore Gaming Subkulturen und #Gamergate

Ein weiterer Ursprung des Netzwerks liegt in bestimmten hardcore Gaming Subkulturen, die zunächst keinen unmittelbaren Zusammenhang mit rechtsextremen Akteuren, Organisationen und Strukturen aufwiesen. Bereits seit den 1980er Jahren wurde in der Popkultur ein Bild des weißen Nerds geprägt, der smart und witzig ist, aber von anderen Kräften unterdrückt wird. Dieses Bild verband MRAs, Incels und Gaming Subkulturen. Für die Handlungs­ebene des heutigen Netzwerks waren die Selbstermächtigungserfahrungen im Rahmen der misogynen #Gamergate Kampagne im Jahr 2014 von großer Bedeutung.

Die Kampagne hatte zwei Ursprünge, die beide mit einem Computerspiel der Entwicklerin Zoë Quinn in Verbindung stehen. Sie hatte 2013 das Spiel „Depression Quest“ veröffentlich, das mehr interaktive Geschichte denn ein „klassisches“ Computerspiel ist. Dies hatte hardcore Gamer erzürnt, die dem Game seinen Charakter als Game absprachen, da es zu künstlerisch sei und darauf abzielen würde, das „unpolitische“ Gaming zu politisieren. Ab Mitte August 2014 verbreitete dann ein Exfreund von Quinn mehrere intime Blogpostings, in denen er ihr vorwarf, ihn zum Vorteil ihrer Karriere sexuell betrogen zu haben. Auf Twitter, reddit und 4Chan organisierte sich anschließend ein heterogenes Netzwerk aus Individuen und Gruppen, das, um den eigenen misogynen Charakter zu maskieren, #Gamergate als Kampagne für „Ethik im Games-Journalismus“ und gegen eine links-liberale Politisierung des Gamings startete. Gamergater nutzten ihre Masse, um Druck auf Unternehmen auszuüben, Diversity innerhalb von Games zurück zu drängen, und Frauen, die sich für emanzipatives Gaming einsetzen, mit Shitstorms zu überziehen und Vergewaltigungs- und Morddrohungen zu senden, um sie aus ihrem Beruf und aus der Online-Welt zu verdrängen.

Ein Teil der misogynen hardcore Gaming Subkulturen hatte bereits seit 2012 Erfahrungen mit diesen Techniken sammeln können, als er die feministische Gamerin Anita Sarkeesian für ihre Kritik an der Darstellung von Frauen in Games terrorisierte. Die Belästigungen und Bedrohungen durch männliche Gamer steigerten sich im Frühjahr 2014 schließlich bis zu Bombendrohungen gegen Veranstalter des amerikanischen Game Developer’s Chois Awards, die mit der Verleihung des Botschafterinnen-Preises an Sarkeesian begründet wurden. Sarkeesian wurde auch im Rahmen der Gamergate-Kampagne angegriffen, wie auch die Entwicklerinnen Quinn und Brianna Wu musste sie zeitweilig ihre Wohnung verlassen, da sie einer Vielzahl von Morddrohungen ausgesetzt und ihre Privatadressen von Gamergatern veröffentlicht worden war. Gegner*innen der Kampagne wurden darüber hinaus als „Social Justice Warriors“ verspottet, ein Feindbild, dass anschlussfähig ist an den rechtsextremen und antisemitischen Verschwörungsmythos des „Kulturmarxismus“. Sarkeesian selbst wurde in diesem Zusammenhang antisemitisch beleidigt.

Nach Angaben des Gamergaters James Desborough war die Kampagne durch die diskriminierende 4Chan Board-Kultur geprägt und radikalisierte sich schließlich so weit, dass sie sowohl von 4Chan als auch von reddit gebannt wurde. Eine neue Heimat fanden Gamergater anschließend auf 8Chan (heute 8kun).4 Die Boards waren schon zuvor für eine Kultur berüchtigt, in der diskriminierender Humor auf Kosten von Minderheiten und Frauen, das bewusste Triggern von emanzipativen Personen und Organisationen und der massenhafte Psychoterror durch Shitstorms gegen eben jene als wesentlicher Bestandteil gilt. Die Abwertung von anderen, zu denen man auch schnell selbst gehören kann, verbindet die „Anons“ dieser Chan-Subkultur miteinander. Wie auch für die Mano­sphere bildet Male Supremacy das Ticket für bestimmte hardcore Gaming und Chan-­Board-Subkulturen.5

Die in ihnen verbreitete männliche, weiße Opferidentität bot einen fruchtbaren Boden für extrem rechte Agitation. Gamergate, und strukturell gleiche Kampagnen wie etwa ComicsGate, verdeutlichte die Macht eines locker organisierten, internationalen Online-Netzwerks gegenüber großen Unternehmen und vor allem Kritiker*innen. Es zeigte einen Weg, wie mit geringem Aufwand durch Einschüchterung Diskurshoheit errungen werden kann.

Einflüsse von rechts: Bannon, Breitbart und Milo

Die Verbindung von Gaming und extremer Rechter wuchs aber nicht nur organisch. Steve Bannon stieg 2007 in eine Firma ein, die eine sogenannte World of Warcraft Gold-­Farm in China betrieb. Dort wurden virtuelle Gegenstände im Online-­Game World of Warcraft erspielt und dann gegen echtes Geld an ein westliches Publikum weiterverkauft. Durch dieses Invest­ment kam er in Kontakt mit Gamern, die er als „wurzellose, weiße Männchen” erkannte und denen er eine „Monsterpower” attestierte. Sie wären „klug, fokussiert, relativ wohlhabend und hochmotiviert in Fragen, die ihnen wichtig waren.”6

Und auch die Incel-Community sah er laut des ehemaligen Mitarbeiters Christopher Wylie von Cambridge Analytica, mit der Bannon die Präsidentschaftswahl 2016 in den USA durch gezielte Werbung zu Gunsten von Trump beeinflussen wollte, als geeignete Zielgruppe. Ihnen „fehlen ökonomische Chancen” und sie würden zu „verschwörerischem Denken” neigen. Um Zugang zu dieser Gruppe zu erhalten, stellte er 2014 den Provokateur Milo Yiannopoulos für seine journalistische Plattform Breitbart ein. Dieser hatte sich bis zu diesem Punkt jedoch stets nur abwertend über Gamer geäußert. So hatte er sie als „Traurige, die im Keller ihrer Eltern leben”, bezeichnet und zudem eine Verbindung zwischen dem sexistischen Mörder Elliot Rodger und gewalttätigen Videospielen hergestellt. Mit Gaming im Fokus des „Kulturkrieges” änderte sich jedoch sein Auftreten zum Thema, beginnend mit einem Breitbart-Artikel aus dem Jahr 2014, in dem er „die gesamte [Gaming] Community” gegen „eine Armee soziopathischer feministischer Programmierer und Aktivisten” verteidigte.

Bezeichnend für die Bewegung, in der die feministische Gamerin Anita Sarkeesian nicht als authentischer Teil der Community anerkannt wurde, etablierte sich Milo in dieser Zeit aufgrund seines Antifeminismus als eine der führenden Stimmen von Gamergate. In dieser Rolle wurde er 2015 der Leiter der neuen „Breitbart Tech“ Abteilung. 2016 unterstützte er seinen Chef Bannon darin, Breitbart zu „DER Plattform für die Alt-Right” zu machen, indem er eines der Manifeste der Bewegung auf der Plattform mit einem Co-­Autoren veröffentlichte.7

2017 veröffentlichte Buzzfeed News ihnen zugespielte E-Mails des dazugehörigen Mailverkehrs von Milo, die sich auf diesen Text beziehen.8 Sie zeigen eindrucks­voll, wie der Text auf Grundlage seines Austauschs mit Neo-Nazis und white nationalists entsteht, um danach von Breitbart-Editoren für ein breites Publikum von zu offensichtlichem Rassismus bereinigt zu werden. Der Entwurf dieses Guides basierte dabei unter anderem auf Informationen, die er von Andrew „weev” Auernheimer, extrem rechter Hacktivist und System­administrator der Neonazi-Seite „The Daily Stormer”, und Devin Saucier, einem der Editoren der white nationalist Online-Zeitschrift „American Renaissance”, erhalten hatte. Ihr Input, etwa Informationen zum antisemitischen Podcast „The Daily Shoah”, war Teil eines Paketes, das er, neben einem Link zur Wikipdiaseite des extrem rechten italienischen Philosophen Julius Evola, an seinen häufigen Ghostwriter Allum Bokhari mit der Aufforderung „arbeite von Allen einen Teil mit ein” schickte. Beide Rechtsextreme waren in den weiteren Korrekturschleifen mit einbezogen und gaben umfangreiches Feedback. Einer der Entwürfe des Textes seines Ghostwriters an Milo enthielt als Betreff „ALT RIGHT, MEIN FUHRER.” Milos Editor empfahl ihm, im Text deutlicher klarzumachen, dass die alt-right Neonazis ablehne und kritisierte zwei von Milo der alt-right zugerechneten Magazine als „rassistisch”. So abgeschwächt wurde der Text von Bannon abgenickt und publiziert. Der Artikel entwickelte sich zu einem der drei prägendsten Texte über die Alt-Right9 und wurde in der New York Times, der Los Angeles Times, dem New Yorker, CNN und dem New York Magazine zitiert.

Bannons Versuch, eine der führenden Personen der Gamergate-Bewegung aufzubauen und über diese junge Gamer an Ideen und Publikationen der white nationalists heranzuführen, ist also als sehr erfolgreich zu bewerten.

Radikalisierung auf 8Chan

Diese jungen Männer, von Bannon von Ga­mergate zur alt-right gebracht, radikali­sierten sich in Imageboards zunehmend weiter. Das von Breitbart verbreitete apoka­lyptische Weltbild einer angeblichen „Isla­misierung” und eines „großen Austausches” wandelte sich hier in einen „white genocide”, mit jüdischen Verschwörern als Verantwortlichen. In ihrer neuen Heimat 8Chan wurden im Gegensatz zu 4Chan auch explizite Gewaltaufrufe nicht moderiert. Als 2015 der white supremacist Dylann Roof in einer schwarzen Kirche neun Menschen ermordete und eine Person verletzte, war sich die Community noch sehr uneinig in der Bewertung. Ein Teil entwickelte einen Heldenkult um ihn, und auch heute ist die Verehrung seiner Person sehr präsent - wie etwa in einer Community, die sich nach seinem schalenförmigen Haarschnitt „Bowlgang” nennt. Es war jedoch durchaus sehr strittig, ob diese Gewalttaten der Szene nicht mehr schaden würden und „Mainstreaming”, also argumentative Methoden, die Mitte der Gesellschaft zu überzeugen, zu bevorzugen wären.

Als Wendepunkt in der Debatte ist der Anschlag von Robert Bowers auf die Tree-­of-Life-Synagoge im Oktober 2018 in Pittsburgh zu sehen. In dem bisher gravierendsten einzelnen antisemitischen Gewalt­akt gegen Juden in der Geschichte der Vereinigten Staaten tötete er elf Menschen und verletzte sechs weitere.

In seinem letzten Beitrag auf der von Nazis beliebten Alternative zu Twitter „gab” nahm er Bezug auf diese Debatte, als er schrieb: „screw the optics, I‘m going in” (Scheiß auf die schlechte Presse, ich ziehe jetzt los). Das Klima auf der Plattform hatte sich geändert, der taktische Widerspruch gegen Gewalttaten war neben der Verherr­lichung des Täters in den Hintergrund getreten.10

Fünf Monate später tötete Brenton Tarrant in Christchurch, Neuseeland in zwei Moscheen 51 Menschen und verletzte 41 weitere. Zuvor hatte er auf 8Chan ein  „Manifest” und einen Link zu seinem Facebookprofil verbreitet, über das er seine Morde live streamte. Mit dieser Vorgehensweise schuf er die Formel für ihn nachahmende Täter. Nur einen Monat später versuchte ein 19-Jähriger in Poway, Kali­fornien eine Synagoge mit einem halb­automatischen Gewehr zu stürmen und tötete dabei eine Person und verletzte drei weitere. Der Tat ging ein „Manifest” auf 8Chan voraus. Der versuchte Facebook-­Livestream scheiterte nur an den falschen Privatsphäreeinstellungen des Attentäters, die verhinderten, dass das Video für andere sichtbar war. In seinem „Manifest“ nennt er Tarrant und Bowers als Inspiration.

Drei weitere Monate später im August tötete ein 21-Jähriger in El Paso, Texas 22 Menschen und verletzte 24 weitere. Auch er postete zuvor ein „Manifest” auf 8Chan, in dem er den Massenmord in Christchurch und die Verschwörungstheorie des „großen Austausches” als Motivation für seine Tat nennt. Nur eine Woche später stürmte ein 21-Jähriger in Oslo mit zwei Schrotflinten und einer Pistole bewaffnet eine Moschee. Ein 65-Jähriger überrumpelte ihn jedoch, bevor es zu Toten kommen konnte. Bevor er sich auf dem Weg zur Moschee machte, hat er seine Stiefschwester in ihrem Zuhause erschossen.  Vor dem Anschlag postete er auf dem Imageboard Endchan, er wäre „von dem Heiligen Tarrant erwählt” und sein Ziel wäre „bump the race war thread irl“, also den „Rassenkrieg“ in der offline Welt voranzutreiben. Auf 8Chan erschien der Post nicht, da die Plattform nach El Paso ihren Schutz durch Cloudflare vor online Angriffen verloren hatte und deshalb zu diesem Zeitpunkt nicht mehr online war.  Auch er versuchte die Tat mittels Facebook-Livestream zu übertragen, dieser wurde jedoch schon vor seinem versuchten Anschlag offline genommen.

Zwei Monate später, am 9. Oktober, versuchte Stephan Balliet die Syna­goge in Halle zu stürmen, scheiterte jedoch an der Holztür. Im weiteren Verlauf tötete er eine zufällig vorbeilaufende Passantin und einen Kunden in einem nahegelegenen Dönerladen, auf dem Weg verletzte er zwei weitere Personen. Seine „Manifeste” und den Link zu dem Livestream der Tat, über die hauptsächlich von Gamern benutzte Livestreamplattform Twitch, postete er drei Minuten vorher auf dem bisher wenig bekannten Anime-­Imageboard „Meguca”, dessen Beiträge sich jedoch ideologisch nicht von 8Chan unterscheiden.

Seine Wahl der Tatwaffen steht exemplarisch für einen Diskurs, den die nachfolgenden Täter seit Tarrant in ihren „Manifesten” führen. So begründete der Attentäter von El Paso in seinem „Mani­fest” seine Tat etwa damit, dass er es als seine Pflicht sehe in den USA zu handeln, denn obwohl Europa ähnlich angegriffen werde, hätten dort „die Menschen nicht die Waffenrechte, die nötig sind, um die Millionen von Invasoren, die ihr Land plagen, abzuwehren”. Als Antwort druckte der Täter von Halle seine Waffenteile mit einem 3D-Drucker, der für 150 Euro zu kaufen ist. Auf Meguca teilte er die Designs seiner Waffen und merkte an, das Besondere an seinen wäre, „er würde sie live testen”. Das sein Terroranschlag nicht zu mehr Toten geführt hatte, ist wohl auch durch das fehlerhafte Design seiner Waffen zu erklären, auch er selbst erklärt seine Waffen im Livestream als gescheitert.

Die plötzliche Explosion dieser Gewalttaten ist anschaulich durch die Popularität eines weiteren aus der Incel-Community entnommenen Memes zu erklären, die Black pill. Steht die Black pill unter Incels für die Erkenntnis, dass sie nie eine Partnerin finden würden, bedeutet es für Rechtsextreme, dass der große Austausch nicht mehr durch politische Lösungen zu verhindern sei. Um den „white genocide” zu verhindern, sei es notwendig durch Terrorakte einen Bürgerkrieg loszutreten.

Accelerationism

Unter diesen Bedingungen erfreut sich eine alte Ideologie neuer Beliebtheit: Acceleratio­nism. Diese ist nicht eine dem Rechtsextremismus alleinige Idee, als linke Interpretation ist es die Vorstellung, wenn der Kapitalismus eh in einen inhärenten Crash enden muss, warum diesen nicht durch einen Turbo-Kapitalismus früher herbeiführen. Für Rechtsextreme baut Accelerationism auf dem Gedanken auf, dass westliche Regierungen irreparabel korrupt seien und das Beste was sie tun können, ist, ihren Untergang zu beschleunigen, indem sie Chaos säen und politische Spannungen aufbauen. Sie lehnen es ab, politische Macht durch Wahlen zu erringen. Ihre bevorzugten Taktiken sind gewalttätige Angriffe auf ethnische Minderheiten und Juden, um ei­n­en „Rassenkrieg“ zu starten. Der Einsatz von Schusswaffen wird dabei bewusst gewählt, um mittels der Debatte um Waffenkontrollen weiter zu radikalisieren. Für sie sind die alt-right Feiglinge, die die Sache nicht selbst in die Hand nehmen wollen.

Wie die Neoreaktionären sehen sie die liberaldemokratische Grundordnung als Fehler. Für sie ist die erstrebenswerte Zukunft jedoch kein kapitalistischer Autoritarismus, sondern der totale Zusammenbruch einer von ihnen als degeneriert und korrupt wahrgenommenen westlichen Gesellschaft - und die Wiedergeburt einer neuen politischen Ordnung, ausgerichtet auf white supremacy. Ihre Hauptinspiration dafür, wie genau der Prozess der Beschleunigung vorangetrieben werden solle, stammte vom Neonazi-Schriftsteller James Mason und seinem in den 1980ern veröffentlichten News­letter „Siege”. Die rechtsterroristische Gruppe Atomwaffen Division hat dem Text neue Beliebtheit verschafft und sein Werk als Buch neu aufgelegt.

Für eine breitere Bekanntheit des Accelerationism der rechtsextremen Szene hat jedoch erst Tarrant gesorgt. In seinem „Manifest” erklärt er unter der Unterüberschrift „Destabilization and Accelerationism: tactics for victory”, warum er sich für seinen Anschlag entschieden hat: „Um den Pendelbewegungen der Geschichte Schwung zu verleihen, die westliche Gesellschaft weiter zu destabilisieren und zu polarisieren, um schließlich den gegenwärtigen nihi­listischen, hedonistischen, individualistischen Wahnsinn zu zerstören, der die Kontrolle über das westliche Denken übernommen hat“, denn „Die Veränderung, die wir bewirken müssen, entsteht nur im großen Schmelztiegel der Krise.

Auch im Manifest des Attentäters von Poway sind Elemente des Accelerationism zu finden: „Ich habe eine Waffe aus demselben Grund benutzt wie Brenton Tarrant.“ „Das Ziel ist, dass die US-Regierung Waffen beschlagnahmt. Die Menschen werden ihr Recht verteidigen, eine Schusswaffe zu besitzen - der Bürgerkrieg hat gerade erst begonnen.” Der Anschlag in Halle wurde im Meguca Imageboard ebenfalls als erfolgreicher weiterer Schritt für Accelerationism gefeiert.

Von Gamergate über die alt-right zu Accelerationism hat sich das auf junge Männer ausgerichtete  rechtsextreme Onlineangebot stark geändert. Dabei ist die Radikalisierung dieser jungen Männer stets fortschreitend und auch wenn es Versuche gab, den Online-Mob zu instrumentalisieren und in bestimmte Richtungen zu lenken, beweist er sich doch als unkontrollierbar. Dies zeigen etwa aktuelle Entwicklungen um den alt-right Alumni Nicholas Fuentes, der derzeit ein Aufbegehren gegen eine Anpassung an klassische konservative Kräfte organisiert und den wahren Charakter von „Make America Great Again“ für sich reklamiert. Dies führte soweit, dass seine Anhänger selbst Donald Trumps Sohn, Donald Trump Jr., auf seiner Buchtour von der Bühne buhten.

  • 1Der Begriff ist eine popkulturelle Referenz auf den Film Matrix, in welchem dem Protagonisten von einer Widerstandsgruppe das Angebot gemacht wird, entweder eine rote Pille zu nehmen, um die wahren Mächte sehen zu können, die seine Welt beherrschen, oder eine blaue, die ihn das Aufklärungsangebot vergessen macht. Nicht zufällig eignet sich Matrix für MRA-Projektionen, das „redpilling“ transformiert den weißen Beta Nerd zum Alpha Mann samt Machtressourcen und Sexualpartnerin.
  • 2Vgl. Ging, Debbie, Alphas, Betas, and Incels: Theorizing the Masculinities of the Manosphere, in: Men and Masculinities 19 (2017); Veronika Kracher, Die Incel-Szene und der Rechtsterrorismus, in: Antifaschistisches Infoblatt 124 (2019).
  • 3Rodger war nicht der erste misogyne Attentäter. Er ist jedoch innerhalb der beobachteten Gruppierungen ein dominantes Beispiel. Vgl. Alex DiBranco, „The Incel Rebellion“. Movement Misogyny Delivers Another Massacre, in: The Public Eye 1 (2018).
  • 4Vgl. James Desborough, Inside Gamergate. A social history of the gamer revolt 2017, 10.
  • 5An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass nicht alle MRAs, hardcore Gaming und Chan-Subkulturen diese Positionen vertreten.
  • 6Vgl. Jake Swearingen, Steve Bannon Saw the ‘Monster Power’ of Angry Gamers While Farming Gold in World of Warcraft, in: New York Magazine, vom 18.07.2017
  • 7Vgl. Bokhari, Allum/Yiannopoulos, Milo, An Establishment Conservative’s Guide To The Alt-Right in: Breitbart, vom 29.03. 2016.
  • 8Vgl. Bernstein, Joseph, Here‘s How Breitbart And Milo Smuggled White Nationalism Into The Mainstream, in: BuzzFeed, vom 05. 10. 2017.
  • 9Die anderen beiden sind Colin Liddells, A Normie’s Guide to the Alt-Right, in: Alternative Right, vom 25.08.2016, und der offen antisemitische, rasistische und rechtsextreme Guide des Neonazis und Begründers des Daily Stormers Andrew Anglin, A Normie’s Guide to the Alt-Right, in: The Daily Stormer, vom 31.08.2016.
  • 10Vgl. Zack Beauchamp, Accelerationism: the obscure idea inspiring white supremacist killers around the world, in: Vox, vom 18.11.2019.