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Das Vernichtungslager Sobibor. Die vergessene Revolte

Einleitung

Sobibor, im heutigen Ostpolen gelegen, war eines von drei Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«. Heinrich Himmler plante mit der Aktion die Ermordung von über eineinhalb Millionen Juden. Fast 250.000 Juden kamen von April 1942 bis Oktober 1943 in Sobibor um. Bei einer Häftlingsrevolte am 14. Oktober 1943 wurden 12 SS-Angehörige der Wachmannschaften getötet. Etwa 300 Häftlinge konnten fliehen, 50 von ihnen überlebten bis zum Kriegsende. Die SS-Angehörigen der »Aktion Reinhardt« wurden nach Italien (Trieste) versetzt und sämtliche Überreste des Lagers beseitigt. Die Spuren wurden so gut verwischt, dass noch 1966 bei einer Umfrage in Hagen, wo der größte Prozess gegen die Täter von Sobibor stattfand, eine Passantin auf die Frage: »Was wissen Sie von Sobibor?« antwortete: »Sobibor, ist das ein neues Waschmittel?«.  Im folgenden dokumentieren wir Auszüge aus dem neu vorliegenden Buch des Überlebenden des Aufstandes Thomas Toivi Blatt.

»Der erste Eindruck von Sobibor war harmlos: die gepflasterte Straße vom Haupttor war von hübsch gestrichenen Gebäuden gesäumt, umgeben von Rasenflächen und Blumenrabatten. (...)

Die Gaskammern, die sich in der äußersten nordwestlichen Ecke des Lagers befanden, waren mit Bäumen und Zäunen getarnt. Es war möglich, den ersten Teil des Transports zu vergasen, während die nächste Gruppe sich im Hof auszog.

Nachdem sie ihr Gepäck stehen gelassen hatten, wurden zuerst die Frauen und Kinder zu einer langen Baracke gedrängt. In dem Moment, wo sie das Gebäude betraten, wurden sie von jüdischen Arbeitern gebeten, die Wertsachen da zu lassen. In dem Moment, wo die Baracke leer war, öffnete eine Gruppe von Gepäckträgern die Türen zu den angrenzenden Schuppen und bündelte schnell die Berge von Wertsachen. Zu diesem Zeitpunkt war die nächste Gruppe von Juden auf dem Weg zum Hof und hörte sicherlich die Schreie der Vorgänger. Aber gemischt mit dem Röhren des Motors hörte sich das Geräusch an wie ein ferner Donner. Nur wir, die Arbeiter des Todeslagers mit schreckensstarren Herzen, kannten die Wahrheit. Wenn der Motor aufhörte, wurden die Gaskammertüren aufgeschwungen, ein Kommando von Gefangenen trennte die verkeilten Körper und warf sie in die Loren der Schmalspurbahn, die zum Verbrennungsareal führte.

Eine andere Gruppe säuberte die Kammer schnell. In kurzer Zeit war die Gaskammer wieder hergerichtet, um die nächste Gruppe von nichts ahnenden Opfern zu empfangen. (...)

Widerstand nahm in Sobibor viele Formen an. Im Spätsommer 1943 nahm der Untergrund Kontakt mit Alexander ´Sasha´ Aronowich Pechersky, einem inhaftierten Leutnant der Roten Armee, auf. In schneller Reihenfolge wurden verschiedene Flucht­­­pläne diskutiert. Zwei Tage später hatte sich ein Plan herauskristallisiert. (...) Der Kern der Organisation traf sich an jenem Abend in der Tischlerwerkstatt. Die Zahl der Eingeweihten sollte möglichst niedrig gehalten werden. 

Der Ausbruch sollte in drei Phasen erfolgen:
Phase I (15.30 bis 16 Uhr): Vorbereitung der Angriffsgruppen.
Phase II (16 bis 17 Uhr): Möglichst unauffällige Beseitigung der Nazis.
Phase III (17.30 Uhr): Mobilisierung aller Gefangener zum offenen Aufstand und anschließender Massenflucht. (...)

Konkret bedeutete dies: Innerhalb einer Stunde mussten so viele Nazis und Ukrainer wie möglich beseitigt und anschließend das Haupttor erstürmt werden. Der Plan hing vor allem davon ab, dass die Nazis blind darauf vertrauten, die totale Kontrolle über die Häftlinge zu haben. Zugleich beruhte er auf der Vorhersagbarkeit der täglichen Routine. Am meisten verließen wir uns auf die Habgier der Nazis sowie ihre wohl bekannte Pünktlichkeit. Sie sollten zu ihren Hinrichtungen unter den Vorwänden gelockt werden, dass wertvoller Schmuck oder feine Kleidung gefunden worden sei, die sie vielleicht selbst gerne haben wollten. (...)

Der 14. Oktober war ein sonniger Tag und nichts unterbrach die Routine. SS-Untersturmführer Niemann ritt einige Minuten früher heran und betrat die Schneiderwerkstatt mit einem Lächeln. Mundek stand bereit, die neue Uniform in der Hand. Nichtsahnend löste der Deutsche seinen Gürtel mit der Pistole und warf ihn auf den Tisch. Wie es bei Schneidern seit jeher üblich war, tätschelte auch Mundek den Deutschen und drehte ihn hin und her. Schließlich bat er ihn stillzustehen, während er Änderungen markierte. Da fiel der Schlag. Wie ein gefällter Baum fiel Niemann um, sein Schädel war gespalten. (...)

Sie brachten Niemanns Leiche weg und säuberten den blutigen Boden mit Lumpen. Shubayev rannte zu Sashas Posten und überbrachte die erste Pistole. Nun gab es kein Zurück mehr. (...) Vom Hauptturm in der Mitte von Lager II kam der Ton eines Horns, der das Ende des Arbeitstages ankündigte. Die Operation, die in strengster Geheimhaltung geplant und ausgeführt worden war, lief wie ein Uhrwerk. Von 16 Uhr an wurde im Durchschnitt alle sechs Minuten ein Deutscher getötet.  Auf Sashas Anweisung hin blies Pozyczki die Pfeife für den Appell. Die Nachricht vom Aufstand verbreitete sich nun in Windeseile. (...)

Die Mehrheit der Häftlinge teilte sich spontan in zwei Gruppen. Eine Gruppe erstürmte die Zäune in Lager I und versuchte verzweifelt den Stacheldraht zu durchtrennen ohne auf das Geknatter der Maschinengewehre zu hören. (...) Eine Gruppe landete zusammen mit mir zwischen den Zäunen an der Lagerperipherie. Vor uns befanden sich ein weiterer Stacheldrahtzaun und etwa 15 Meter Minenfeld. Wir blieben stehen. Jemand versuchte mit einer Schaufel ein Loch in den Zaun zu reißen. (...) Innerhalb kurzer Zeit stießen weitere Juden zu uns. Sie warteten nicht, bis sie an der Reihe waren durch die Zaunöffnung zu steigen, sondern kletterten auf den Zaun. Obwohl wir geplant hatten, die Minen mit Steinen und Holz zum Detonieren zu bringen, taten wir das nicht. Wir konnten nicht abwarten; wir zogen es vor sofort zu sterben, als auch nur einen Moment länger in der Hölle zu bleiben. Ich hatte erst den halben Weg durch den Zaun geschafft, als er zusammenbrach und auf mich niederstürzte. Dies rettete mir wahrscheinlich das Leben, denn während die Menge über mich hinwegtrampelte, sah ich Sekunde für Sekunde Minen explodieren. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich früher durch den Zaun gelangt wäre, ebenfalls umgekommen wäre. (...)

Nun musste ich es noch in den Wald vor mir schaffen. Ich fiel einige Male hin und jedes Mal stand ich wieder auf und rannte weiter ... und endlich der Wald. Hinter mir – Blut und Asche. In der Dämmerung des nahenden Abends schossen die Maschinengewehre aus den Türmen auf ihre letzten Opfer.

Inmitten des Tumultes machte Jakub Biskubicz sich unbemerkt auf den Weg zur Nordseite, wo er sich im Gebüsch versteckte. In der Nacht erklomm er einen leeren Wachturm und sprang über den Zaun in die Freiheit. Er war vermutlich der letzte Jude, der Sobibor lebend verließ.«

Toivi Blatt
Sobibor – die vergessene Revolte
Unrast-Verlag 2003
reihe antifaschistische texte Hamburg
16 Euro
ISBN 3-89771-813-8.