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Der Brandanschlag in Solingen

LOTTA – antifaschistische Zeitung aus NRW Rheinland-Pfalz und Hessen
Einleitung

Ein Überblick anlässlich des 20. Jahrestages

»Ein Kind flog im Traum in das unendliche Blau. Ein Kind flog im Traum voller Hoffnung über grüne Wiesen. Ein Kind fiel auf seine Flügel. Es verbrannte, das Kind. Es brannte. Es war kein Traum. Nein, es war kein Traum. Was verbrannte, war unsere Hoffnung. Was verbrannte, waren unsere Kinder, unsere Frauen. Jetzt brennt es in uns.« 
 

Foto: redpicture

Anlässlich des 20. Jahrestag des Brandanschlages demonstrierten am 25. Mai 2013 mehr als 2000 Menschen in Solingen.

Dieses Zitat stammt aus der Rede von Taner Aday auf einer Großdemonstration am 5. Juni 1993 in Solingen. Bei einem rassistisch motivierten Brand-anschlag auf das Haus der Solinger Familie Genç waren in der Nacht auf den 29. Mai 1993 fünf Menschen ermordet worden, weitere Bewohner_innen wurden schwer verletzt. Trotz der sofort angerückten Feuerwehr kam für Saime Genç (4), Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (12), Hatice Genç (18), Gürsün Ince (27) jede Hilfe zu spät. Drei von ihnen verbrannten, die anderen beiden starben nach einem Sprung aus dem Fenster.

1970 war Durmus Genç aus dem Norden der Türkei nach Deutschland gekommen, angeworben als »Gastarbeiter«. 1973 folgte Ehefrau Mevlüde, nach und nach auch ihre fünf Kinder. Zwei weitere Kinder wurden in Solingen geboren. Inklusive drei Schwiegersöhnen, einer Schwiegertochter, sechs Enkelkindern und einer Nichte, die gerade in Deutschland zu Besuch war, wohnten im Mai 1993 20 Menschen in dem Haus auf der Unteren Wernerstraße, 19 waren zum Zeitpunkt des Anschlages zu Hause. Durmus Genç erreichte die Nachricht während seiner Nachtschicht in einer Fabrik.

Die Täter

Bereits in der Nacht auf den 30. Mai wurde einer der Täter festgenommen: der 16-jährige Christian R., der schräg gegenüber des Tatorts in der Wohnung seiner Mutter lebte und schon zuvor durch rassistische Aktionen und Äußerungen aufgefallen war. Am Vortag der Tat hatte er gegenüber Freunden angekündigt, dass das »Türkenhaus« bald brennen werde. Und so kam es dann auch. Nachdem er am 28. Mai mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten in einer Kneipe gezecht hatte, zog er noch einmal alleine los, scheinbar ziellos, aber offenbar sein Vorhaben vor Augen. So etwas alleine zu machen, würde ihm aber keinen Spaß machen, äußerte er später in einer seiner Vernehmungen. In der Stadt traf er den Ermittlungsergebnissen zufolge zufällig auf Markus G. (23), Christian B. (20) und Felix K. (16) – alle drei Teil einer rechten Jugendclique –, die ebenfalls ziellos und alkoholisiert unterwegs waren, nachdem sie zuvor auf einem Polterabend in einer Gaststätte ein Hausverbot kassiert hatten und von – so glaubten sie zumindest – »zwei Türken« rausgeworfen worden waren. Anschließend besuchten sie einen Freund. Und stießen dann später in der Stadt auf Christian R., der eher als Außenseiter galt und nicht der Clique angehörte. Alle vier gehörten einer lokalen rechten Jugendszene an, die sich vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen rassistischen und nationalistischen Klimas Anfang der Neunziger insbesondere in ihrem Hass auf »Ausländer« verbunden fühlte und zunehmend auch Zugang in organisierte Neonazi-Kreise fand. Einig war man sich darin, auch in Solingen »mal was gegen die vielen Ausländer machen« zu müssen. Schon vor dem Anschlag hatte es vor Ort rassistische Bedrohungen und Angriffe gegeben, die Vorfälle häuften sich. Und offenbar passte in der Nacht auf den 29. Mai alles zusammen. Man wurde sich schnell einig und zog los, laut Markus G. um  »die Türken zu erschrecken«, damit diese dann Deutschland verlassen. Während zwei von ihnen Schmiere standen, schütteten die anderen spätestens um 1.30 Uhr mehrere Liter Benzin im Windfang des Hauses aus und zündeten es an. Anschließend entfernten sie sich vom Tatort.

Am 3. Juni 1993 gestand dann auch der von der Polizei vernommene Markus G. seine Tatbeteiligung und nannte die Namen seiner drei Mittäter. Sein Geständnis wich jedoch deutlich von dem des geständigen Christian R. ab, der – ohne Nennung seiner tatsächlichen Mittäter – verschiedenste Versionen präsentiert hatte. Letztendlich hatte sich R. darauf festgelegt, er habe die Tat alleine begangen. Nach dem Geständnis von G. räumte er nun ein, die Tat zusammen mit diesem sowie den anderen von G. genannten Personen begangen zu haben. Vor Gericht folgte dann später wieder die Einzeltäterversion. Hierbei blieb er dann. Aufgrund der Aussage von G. wurden dann auch Felix K. und Christian B. festgenommen. Beide bestritten die Tat, auch später während des Prozesses und ihrer Haftzeit – soweit bekannt bis heute.

Der DHKKV

Eine besondere Rolle – sowohl bei der weiteren Politisierung und Radikalisierung der späteren Täter, als auch bei deren  Annäherung an die organisierte Neonazi-Szene – spielte die Solinger Kampfsportschule »Hak Pao« bzw. der angebundene »Deutsche Hochleistungskampfkunstverband« (DHKKV). Sowohl Markus G. als auch Felix K. und Christian B. traten im Sommer 1992 dem DHKKV bei und nahmen an Trainingseinheiten teil, die hauptsächlich von Neonazis frequentiert wurden. Christian R. hatte eine Mitwirkung zwar in Erwägung gezogen, diese aber nie vollzogen.

Die Kampfsportschule um den 17-fach vorbestraften Solinger Bernd Schmitt geriet bereits 1991 ins Visier von Antifaschist_innen. War Schmitt bis dahin hauptsächlich durch kriminelle Machenschaften, sein profilneurotisches und angeberisches Gebaren und seine Rauswürfe aus renommierten Kampfsportverbänden aufgefallen, aber nicht durch neonazistisches Engagement, so war ab Herbst 1991 eine Orientierung auf die extrem rechte Szene festzustellen. Eine wichtige Rolle hierbei spielten drei im DHKKV mitwirkende örtliche Neonazis, die über die nötigen Kontakte verfügten. Dies drückte sich einerseits darin aus, dass Schmitts Truppe immer häufiger von extrem rechten Gruppierungen mit Saalschutzaufgaben betraut wurde, andererseits darin, dass seine Kampfsportschule immer mehr zum bundesweiten Sammelpunkt extrem rechter Akteure wurde, die nach Möglichkeiten suchten, sich und/oder ihre Kameraden für den Straßenkampf ausbilden zu lassen. Ganz besonders angetan von Schmitt war der NF-Vorsitzende Meinolf Schönborn, der seine Stunde beim Aufbau seines »Nationalen Einsatzkommandos« (NEK) gekommen sah. Der DHKKV übernahm quasi die Organisationsstruktur und Aufgaben, die für das NEK der dann Ende 1992 verbotenen NF vorgesehen waren. In der Kampfsportschule sammelten sich unter der Leitung von Schmitt bundesweite neonazistische Prominenz, sich als SA verstehende militante Neonazis und rechte Solinger Jugendliche. Bei letzteren nahm Schmitt offenbar eine Art Vaterrolle ein, er kümmerte sich um Probleme des täglichen Lebens, erwartete aber Unterordnung. Nichtrechte Personen, die ihn damals kennenlernten, beschreiben seine Auftritte in Begleitung von Bodyguards als mit denen eines Zuhälters vergleichbar. Zumeist ungefragt betonte er, dass er nichts gegen »Ausländer« habe, in seiner Kampfsportschule würden sogar einige trainieren. Ob Schmitt politische Ambitionen hatte oder aber – was wahrscheinlicher ist – seine Profilneurose und die Hoffnung auf eine schnelle Mark im Vordergrund standen, konnte nie wirklich geklärt werden. Sicher ist, dass unter seiner Leitung militante neonazistische Strukturen weiter ausgebaut, Neonazis in Waffentechniken und Kampf-sportarten trainiert, extrem rechte Gruppen zum Aufbau eigener »Truppen« animiert und Jugendliche an die organisierte Neonaziszene herangeführt wurden. Nach dem Anschlag warnte er sogar die Clique um Markus G., Felix K. und Christian B. vor Hausdurchsuchungen und gab ihm vorliegende Hinweise auf Christian R. als möglichen Täter nicht weiter.

Der Verfassungsschutz (VS)

Viel ist seit dem Bekanntwerden des NSU darüber geschrieben worden, um welchen Preis die deutschen Inlandsgeheimdienste V-Leute in der Neonazi-Szene »führen«, ohne dass die neonazistische Szene hierdurch geschwächt und massive Straftaten verhindert werden – ganz im Gegenteil. Ähnliches geschah in Solingen. Fakt ist, dass Bernd Schmitt, der schon zuvor enge Kontakte zur Wuppertaler Polizei pflegte, seit dem 3. April 1992 zunächst als »Gelegenheitsinformant«, später als V-Mann für den VS NRW tätig war. Dieser hatte begierig zugegriffen, nachdem sich der stets finanziell abgebrannte Schmitt angeboten hatte, schließlich hatte der VS große Schwierigkeiten, V-Leute in die Nähe von Schönborn zu platzieren. Offiziell bekannt wurde Schmitts V-Mann-Tätigkeit, als er am 3. Juni 1994 vor dem Düsseldorfer OLG als Zeuge aussagen und hierfür erst eine Aussagegenehmigung seines Dienstherrn einholen musste. Das NRW-Innenministerium gab ihm volle Rückendeckung. Schmitt sei »nachrichtenehrlich und zuverlässig« und habe sich »szenetypisch« verhalten. Hierfür wurde ihm ein Monatsgehalt, vergleichbar dem eines »Arbeiters am Hochofen«, gezahlt. Den zum Mitgliederverband ausgebauten DHKKV hatten der VS und Schmitt offenbar als Pool zur Abschöpfung von Informationen angesehen, quasi als Kristallisationspunkt, der extrem rechte AkteurInnen anlocken sollte, um über sie Informationen zu sammeln. Dass diese dabei zunehmend rechte Jugendliche agitierten und integrierten, spielte keine Rolle. Und was von Schmitts »Nachrichtenehrlichkeit« zu halten ist, zeigte seine Äußerung vor Gericht, dass er in Solingen gerade einmal zwei bis drei »Rechtsextremisten« kennen würde, der Rest sei unpolitisch und hätte eher ein Alkoholproblem. Möglicherweise entsprach das aber auch seiner tatsächlichen Wahrnehmung, was Rückschlüsse darauf zuließe, wieso das Innenministerium in Solingen keine extrem rechte Szene erkennen konnte – oder wollte. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und Bürgerrechtsaktivist mit Schwerpunkt auf Geheimdienste, fasste Schmitts Rolle wie folgt zusammen: »Bernd Schmitt […] hat im Zusammenhang mit dem Solinger Brandanschlag nicht nur nichts verhindert […] Auch im Nachhinein hat er praktisch nichts aufklären können, im Gegenteil, er hat einen wichtigen Personenhinweis auf die Täter nicht weitergereicht, hat durch seine Warnung vor Hausdurchsuchungen und die Verschleppung von Akten verdächtigen Inhalts hochgradige Verdunkelung betrieben. Mit der Existenz und durch das Verhalten des V-Manns Schmitt sind die Ermittlungen des Solinger Mordanschlags erheblich verkompliziert und stark belastet worden […].«

Der Prozess und das Urteil

Der international beachtete Prozess gegen die vier Angeklagten startete am 13. April 1994 vor dem OLG Düsseldorf. Die Anklage lautete auf fünffachen Mord, 14-fachen Mordversuch und besonders schwerer Brandstiftung aus niederen Beweggründen. Erst am 13. Oktober 1995 wurde nach 127 Prozesstagen ein Urteil gesprochen, nachdem es zuvor zu diversen Komplikationen gekommen war. Markus G. hatte zunächst fast zwei Jahre lang an seinem detaillierten und glaubwürdigen Geständnis festgehalten und sich sogar am 14. Januar 1994 schriftlich bei den Überlebenden der Familie Genç entschuldigt.

Am 80. Prozesstag zog er sein Geständnis völlig unerwartet zurück. Er sei an der Tat nicht beteiligt gewesen und damals zu dem Geständnis genötigt worden. Christian R. blieb bei seiner letzten Version, dass er die Tat alleine begangen habe, die anderen beiden hatten eine Tatbeteiligung von Beginn an bestritten und blieben dabei. Letztendlich kassierte G. 15 Jahre, die anderen eine zehnjährige Jugendstrafe. Entscheidend bei der Verurteilung von Markus G., Felix K. und Christian B. war das nach Auffassung des Gerichtes authentische und auf Täterwissen basierende detaillierte Geständnis von G., dessen Widerruf als unglaubwürdig bewertet wurde. Letztendlich aber wurden die drei, insbesondere Felix K. und Christian B., auf Grundlage von Indizien verurteilt, was nicht ohne Folgen blieb.

Zweifel an der Täterschaft und Abgründe beim Umgang mit den Opfern

Bis heute halten sich Positionen, dass zwei oder drei Unschuldige verurteilt wurden. Auch in Solingen gibt es nicht wenige Menschen – auch im linken Spektrum –, die der Auffassung sind, es habe zumindest teilweise »die Falschen erwischt« und es sei entgegen der Regel »in dubio pro reo« verurteilt worden. Wichtige Fragen blieben für sie im Laufe des Prozesses nicht ausreichend beantwortet: Wo und wann besorgten sich die Verurteilten das Benzin und wann wurde der Brand frühestens gelegt? Ist dieser Zeitpunkt in Einklang zu bringen mit einem belegbaren Ort und Zeitpunkt des Aufeinandertreffens der vier Beschuldigten? Über einen Kumpel, den sie in der Nacht auf den 29. Mai besuchten, hatten Markus G., Felix K. und Christian B. auch versucht, sich ein Alibi für die Tatzeit zu besorgen, was letztendlich an Widersprüchen sowie an dessen Unglaubwürdigkeit und temporären Widerruf scheiterte.

Hatten Christian R. und Markus G. im Juni 1993 alle Angaben freiwillig gemacht und Täterwissen präsentiert, ohne dass ihnen Aussagen des jeweils anderen Beschuldigten vorgehalten worden waren? Schließlich standen die Ermittlungsbehörden unter einem hohen Druck, möglichst schnell Täter zu präsentieren. Fragen, die 1993 bis 1995 auch diverse Antifaschist_innen beschäftigten. Bei der Suche nach Hinweisen auf bisher unbekannte TäterInnen erwiesen sich jedoch alle »Spuren« als völlig unergiebig. Insbesondere die Eltern und Verteidiger von Felix K. und die Verteidiger von Christian B. nutzten alle Möglichkeiten, Zweifel an der Schuld der beiden bzw. drei zu nähren und sie als Opfer darzustellen. Hierbei wurden alle möglichen Wege beschritten, auch einige Medien ließen sich hierbei vor den Karren spannen. Und leider gerieten hierbei die tatsächlichen Opfer zunehmend in den Hintergrund, zumindest temporär auch bei Antifaschist_innen. Hinzu kam durch nichts belegtes Gerede in Solingen und auf den Gerichtsgebäudefluren über einen möglichen Versicherungsbetrug der Familie Genç sowie gefakte und skandalöserweise sogar vom Vorsitzenden Richter in den Prozess eingeführte »Hinweise« in Form einer erkennbar gefälschten notariell beglaubigten eidesstattlichen Erklärung, dass »Berliner Türken« das Haus angezündet hätten, da einer der Genç-Söhne eine Berliner Türkin vergewaltigt habe. All dies trug mit dazu bei, das Leid der überlebenden Opfer noch weiter zu vergrößern. Am 101. Prozesstag wandte sich Mevlüde Genç deshalb persönlich an das Gericht: »Sie haben es zugelassen, dass meine Familie ein weiteres Mal verbrannt wird […].«

Was ist geblieben?

»Bis heute wird an nicht wenigen Stammtischen – wenn es um den Brandanschlag geht – vor allem über den ›Türkenaufstand‹ geredet«, so Frank Knoche, seit vielen Jahren im antirassistischen »Solinger Appell« engagiert, in einem Interview mit der Antifa-Zeitung LOTTA. Gemeint sind damit die tagelangen Proteste türkischer Migrant_innen nach dem Anschlag. Eine nachhaltige Sensibilisierung gegen Rassismus sei in Solingen nicht feststellbar, meint Taner Aday, 1993 Sprecher des unmittelbar nach dem Anschlag gegründeten »Solinger Appells«: »Die Täter wurden gefasst, sie haben ihre Strafe bekommen, und dann bemühte man sich zu vergessen.« Durchgesetzt zu haben scheint sich nach anfänglichen Bemühungen, interkulturelle Konzepte zu entwickeln, das Interesse der Stadt Solingen, ihr Image aufzupolieren und negative Schlagzeilen zu vermeiden. Kritische Stimmen werden folgerichtig schnell als Nestbeschmutzung wahrgenommen. Frank Knoche nennt ein Beispiel, was hieraus folgen kann: Nach langer Zeit sei ein Platz in Solingen nach demjenigen türkischen Ort benannt worden, aus dem die Familie Genç stammt und in dem die Opfer des Anschlages beerdigt wurden: der Mercimek-Platz. Knoche: »Man hat sich aber nicht getraut – wie in Frankfurt oder Bonn – einen Platz oder eine Straße nach den Opfern zu benennen. Meine These: Allein schon wegen der türkischen Schreibweise wären die Schilder demoliert oder beschmiert worden, was dann schlechte Nachrichten zur Folge gehabt hätte. Und deswegen hat man sich gar nicht mehr richtig damit auseinandergesetzt. Man wollte es unter der Decke halten.«

Dieser Artikel ist eine überarbeitete Version eines Beitrags aus LOTTA – antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen (www.lotta-magazin.de), Nr. 50, Winter 2012/2013), Nr. 50, Winter 2012/2013