Der Tod von Rudolf Heß
Rückblick: Am 17. August 1987 beging der inhaftierte Nazifunktionär Rudolf Heß im Westberliner Kriegsverbrechergefängnis mit einem Verlängerungskabel Suizid. Heß hatte zuvor schon mindestens zwei vergebliche Selbstmordversuche unternommen. So stürzte er sich 1941 von einem Balkon in Mytchett Place. Im Jahre 1977 versuchte er, sich mit einem Tafelmesser die Pulsadern aufzuschneiden. Alt- und Neonazis begannen sofort Heß zu einer Identifikationsfigur aufzubauen und den Selbstmord in Zweifel zu ziehen. Das Antifaschistische Infoblatt Nr. 2, Dezember 1987 berichtet über die Vorgänge nach Heß seinem Ableben.
„ (...) Der Gefühlssud, der da hochkocht, hat mich in keiner Weise überrascht. Dieses gewaltige Trauer-Mitleid entspricht der inneren Beziehungslosigkeit zum Leid der Nazi-Opfer. Und diese Beziehungslosigkeit wiederum ist charakteristisch für das Verhältnis der bundesdeutschen Gesellschaft, oder doch ihrer Mehrheit, zum NS-Erbe. Viele der Leute, die jetzt um den Spandauer toten in Tränen ausbrechen, haben jahrzehntelang ihre Unfähigkeit zu trauern stramm durchgehalten. Nun plötzlich zeigen sie Gefühle – beim Tod des höchsten Nazi nach Hitler.“ (Ralph Giordano)
Rudolf Heß – Hitler-Stellvertreter, Mitinitiator der Nürnberger Rassengesetze, ist tot. Stellvertretend saß er für all die Schreibtischtäter und Metzgergesellen, die in den Jahren nach 1945 nicht nur ungeschoren blieben, sondern ihr Comeback in Politik, Wirtschaft, Polizei uns Militär feiern konnten. Wäre es nach den bundesdeutschen und West-Berliner Politikern von CDU, FDP, SPD und sogar Teilen der Grünen gegangen wäre, hätte Heß nicht bis zu seinem Ende gesessen. Ein Zeichen der Versöhnung mit der deutschen Vergangenheit – dem größten Massenmord in der Geschichte – wäre gesetzt.
Heß allein in Spandau
Ab 1966 also war Heß der einzige Häftling im Spandauer Knast, wo er im monatlichen Wechsel von 40 Soldaten der jeweiligen Siegermacht bewacht wurde. Das Spandauer Knastgebäude wurde 1978-79 als Festungsgebäude errichtet und diente bis 1919 ausschließlich als Militärhaftanstalt (mit Platz für 2500 Gefangene). Zur Zeit der Weimarerer Republik war es mit Zivilegefangenen belegt. Ab 1939 diente es den Nazis als Untersuchungsgefängniss für politische Häftlinge auf dem Weg in die Konzentrationslager. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Bau von den Briten beschlagnahmt und zum allierten Kriegsverbrechergefängnis mit 600 Zellen umgebaut, diwe bis auf 7 nie belegt wurden. Nach Heß' Selbstmord wurde die allierte Knastverwaltung am 21. August 1987 aufgelöst. Übrig bleibt jetzt noch die allierten Luftsicherheitszentrale, die den Flugverkehr koordiniert. Ein Beschluß der Allierten Kommandantur vom 18. Oktober 1946 schreibt vor, das Gefängnis nach Heß' Ableben innerhalb von 48 Stunden dem Erdboden gleichzumachen, um zu verhindern, daß es zu einer Kultstätte der Alt- und Neonazis wird, zumal es während der letzten Jahre in Spandau häufig zu Neonaziaufmärschen kam. Im Oktober 1986 wurde von einem „Befreiungskommando Rudolf Heß“ ein Sprengstoffanschlag auf eines der Nebengebäude verübt. Unmittelbar nach der Nachricht von Heß' Tod erhielt dann auch eine Westberliner Abrißfirma eine telefonische Bombendrohung, in der eine weibliche Stimme der Firma ankündigte, daß sie „heute Nacht in die Luft fliegen“ werde. Die Abrißarbeiten wurden jedoch erst mehrere Wochen später begonnen, so daß die Alt- und Neonazis in aller Ruhe zum Knast wallfahren gehen konnten.
(Neo)nazipilgerstätte mit Polizeischutz
So trafen allabendlich circa 200 Alt- und Neonazis mit Fackeln, Reichswehrfahnen etc. in mehreren Prozessionen ein und pilgerten zum Absperrgitter am Knasttor, wo sie beim Absingen der ersten Strophe des Deutschlandliedes Kränze niederlegten und mit Entbieten des „deutschen Grußes“ den Verstorbenen würdigten. Durch die scharenweise angereisten Journalisten wurde diesen dabei öfters Gelegenheit zu einer ausführlichen Selbstdarstellung gegeben (zum Beispiel dem FAP'ler Reinhard Golibersuch im SFB). Die Polizei sah den Aufmärschen vor der Zitadelle wie immer tatenlos zu beziehungsweise waren so freundlich, die Trauerbuckets der vor dem Sperrgitter harrenden Neonazis vor das Gefängnistor zu legen. Der Respekt vor dem Tod als solchem gebot natürlich, in Bezug auf die Trauergemeinde, äußerste Sensibilität walten zu lassen. Entsprechend pietätsvoll gestand Senatssprecher Winfried Fest (CDU)1 den „Leidtragenden“ Meinungsfreiheit zu und gab Garantie, daß deren Freunde und Helfer „nur bei Gewaltszenen eingreifen“ würden. Die Allierten versäumten auch diesmal, entsprechend den Kontrollratgesetzen, die jedes Zeigen von NS-Symbolen in West-Berlin unter Strafe stellen, der Polizei Anweisung zu geben, die Gedenkaltäre und das Verteilen von neonazistischen Schriftgut vor dem Spandauer Knast zu verbieten. Dass anno 1945 „das falsche Schwein geschlachtet“2 wurde, scheint man nato-weit längst verinnerlicht zu haben.
Heß-Gedenken in der Bundesrepublik ...
Auch in Westdeutschland traten die Neonazis auf den Plan. Quer durch die BRD Schmierereien mit Heß Parolen. In Hamburg zogen circa 30 mit Fackeln vor die Generalkonsulaten von den USA und Großbritannien. In Bielefeld fuhren circa 15 Neonazis von ihrem Zentrum in der Bleichstrasse 143 per Mietwagen zur Rippon-Kaserne und führten dort ihren gewohnten Spuk mit Hymnesingen und Fahnenschwenken durch. Verfassungsschutz Präsident Gerhard Boeden meinte dazu im Saarländischen Rundfunk, man wisse, daß sich „Neonazis und Rechtsextremisten aus gegebenen Anlaß kurzfristig zusammentun“, und sie seien „ohne terroristische Struktur, aus dem Stand heraus in der Lage zu handeln“. (...) Beim politischen Rechtsextremismus in der Bundesrepublik sei allerdings eine merkbare Verstärkung festzustellen. So auch Friedrich Zimmermann (CSU) vor einigen Wochen auf der Innenministerkonferenz.
Neonazis radikalisiert
Auszug aus einem Interview des „Stern“ mit Michel Swierczek, Führungsmitglied der FAP: „Ich gehe davon aus, daß wir heute die Speerspitze des nationalen Widerstandes in der BRD sind, und daß sich die Szene nach dem Ableben von Rudolf Heß erheblich radikalisieren wird, daß die FAP in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige Rolle spielen wird, ganz einfach, weil sie innerhalb des extrem rechtsradikalen Spektrums die bedeutendste Organisation ist. Und ich gehe als Nationalsozialist natürlich davon aus, daß sich die Leutchen früher oder später um die radikalste Organisation scharen werden. Und vor allen Dingen, was wir ja vorher nicht so hatten, die Unterstützung insbesondere älterer Kameraden finden.“ Es blieb nicht bei Trauerreden. In Frankfurt wurden zwei Neonazis (18- und 19 jährig) festgenommen, als sie in der Nacht zum 20. August 1987 am Hauptbahnhof einen Spreng- und Brandsatz in Schließfächern deponiert hatten. Beide sind Mitglieder der Wiking-Jugend, der Jüngere zusätzlich NPD'ler. Düsseldorf: Ins Büro der SPD-Jugendorganisation „SJD - Die Falken“ fliegt ein Brandsatz, auf den Schaukasten sprühen die Täter „Rache für Heß“. In Uelzen trommelt der Nazi Hans-Herbert Meyer (77) sofort nach Eintreffen der Todesnachricht 23 „ordentliche Deutsche“ aus der näheren Umgebung zusammen und veröffentlicht (inclusive Unterschriften) folgende Annonce im Uelzener Anzeiger: „Der Mann, der durch den historischen Flug nach England sein Leben für den Frieden einsetzte, Rudolf Heß, hat seinen Kampf für Deutschland bis zum bitteren Ende bestanden.“ und weiter: „Wir werden ihm das Denkmal setzen, das seine Feinde ihm verwehren wollen. Wir sind vielleicht die letzten von gestern, aber wir sind auch die ersten von morgen.“ Laut Aussage der Beteiligten ernteten diese daraufhin „säckeweise zustimmende Post“.
Heßgedenken international ...
In Wien forderten circa 30 Anhänger des „Trauerkomitees Rudolf Heß“ vor der britischen Botschaft „Rache für Heß“ und beklagen sein „Tragisches Ableben“. In Madrid und Barcelona hat die neonazistische Organisation CEDADE, die sich als Verteidiger „biologischer Werte und des Idealismus“ bezeichnet, Plakataktionen zum Thema finanziert. Italiens Rechtsradikale forderten schon vor Monaten den Friedensnobelpreis für Heß. Reaktionen gab es weltweit, bis hin nach Südafrika und Australien (Aufmärsche, Protestschreiben, Traueranzeigen ...). Es würde den Rahmen sprengen, dies ausführlich zu dokumentieren.
Tumulte beim Begräbnis
Im Vorfeld des Begräbnisses kam es außerdem zu einiger Verwirrung. So war allgemein angenommen worden, daß die Leiche verbrannt und ihre Asche verstreut werde. Dieser alte Beschluß wurde 1982 jedoch durch einen neuen, geheimen, ersetzt, demzufolge die Leiche nicht verbrannt, sondern den in Wunsiedel ansässigen Angehörigen zur Bestattung übergeben werden solle, wo ein Familiengrab der Heßfamilie existiert. Am festgesetzten Beerdigungstag versammelten sich hunderte Alt- und Neonazis vor dem von der Polizei abgesperrten Friedhof in Wunsiedel, unter ihnen auch der Gründer der „Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands“ (VSBD), Friedhelm Busse, und der Gründer der „Bürgerinitiative gegen Kriegsschuld und antideutsche Greuellügen“, Edgar Geiß, und wußten nicht wohin mit ihren Kränzen. Dort kam es dann zu Rangeleien mit Polizisten und Journalisten, als bekannt wurde, daß die Heßleiche schon vorher an unbekanntem Ort verscharrt worden sei. Insgesamt wurden in Wunsiedel über 1.000 empörte Alt- und Neonazis vorläufig festgenommen.
Zurück nach Spandau
Wenn die Abrißarbeiten am Backsteinbau beendet sind, soll auf dem Gebäude ein Einkaufs- und Freizeitzentrum für britische Militärangehörige entstehen. (Laut „Tagesspiegel“ ist bereits ein lukrativer Handel um den Bauschutt der ehemaligen Zitadelle im Gange, Käufer der begehrten Ziegel finden sich vor allem in den USA ...) Der vor Jahren von einigen Gruppen ausgearbeitete und von den UDSSR favorisierte Plan, den Komplex in ein Antikriegsmuseum mit Gedenkstääte umzugestalten, wurde zurückgewiesen. Ebenso verfahren wurde mit dem Vorschlag, das Gebäude in ein Forschungszentrum zur Geschichte des deutschen Faschismus umzuwandeln. Wenden wir uns zum Abschluß noch ein paar Dokumenten aus der bürgerlichen Presselandschaft zu: So schreibt der „Tagesspiegel“ vom 28. August „ (...) Heß gehörte zu den Vorreitern der braunen Bewegung, die unermeßliches Leid über die Völker Europas einschließlich des deutschen Volkes und den Untergang des deutschen Reichs heraufbeschwor“. (...) Der „Spiegel“ titelt (...): „Hitlers letzter Gefolgsmann tot“. Im Artikel selbst wird Heß fast noch zum Widerständler erklärt, da er „nicht mit allem einverstanden“ gewesen sei und „sogar skeptische Anwandlungen Hitlers Methoden gegenüber“ gezeigt habe. Mit beispiellosem Zynismus wird der „alllierten Einzelhaft für den NS-Greis“ der „in den letzten Jahrzehnten humanisierte Strafvollzug der BRD“ gegenübergestellt, wo eine „Verurteilung zu lebenslanger Haft nur noch in den seltensten Fällen tatsächlich Isolierung bis in den Tod“ bedeute. (...) Der Londoner „Daily Express“ schrieb (...) unter der Überschrift „Hanging was 41 years to late“ (41 Jahre zu spät gehängt) (..), die Allierten hätten Heß schon nach den Nürnberger Prozessen diese Mühe abnehmen sollen ...
- 1Senatssprecher Winfried Fest ersann den legendären Begriff der „Anti-Berliner“, für diejenigen West-Berliner, die sich dem organisierten Jubel von 750-Jahr-Feier und der Europäischen Kulturhauptstadt 1988 versagten.
- 2Ein angeblich aus dem Jahr 1945 stammendes und Winston Churchill zugeschriebenes Zitat besagt in Bezug auf Josef Stalin und Adolf Hitler: »Wir haben das falsche Schwein geschlachtet.«