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Solidarität organisieren: Verfahren gegen Antirassisten in Stuttgart

Einige aus dem Stuttgarter Solikreis
Einleitung

Am 4. August 2011 wurde der Antifaschist Chris in Stuttgart-Heslach verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Vorgeworfen wurde ihm die Beteiligung an Protestaktionen gegen ein rassistisches Aktionswochenende und eine Veranstaltung der Partei »Die Freiheit«.

Proteste gegen Rassistenwochenende

Anfang Juni 2011 lud die »Bürgerbewegung Pax Europa e.V.« zu einem »Islamkritischen Wochenende« in Stuttgart ein. Geplant waren neben Workshops und Seminaren eine Auftaktkundgebung am Donnerstagnachmittag auf dem Stuttgarter Schlossplatz sowie eine Parade am Sonntag. Personell und zeitlich eng verknüpft sollte ebenfalls am Sonntag der Gründungsparteitag des Landesverbands der rechtspopulistischen Partei »Die Freiheit« stattfinden.

Das Bündnis »no racism in Stuttgart« organisierte am Donnerstagmittag eine Demonstration. Im Anschluss zog ein Großteil der Teilnehmer_innen zum Stuttgarter Schlossplatz. Dort wurde die Bühne der »Bürgerbewegung Pax Europa e.V.« kurzerhand besetzt. Nachdem die Polizei diese gewaltsam geräumt hatte, konnten die Redner rund um den aus den USA angereisten Robert Spencer nur unter lautstarkem Protest und massivem Polizeischutz eine stark gekürzte Kundgebung abhalten. Die etwa 50 TeilnehmerInnen des »Islamkritischen Wochenendes« mussten aus Sicherheitsgründen hinter der Bühne bleiben.

Die für Freitag und Samstag angekündigten Seminare und Workshops konnten aufgrund des öffentlichen Drucks nicht in den ursprünglich angedachten städtischen Räumen stattfinden. Kurzfristigen Ersatz bot die rechts-katholische Piusbruderschaft in ihrer Deutschlandzentrale in Stuttgart-Feuerbach. Aufgrund einer antirassistischen Kundgebung musste am Samstag auf das vergleichsweise teure Abacco Hotel im Industriegebiet Korntal-Münchingen zurückgegriffen werden. Aufgrund der verdeckten Mobilisierung und den begrenzten Platzkapazitäten des Hotels ist von maximal 40 TeilnehmerInnen auszugehen.

Die für Sonntag angekündigte »Salute Israel Parade« wurde nach den massiven Protesten am Donnerstag von den VeranstalterInnen abgesagt. Der Gründungsparteitag des Landesverband der Partei »Die Freiheit« fand unter Polizeischutz in Stuttgart-Bad Cannstatt statt. Knapp 30 Antifaschist_innen gelang es, sich der Veranstaltung trotz versuchter Geheimhaltung des Veranstaltungsortes mit einer spontanen Kundgebung vor Ort entgegenzustellen. Im Umfeld des Treffens gerieten mehrere Funktionäre der Partei um den Landeskoordinator Joachim Reymann in einem Parkhaus in eine handfeste Auseinandersetzung mit Antifas.

Festnahme, Prozess, Solidarität!

Zwei Monate nach den Protesten, am 4. August 2011, wurde der Stuttgarter Antifaschist Chris vor einer Bäckerei in Stuttgart-Heslach verhaftet. Die sofortige Anordnung zur Untersuchungshaft wurde im wesentlichen mit einer möglichen Fluchtgefahr begründet, obwohl Chris einen festen Wohnsitz, Arbeit und Familie in Stuttgart besitzt. Vorgeworfen wurde ihm die Beteiligung an der Bühnenbesetzung sowie an der Auseinandersetzung mit Funktionären der Partei »Die Freiheit«.

Bereits wenige Tage nach der Verhaftung gründete sich der Stuttgarter Solikreis. Unter dem Motto »Freiheit für Chris! Für antifaschistische Solidarität! Gegen Repression und Polizeigewalt« wurde zum ersten Verhandlungstag Anfang September 2011 vor dem Stuttgarter Amtsgericht mobilisiert. An einer Kundgebung vor der Gerichtsverhandlung nahmen über 100 Menschen teil. Rund um den Prozess kam es immer wieder zu Soliaktionen in der Stadt und vor der JVA in Stammheim.

Das Gerichtsverfahren offenbarte sich letztlich als Farce. Anhand widersprüchlicher Zeugenaussagen und obwohl keine Beweise für eine mögliche Tatbeteiligung vorlagen, wurde Chris zu einer elfmonatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Eine politisch agierende und dominante Staatsanwaltschaft,  Zeugen, die wie der »Freiheit«-Funktionär, Polizist und Hauptbelastungszeuge Thomas St. fast ausschließlich aus den Reihen der Polizei kamen und eine Richterin, die den Bestrebungen der Staatsanwaltschaft von Beginn an den Weg freimachte, ergänzten sich im Zustandebringen der harten Verurteilung.

Die Verteidigung legte dagegen Berufung ein und bemühte sich in der Folgezeit um ein Ende der Untersuchungshaft. Am 19. Dezember 2011, nach viereinhalb Monaten, wurde der wacklige Haftbefehl schließlich außer Kraft gesetzt und Chris entlassen. Die Berufungsverhandlung gegen ihn begann und endete am 29. Februar diesen Jahres mit einem sogenannten Vergleich zwischen Anklage und Verteidigung. Die Haftstrafe wurde auf 15 Monate erhöht, im Gegenzug jedoch zur Bewährung auf drei Jahre ausgesetzt. Dass eine unmittelbare Haftstrafe überhaupt abgewendet werden konnte, werten wir als Konsequenz der starken Unterstützungsarbeit im Rahmen einer allgemein zunehmenden Sensibilisierung für die Gefährlichkeit rassistischer Hetze.

Kein Ende in Sicht

Die Kriminalisierung gegen Antirassisten in Stuttgart wird mit dem Urteil im Fall von Chris noch nicht ihr Ende gefunden haben. Gegen mehrere Teilnehmer_innen der Protestaktionen sind nach wie vor Verfahren offen. Dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft im Umgang mit Linken alles andere als zimperlich ist, hat die Vergangenheit bewiesen. Die harten Urteile im Indizienprozess gegen sieben Antifas wegen einer Auseinandersetzung mit NPD-Mitgliedern im Februar 2007 oder die willkürliche dreiwöchige Inhaftierung eines Stuttgarter Antifaschisten im Oktober 2009, ebenfalls wegen einer Auseinandersetzung mit Neonazis trotz eines wasserdichten Alibis, sind nur zwei von vielen Beispielen der letzten Jahre.

Doch auch fünf Teilnehmer_innen der antirassistischen Proteste haben inzwischen Anzeige erstattet. Sie werfen der Stuttgarter Polizei Körperverletzung und Nötigung vor. Es geht unter anderem um Kopf- und Augenverletzungen durch Teleskopschlagstöcke und Pfefferspray. In der Erklärung »Kein Schweigen zu Gewalt und Willkür der Stuttgarter Polizei«1 erklären sie, dass sie sich trotz der erfahrungsgemäß geringen Erfolgsaussicht einer solchen Klage zu diesem Schritt entschieden haben, um auf die zunehmende Polizeigewalt aufmerksam zu machen.

Für einen offensiven Antirassismus!

Trotz der massiven Repression gegen Antifaschist_innen und Antirassi-st_innen im vergangenen Jahr ist es immer wieder gelungen, erfolgreich zu intervenieren. Die Proteste gegen den Kongress Anfang Juni in Stuttgart sind ein Beispiel dafür, dass durch breiten und vielfältigen Widerstand der Raum für rechte Hetze stark eingeschränkt werden kann2 . Die staatliche Repression kann durch Solidarität abgefedert werden. Mit einer großen Mobilisierung gegen den Neonaziaufmarsch in Dortmund und einem verhinderten Kleinaufmarsch von Neonazis im September 2011 im nahegelegenen Leonberg haben die regionalen antifaschistischen Akteure bewiesen, dass sie sich nicht lähmen und einschüchtern lassen.