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Tolerantenburg 2000

Kay Wendel
Einleitung

Zwei Jahre „Tolerantes Brandenburg“ – zwischen Aufbruch und inhaltlicher Entleerung. Ein redigierter Buchbeitrag von Kay Wendel (2001 Unrast-Verlag).

Symbolbild Christian Ditsch

9. Juli 2011: Antifa-Blockade gegen einen Neonaziaufmarsch im brandenburgischen Neuruppin.

Im Juni 1998 stellte die Brandenburger SPD-Landesregierung das „Handlungkonzept Tolerantes Brandenburg“ der Öffentlichkeit vor, als bundesweit erstes umfassendes „Landesprogramm gegen Rechtsextremismus“. Das Handlungkonzept orientierte sich am Modell der „Kommunalen Kriminalitätsvorbeugung“ (KKV), ausgeweitet auf das Land, und zwar mit den Elementen einer Sicherheitspartnerschaft zwischen Staat und Bürgern, also einer Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungsorganisationen. Dieses Vorgehen war aus der Erkenntnis heraus getragen, dass der Staat das Problem mit dem herkömmlichen Instrumentarium nicht kontrollieren kann, es einer Erweiterung des Staates in die Gesellschaft hinein bedarf.

Stereotype Reaktionen

Am Anfang steht die (rassistische) Tat. Doch auf sie kann sehr unterschiedlich reagiert werden, je nach dem, auf welcher Ebene sie verhandelt wird. Juristisch werden individuelle Täter_innen geahndet. Maximal kann bei diesem Verfahren ein mahnender Richterspruch über das gesellschaftliche Umfeld der Täter_innen herauskommen, wie im Fall des versuchten Mordes an Vietnamesen im mecklenburgischen Eggesin. Hier sprach der Richter über die Mitverantwortung und das Versagen von Menschen und Institutionen, die nicht auf der Anklagebank saßen: Sie blieben untätig und sahen weg. Der juristische Diskurs individualisiert gesellschaftliches Handeln und kann die politische Auseinandersetzung nicht ersetzen.

Wäre in der Gesellschaft der Wille­ stark genug, der rassistischen Gewalt Einhalt gebieten zu wollen, die Gesellschaft würde die Aufarbeitung der Taten nicht allein den Gerichten überlassen. Sie würde sich mit ihrem Zustand befassen, mit der Frage, wie völkische und rassistische Diskurse genährt und ihre Träger_innen unterstützt werden. Meist jedoch geschieht das Gegenteil. Über die Jahre haben sich die Äußerungen von Politiker_innen und Institutionenvertreter_innen zu stereotypen Reaktionsmustern verfestigt. Die Palette reicht vom konsequenten Nicht-Wahrnehmen und Leugnen eines Problems über Verharmlosungen und Problemverschiebungen bis hin zu Betroffenheitsritualen. Allen diesen Reaktionsweisen ist gemein, dass sie den gesellschaftlichen Kontext rechter Gewalt ausblenden – Zusammenhänge, wie sie sich aus der Perspektive der Opfer darstellen.

Als Konsequenz verfehlen die auf ein solches Problemverständnis gestützten Präventionsmaßnahmen größtenteils ihre Wirkung. Oft sehen sich Kommunalpolitiker_innen nicht zuständig, zu einem Überfall Stellung zu beziehen. Eine typische Aussage ist etwa die des Rathenower Bürgermeisters Hans-Jürgen Lünser, der eine Reaktion auf den Überfall auf einen pakistanischen Asylbewerber in der Sylvesternacht 2000 für überflüssig hielt: „Ich kenne nicht die Hintergründe“, antwortet Lünser, „wozu soll ich mich erklären?“ Die Aussage beruht auf dem Verdacht, dass andere als rassistische Motive eine Rolle gespielt haben, und gleichzeitig auf der Haltung, es gebe keine Unterschiede zwischen rassistischer und normaler krimineller Gewalt. Schnell wird der einseitige Überfall zu einer Schlägerei, bei der beide Parteien die Schuld trifft. Ausgeblendet wird das rassistische Tatmotiv und die gesellschaftliche Wirkung der Tat. Übrig bleibt ein Konflikt zwischen Privatpersonen, der mit ungesetzlichen Mitteln ausgetragen wird. Das Schweigen beruht also auf einer Bagatellisierung der rassistischen Gewalt. Eine Stütze solcher Bagatellisierungen sind Polizeimeldungen, die dazu tendieren, den extrem rechten oder rassistischen Charakter der Gewalt wegzudefinieren.

Unter die Rubrik Verharmlosung fallen vier Reaktionsmuster. Oft wird das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt. Als Ursache der Gewalttaten erscheint eine vorherige Provokation der Opfer, und sei es durch ihre bloße Anwesenheit oder Andersartigkeit. Ein Beispiel ist die Äußerung des Bürgermeisters von Spremberg, Egon Wochatz, Asylbewerber_innen hätten nachts auf den Straßen nichts verloren.

Eine andere Reaktionsweise beruht auf der Normalisierung rassistischer Gewalt. Typisch ist das Statement: „Wir sind eine ganz normale Stadt mit ganz normalen Problemen“. Aus der Feststellung, die eigene Kommune läge bei der Gewalt im Durchschnitt, also im Bereich der Normalität, wird gefolgert, die Erscheinung selbst sei normal und unabänderlich. Ein Handlungsbedarf bestehe daher nicht.

Beliebt ist ferner die Verschiebung des Problems. Die rassistische Gewalt wird als Problem von Jugendgewalt und Kriminalität dissozialer Randgruppen verortet. So verkürzt, eignet sie sich als Baustein für den allgemeinen Diskurs über angeblich steigende Kriminalität und Gewalt. Dem entsprechend haben Lösungsvorschläge eine autoritäre Richtung. Der Staat solle streng durchgreifen. Statt die Zivilgesellschaft gegen Rassismus zu mobilisieren, folgt aus solcher Problemverortung eine Verengung auf den Einsatz von Polizei, Justiz und disziplinierender Sozialarbeit.

Schließlich sind viele Äußerungen von der Extremismus-Dok­trin angeleitet. Entschließt sich eine Kommune zu einer Stellungnahme, wird mit Regelmäßigkeit ein Kompromiss ausgehandelt, die Maßnahmen sollten auch auf Extremismus von links zielen. In diesem Raster wird rassistische Gewalt als abstrakt extremistisch wahrgenommen und weist mit der Reduktion auf Jugend­gewalt eine Gemeinsamkeit auf. Das Problem wird aus der Mitte der Gesellschaft herausdefiniert, die Mitte stellt sich dar ohne Verstrickung mit Rassismus, sieht sich als Opfer der Gefahr, die von den Rändern, den Extremen, von außen kommt. Gerade in Abgrenzung zum extremistischen Außen erscheint die Mitte demokratisch, gefüllt mit dem formalen Begriff: demokratisch ist, was die Mehrheit will. „Normal“ und „demokratisch“ verschmelzen, und Demokratie wird zur Ausgrenzung des Abnormalen: alles Abweichenden. Nicht nur wird die Spezifik der völkisch-rassistischen Bewegung verkannt, es wird darüber hinaus eine Gleichsetzung antifaschistischer Akteure mit völkisch-nationalistischen betrieben. Menschen, die den rechten Konsens durch offene und grundsätzliche Kritik verletzen, geraten unter Extremismus-Verdacht. Das trägt zu ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung bei und damit zu ihrer Schwächung.

Gegenüber den skizzierten Mustern der Leugnung und Verharmlosung ist eine Betroffenheitsreaktion ein Fortschritt. Eine politische Verantwortung wird, wenn auch nicht für die Ursachen der rassistischen Gewalt, so doch zumindest für ihre Prävention übernommen. Das ist der Grundgedanke des „Handlungskonzepts Tolerantes Brandenburg“. Meist erschöpft sie sich jedoch in öffentlichkeitswirksam inszenierten Erschütterungen über Gewalt. In die Betroffenheit über die Verletzung des Opfers - für den sich bis dahin nur die Ausländerverwaltung interessiert hatte, als Kostenfaktor, den es gilt klein zu halten – mischt sich die Sorge um das beschädigte Image der Kommune, des Landes. Aber selbst ein bloß standortpolitisch begründetes Interesse gegen rechte Gewalt, könnte zu sinnvollen Präventionsmaßnahmen führen. Problematisch an einem so begründeten Engagement ist seine Kurzlebigkeit und Instabilität. In der Regel lässt die Handlungsbereitschaft immer dann nach, wenn die negative Berichterstattung in den Medien nachlässt, da die Aktivitäten auf eine Reparatur des beschädigten Images gerichtet sind.

Zwei Jahre später

Zu den Leistungen des Handlungskonzep­tes zählt, dass Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem definiert wird, wogegen gesamtgesellschaftlich vorgegangen werden soll. Lange Zeit reduzierte die Politik das Problem auf ein Kriminalitätsproblem orientierungsloser Jugendlicher, das mit den Mitteln von Polizei, Justiz und Sozialarbeit behandelt werden sollte. Die Politik lehnte schlichtweg eine Verantwortung für die Bekämpfung des rassistischen Klimas in weiten Teilen der Bevölkerung ab. Die Aufbruchsstimmung des Handlungskonzeptes 1998 löste eine Dynamik aus, in der die Tabuisierung der Probleme in den Kommunen durchbrochen wurde, sich Kommunalpolitiker_innen positionierten und sich manch Kommunalpolitiker_in nicht mehr traute sich öffentlich rassistisch zu äußern. Gegenüber der gesellschaftlichen Barbarei erscheint der Staat als Bastion der Humanität.

Überdeckt wird der Widerspruch innerhalb des Staates zwischen dem Gleichheitsprinzip und der Organisation und Absicherung von Ungleichheits- und Machtverhältnissen. Die im Handlungskonzept propagierten Verfassungswerte Demokratie und Menschenrechte werden mit dem gegebenen Zustand des Staates gleichgesetzt und so aller kritischen Potenz beraubt. Das Handlungskonzept wird hier zu einer PR-Veranstaltung gegen „Demokratieverdrossenheit“ und für Staatsloyalität.

Ein weiterer Fehler des Konzepts ist: Es kann nicht darum gehen, alle Akteure „mit ins Boot zu holen“, gleich welche Interessenlage sie haben. Ein Bündnis gegen Rechts kann als gemeinsamen Nenner nur den Willen haben, die extreme Rechte  zu bekämpfen, nicht ein Unbehagen über den schlechten Ruf der Stadt. Es ist dann nur folgerichtig, wenn diese Akteure aus dem Begriffswirrwarr einige frei flotierende Elemente neu kombinieren und als das Problem definieren: Extremismus und Gewalt. Und nach dem Konsensprinzip eignet sich nur diese Problemdefinition als kleinster gemeinsamer Nenner. Eine weitere Folge der inhaltlichen Entleerung durch zu breiten Konsens ist die Beliebigkeit der projektierten Aktivitäten wo an einem Projekttag mit trommelnden Afrikaner_innen „Vorurteile überwunden“ werden sollen. Vielleicht wird sogar das Pflanzen eines ausländischen Gewächses als Beitrag für Weltoffenheit verkauft werden.

Die Selbstberuhigung, dass hier gut gemeinte Aktivitäten stattfinden, führt zum Selbstbetrug, denn eine direkte Thematisierung der unangenehmen Dinge wird als „nicht konstruktiv“ ausgegrenzt. Die Kehrseite des Konsenses unter den „relevanten“ Akteuren und des Zwangs zu „positiven“ Aktivitäten, die keinen verprellen sollen, ist die weitere Ausgrenzung der „nicht relevanten“ Akteure. „Nicht relevant“, weil nicht etabliert, nicht Teil des lokalen Machtfilzes sind die direkt Betroffenen, die Geflüchteten in den Heimen, die wenigen anderen Nichtdeutschen, die Antifas und solche Jugendliche, die sich dem rechten Mainstream nicht angepasst haben. Ohnehin gesellschaftlich marginalisiert und isoliert, sind sie den Angriffen der Rassisten und der rechten Szene ausgesetzt. Das ist eine wesentlich konkretere Problemverortung als das beliebige Gerede von Weltoffentheit.

Doch diese Problemsicht stört den Konsens zwischen den etablierten Akteuren. Aus formellen Gründen und zur Vermeidung von „Polarisierung“, wird jede lokale Antifa aus dem Prozess ausgeschlossen. Im Fall der Geflüchteten und der nichtrechten Jugendlichen geschieht das, weil sie sich noch nicht als Akteure mit einer Stimme konstituiert haben. An Bündnissen führt oft kein Weg vorbei, allerdings auf der erklärten Grundlage gegen Rassismus aktiv werden zu wollen, und mit Beteiligung der Gruppen von direkt Betroffenen, deren Problemsicht die Problemdefinition des Bündnisses zentral bestimmen sollte. Die Aktivitäten eines solchen Bündnisses sind notwendig kritisch und sollten als Ziele verfolgen: Solidarisierung mit den Opfern und den Betroffenengruppen, Engagement gegen gesellschaftliche Ausgrenzung von Minderheiten, Entsolidarisierung mit den Täter_innen und den Täterschützer_innen.