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Die Audio-Serie zum Neukölln-Komplex

Agentur für soziale Perspektiven (asp e.V.) (Gastbeitrag)
Einleitung

Es ist eine der Lehren der letzten Jahrzehnte und aus den vielfältigen Gewalt­ausbrüchen von rechts, dass es wichtig ist, Betroffene dieser Übergriffe anzuhören. Spätestens seit der Selbstenttarnung des sogenannten „Nationalisozialistischen Untergrunds“ (NSU) 2011 ist klar: Hätte man die Familien der Ermordeten ernst genommen, die früh darauf hinwiesen, dass es sich um eine rassistische Mordserie handelt, hätte Vieles verhindert werden können. Das gilt nicht nur für die Sicherheitsbehörden, sondern auch für die antifaschistische Szene.

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Dies haben auch die Menschen erkannt, die sich später in der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş zusammengetan haben, um die Familie des ermordeten Jugendlichen zu unterstützen. Burak Bektaş wurde 2012 in Berlin-Neukölln erschossen, mutmaßlich aus rassistischen Gründen. Der Täter wurde nie gefasst. Der Mord und seine Nicht-Aufklärung sind ein trauriger Höhepunkt einer extrem rechten Terrorserie in Neukölln.

Wir haben gemeinsam mit unseren Kreuzberger Nachbar*innen von „studio lärm“ eine Audio-Serie zum sogenannten Neukölln-Komplex produziert, in der wir mit Betroffenen und ihren Unterstützer*innen gesprochen haben. Es geht um Neonazis, die einen Bezirk über Jahrzehnte terrorisieren und um ihre Netzwerke. Es geht um Unfähigkeit und Unwillen der Sicherheitsbehörden, sowie ihre Verwicklungen in die rechte Szene. Es geht um Angst und Vertrauensverlust. Aber vor allem geht es um die Perspektive der Betroffenen und ihr Engagement. Es geht um Durchhalten, Mut und Solidarität.

Der Neukölln-Komplex

Als Neukölln-Komplex wird eine Terrorserie im Berlin Neukölln bezeichnet, bei der Neonazis seit 2009 wenigstens 200 Anschläge verübten. Dazu zählen die ­Morde an Burak Bektaş und Luke Holland, Brandstiftungen und (Mord-)Drohungen, sowie Sachbeschädigungen. Trotz klarer Hinweise auf bekannte Neonazis aus Neukölln und ihre Netzwerke erfolgte so gut wie keine Aufklärung dieser Taten.

Bekannt wurde zudem zahlreiches Fehlverhalten von Mitarbeiter*innen der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden. Die rechte Terrorserie und die Missstände bei den Berliner Sicherheitsbehörden haben zwar auch mediale Aufmerksamkeit erregt und aufgrund des hohen Drucks von Initiativen und Betroffenen wurde ein Untersuchungsausschuss (UA) eingesetzt. Dennoch sind für viele Menschen die Existenz oder Einzelheiten des Neukölln-Komplexes weiterhin unbekannt. Die persönlichen Schicksale der Betroffenen und besonders ihr Protest bleiben unterrepräsentiert. Mit der Audioserie „Kritik, Protest, Veränderung“ wollten wir die Perspektive der Betroffenen rechter Gewalt und ihr Engagement in den Mittelpunkt rücken.

Die Audio-Serie

Gemeinsam mit jungen engagierten Menschen haben wir Ferat Koçak, die Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş, Heinz Ostermann und die Initiative BASTA an für sie relevanten Orten des Protestes getroffen und mit ihnen über ihre Erfahrungen, ihren Aktivismus und Strategien gegen rechte Gewalt und staatliches Versagen gesprochen.

Die erste Folge führt uns durch Nord-­Neukölln und beschreibt die Taten, deren Hintergründe und die Täter, während der Fokus der anderen Folgen auf den Betroffenen und ihrem Engagement liegt.

In der zweiten Folge haben wir mit ­Ferat Koçak, antirassistischer Aktivist aus Berlin-­Neukölln, Abgeordneter der Linkspartei und selbst Betroffener im Neukölln-­Komplex, gesprochen. Er hat uns vom Anschlag auf ihn und seine Familie erzählt, was das mit ihm gemacht hat und wie er es schafft, weiter aktiv gegen rechte Gewalt zu sein: „Berxwedan jiyanê! Das ist Kurdisch. Das heißt, Widerstand heißt Leben. Und ich glaube, Widerstand ist ein Teil meines Lebens und den will ich auf den Straßen sehen. Und deshalb ist es für mich wichtig, immer auf die Straßen zu mobilisieren, Gruppen zu organisieren, zu bestimmten Themen.“ (Ferat Koçak)

In dieser Folge geht es auch um systematische Fehler und Rassismus bei den Sicherheitsbehörden und um die Unsicherheit, die die Terrorserie im Kiez auslöst. Die Folge handelt aber auch vom Hermannplatz als Ort des Widerstands und Protestes, von Solidarität, Durchhalten, davon laut und wütend zu sein.

Für die dritte Folge haben wir die Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş getroffen. Burak Bektaş wurde in der Nacht vom 4. auf den 5. April 2012 im Neuköllner Ortsteil Britz vor dem Krankenhaus erschossen. Der unbekannte Mörder verletzte zwei Freunde von Burak lebensgefährlich und tötete Burak. Die Familie Bektaş, Freund*innen und die Initiative kämpfen seit Buraks gewaltsamen Tod für die Aufklärung des Mordes und ein angemessenes Gedenken. Wir sprachen mit einer Vertreterin der Initiative über ihre Arbeit und darüber, wie man Betroffene unterstützt, sich vernetzt und den Behörden Druck macht: „Immer, wenn es Gedenk-Initiativen gibt, dann sind die Verantwortlichen unter einem anderen Druck, weil sie wissen, das hört nicht auf. Das ist in München so, das ist in Hanau so, das ist in Halle so, das ist überall so, dass nur durch die Selbstorganisation der Betroffenen und der Unterstützer*innen überhaupt Dinge noch passieren.“ (Helga Seyb)

Heinz Ostermann ist Buchhändler aus Rudow. Auch er ist Betroffener im Neukölln-­Komplex und hat uns in der vierten Folge erzählt, wie er nach drei Anschlägen dennoch nicht nachgegeben hat: „Und das Ziel ist ja, dass wir die Schnauze halten sollen. Bei dem Spiel habe ich von Anfang an nicht mitgemacht. Ich bin immer an die Öffentlichkeit gegangen.“ (Heinz Ostermann)

Die Folge beschreibt auch den Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Behörden, aber es geht nicht zuletzt um Solidarität und Vernetzung im Kiez, um die Initiative „Rudow empört sich“ und gemeinsame Abendessen an langen Tafeln mit mehreren hundert Menschen. Es geht um Propaganda von Neonazis vom „Der III. Weg“, aber auch um Nachbar*innen und Kund*innen mit Zivilcourage, um Ermutigung und Unterstützung: „Ich wünsche mir, dass die Leute wahrnehmen, was geschieht. Also auch genau hinschauen. Sich eine Meinung bilden zu den verschiedenen Geschichten und dann auch Gesicht zeigen, tätig werden.“ (Heinz Ostermann)

In der fünften Folge erzählt uns Karin von der Initiative „BASTA – wir haben genug! Britzer Bürger*innen fordern Aufklärung rechter Straftaten“ von den Mahnwachen vor dem Berliner Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm, welche die Initiative jeden Donnerstagmorgen organisiert. Basta gibt trotz Anfeindungen durch Beamte nicht auf und weist immer wieder auf Fehlverhalten und Ermittlungsversagen hin. Als sie dort zum 168. Mal standen, haben wir sie besucht: „Erfolg ist,  dass wir durch unser Engagement den Ermittlungsbehörden und auch der Staatsanwaltschaft immer weiter auf die Finger gucken und sie nicht machen können, was sie wollen.“ (Karin Wüst)

Diese vorerst letzte Folge handelt auch von Polizeibeamten, die verlauten lassen, dass sie kein Problem mit dem Hitler-Gruß haben, von vielen Beschwerden und wenigen Antworten. Es geht aber auch um solidarische Nachbar*innen, Beharrlichkeit, Mut und darum wie man durch gemeinsamen Protest zu Freund*innen wird.

Und jetzt?

Anfang diesen Jahres, die Audio-Serie war bereits veröffentlicht, wurden zwei der Hauptverdächtigen vom Vorwurf der Brandstiftung freigesprochen, obwohl die Indizien eindeutig waren. Es muss den schlechten Ermittlungen und dem fehlenden Ermittlungswillen zur Last gelegt werden, dass es zu keiner Verurteilung wegen der Brandstiftungen, sondern nur wegen Propagandadelikten und einer Morddrohung kam.

Auch der UA läuft schleppend. Nachdem er im Sommer 2022 eingesetzt wurde, musste er Anfang Juni 2023 abermals konstituiert werden, nachdem er wegen der Wiederholungswahl in Berlin abgeschlossen und neu eingesetzt werden musste. Nicht nur bürokratisch ringt der UA mit Hürden, auch die Aktenlieferung der Sicherheitsbehörden lief im letzten Jahr nur stockend. Positiv ist jedoch, dass die Parlamentarier*innen aus den NSU-Untersuchungsausschüssen gelernt haben und die Betroffenen zuerst angehört haben. So ist es möglich den Zeugen aus den Sicherheitsbehörden deren Erfahrungen und Wissen entgegenzuhalten, um das Fehlverhalten der Beamt*innen während der Ermittlungen einbeziehen zu können. Die Betroffenen verfügen häufig über eine differenzierte und tiefgehende Analyse der Taten. Sie wissen am Besten, was passiert ist.

Wir hoffen mit unserer Audio-Serie die Erfahrungen, das Wissen und die Strategien, das sich die Betroffenen über so viele Jahre erarbeitet haben, einem breiten Publikum zugänglich zu machen, sodass wir sie unterstützen und solidarisch miteinander gegen rechte Gewalt kämpfen können. Wir sind allen, die mit uns gesprochen haben sehr dankbar dafür, dass sie ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben. Ende des Jahres wird es zwei weitere Folgen geben.

Mehr Infos dazu und zu allen Projekten und dem Neukölln-Komplex gibt es auf www.neukoelln-komplex-audio.com oder unseren Social Media-Kanälen.