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„Kein Einzelfall – Der Mord an Patrick Thürmer"

Proud to be Punk-Fanzine Bündnis Chemnitz Nazifrei und Bon Courage e.V.

"Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schließen. Es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen.“ Ein prägnanter Ausspruch, der sich sowohl auf der Gedenktafel für Patrick Thürmer wiederfindet als auch die kürzlich erschienene Broschüre zum gewaltsamen Tod des jungen Punks im Jahr 1999 eröffnet. Und es ist ein Ausspruch, der als Aufforderung verstanden werden kann, das aktive Gedenken an die Opfer rechter Gewalt als substantiellen Teil der politischen Auseinandersetzung zu verstehen und die Geschichtsschreibung nicht denen zu überlassen, die jene Erlebnisse und Geschichten wie die hier vorliegenden am liebsten vergessen lassen würden.

Die Umstände der Ermordung des ge- rade einmal 17-jährigen Malerlehrlings sind so tragisch wie nahezu typisch für die späten 1990er Jahre: Als am 1. Oktober 1999 im Jugendzentrum der sächsischen Kleinstadt Hohenstein-Ernstthal ein Punkkonzert stattfindet, sammeln sich in direkter Nähe Neonazis in einer Diskothek. Verteilt über den Abend kommt es zu zahlreichen Übergriffen der Rechten auf anreisende Konzertbesucher_innen. Die anwesende Polizei schreitet nicht ein und so bleibt den jungen Punks nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen.

Es folgen schwere Auseinandersetzungen, in deren Verlauf es zu einer Art Belagerungszustand des Jugendclubs durch die örtlichen Neonazis und deren inzwischen eingetroffenen Verstärkung aus den umliegenden Städten kommt. Erst spät wird die Polizei aktiv und konzentriert ihre Maßnahmen auf die zahlenmäßig überschaubaren Besucher_innen des Konzerts, während die Neonazis unbehelligt die Szenerie verlassen können.

Um den repressiven Maßnahmen der Polizei und der Gewalt der Neonazis zu entgehen fliehen einige Punks über angrenzende Dörfer, unter ihnen auch Patrick. Im Nachbarort Oberlungwitz beginnen drei Neonazis damit, unvermittelt auf Patrick und seinen Begleiter einzuschlagen. Die Angreifer malträtieren ihre Opfer mit Axtstielen und einem Billardqueu. In einen angrenzenden Bach geworfen verstirbt Patrick wenige Stunden später an seinen schweren Verletzungen.

Es dauerte über zwölf Jahre, bis Patrick auch staatlicherseits als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt wurde. Die Broschüre weist anhand von Beispielen auf die Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland hin. Der Mord selbst wird darüber hinaus auf verschiedene Weise kontextualisiert. So werden die Punker_innen als spezifische Feindbildgruppe neonationalsozialistischer Ideologie beleuchtet sowie die dieser Szene entstammenden Todesopfer porträtiert.

In einem weiteren Kapitel werden 18 weitere in der Nachwendezeit durch rechte Gewalt in Sachsen zu Tode Gekommene vorgestellt und so vor dem Vergessen bewahrt. Bei den Aufzählungen orientieren sich die Autor_innen an den Recherchen der Amadeu-Antonio-Stiftung und explizit nicht an der Einordnung der Todesfälle durch staatliche Stellen – eine subtile, bewusste und wichtige Kritik. Denn der Tod Patrick Thürmers steht auch exemplarisch für die vielen Auseinandersetzungen, die Angehörige im Kampf um die Anerkennung und Würdigung ihrer Verstorbenen führen müssen. In diesem Fall meint das einen CDU-Bürgermeister, der jahrelang die Umsetzung des Wunschs einer Gedenktafel für Patrick in Hohenstein-Ernstthal blockierte.

Die Broschüre zeichnet ein eindrückli- ches Bild der Geschichte von Patrick Thür- mer, ordnet sie ein, scha t einen Rahmen. Sie schafft Raum und Gehör für die Familie, alte Bekannte und Augenzeug_innen – und wird damit auch ein gelungenes Beispiel dafür, wie ein Baustein aktiven Gedenkens in der Praxis aussehen kann.

„Kein Einzelfall – Der Mord an Patrick Thürmer“
Die Broschüre ist kostenlos bzw. gegen Rückporto bei diversen Mailordern sowie per E-Mail über info [at] boncourage.de erhältlich.
2021, 45 Seiten