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Westliche Ideale in Afghanistan?

Felix Heese
Einleitung

Pünktlich zum 20. Jahrestag der Terrorattacke vom 11. September 2001 hat sich die ISAF-Koalition (International Security Assistance Force) unrühmlich aus Afghanistan zurückgezogen. Am Kabuler Flughafen herrschten Chaos und Überforderung. Westliche Regierungen zeigten sich erstaunt, dass die Taliban so schnell die Macht übernehmen konnten. Die „feige“ afghanische Armee, vom Westen ausgerüstet und trainiert, hätte den Taliban länger standhalten müssen, um einen geordneten Rückzug der Besatzer zu gewährleisten, so das Credo.

Symbolbild

Straßenszene in Peshawar

Das neokoloniale Projekt Afghanistan scheiterte jedoch nicht wegen eines „Dolchstoßes“ der afghanischen Armee, sondern vielmehr, weil die Besatzer nie die „Hearts and Minds“ der Afghan*innen erobern konnten. Das war auch nie das Ziel der 20-jährigen Besatzung. Nach 9/11 stand die westliche Welt unter Schock und die USA sehnten sich nach Rache. Sie brauchten greifbare Gegner, die gejagt und vernichtet werden konnten, um nach außen sowie nach innen Stärke zu zeigen.

Der von George W. Bush ausgerufene „Global War On Terror“ zeugte von Entmenschlichung und barbarischen Methoden. Rechtstaatliche Verfahren, Menschenrechte und internationales Recht galten fortan auch offiziell nicht mehr für alle Menschen. In einem globalen Netzwerk von Folterlagern, genannt „Black Sites“, wurden Menschen, die des Terrorismus verdächtigt wurden, entführt, eingekerkert und gefoltert. Wie viele fälschlicherweise verschleppt wurden (wie etwa Khalid El-Masri) und wie viele in diesen Lagern starben, ist bis heute ungeklärt. Eines der berüchtigtsten Lager, genannt „Salt Pit“ oder „Dark Prison“, befand sich nördlich von Kabul in Afghanistan. 2002 starb hier Gul Rahman, als er bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, nur mit einem Pullover bekleidet, an die Wand gekettet erfror.

Nachdem die Taliban ein Ultimatum zur Auslieferung Osama Bin Ladens auslaufen ließen, begannen die USA im Oktober 2001, Taliban- und Al-Qaida-Stellungen zu bombardieren. Mit Hilfe der Nordallianz eroberte die US-Armee bis Dezember 2001 Kabul, Kunduz und Kandahar. Die Taliban und Al-Qaida wurden größtenteils besiegt, in ländlichen Regionen stockte der Kampf gegen den asymmetrisch kämpfenden Feind dagegen schnell. Als Antwort wurden nun auch militärisch die „Samthandschuhe“ ausgezogen. Wo Bomber nichts ausrichten konnten, wurden erstmals Kampfdrohnen eingesetzt, um Verdächtige ferngesteuert mit „Hellfire-Raketen“ zu töten.

Später entwickelte Barack Obama eine gezielte Tötungspolitik und weitete das Morden mit Drohnen massiv aus. Die CIA führt seither eine „Disposition Matrix“ genannte Liste von „Tötungszielen“, die keiner rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegt. Wer wie und warum auf dieser Liste landet, ist geheim. Spezialeinheiten von CIA und Militär jagten täglich Al-Qaida Anführer, Taliban Kommandeure und Menschen auf den Abschusslisten. 2017 wurde die stärkste nicht atomare Bombe im US- Arsenal, genannt „Mother of all Bombs“, auf ein Versteck des „IS Chorasan“ abgeworfen.

Bei all diesen Angriffen spielten zivile Opfer nie eine Rolle. Die sogenannten „Spezialeinheiten“ waren oft Killerkommandos, die wahllos Zivilist*innen töteten. Menschliche Finger wurden als Trophäen gesammelt, Menschen wurden hingerichtet, Beweise gefälscht, zivile Opfer verschleiert, ganze Hochzeitsgesellschaften ausgelöscht. Bei den tausenden Drohnenmorden wurden - wie zuletzt in Kabul am 29. August 2021 - tote Kinder in Kauf genommen.

Nahezu jede an der ISAF- Koalition beteiligte Nation beging Kriegsverbrechen und tötete Zivilist*innen. Viele dieser Verbrechen wurden nur durch auf Wikileaks veröffentlichte Dokumente bekannt („Afghan War Diary“). Anstatt die Täter zur Rechenschaft zu ziehen wurden lediglich die Whistleblowerin Chelsea Manning und der Wikileaks-Gründer Julian Assange inhaftiert – letzterer noch immer ohne Anklage.

Als 2009 der deutsche Oberst Georg Klein einen Luftangriff auf zwei gekaperte Tanklaster in Kundus anordnete, starben über 90 Zivilist*innen. Das folgende Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, 2013 wurde er zum Brigadegeneral befördert. Auch der 2002 für den Tod von Gul Rahman verantwortliche CIA-Mann Matthew Zirbel wurde nicht angeklagt, sondern befördert.

Es ist nicht verwunderlich, dass westliche Werte abseits der „afghanischen Elite“ keinen Anklang fanden. Die ländliche Bevölkerung Afghanistans ist weiterhin bitterarm, Clanstrukturen bestimmen einen Großteil des Lebens. Das Gebaren des Westens als arrogante Besatzer, gnadenlose Mörder und rassistische Eindringlinge beförderte den Hass vieler Afghan*innen. Jede*r konnte Ziel einer „Predator“-Drohne oder eines Killerkommandos werden. Außerhalb der Provinzhauptstädte wurde das nachgeschobene Ziel der „Demokratisierung“ Afghanistans nie erreicht. Nur dank Paletten von Geld konnte ein Schein von Sicherheit und „Freiheit“ bei den vielen Warlords erkauft werden. Bei der einfachen Bevölkerung kamen weder Geld noch Demokratie an, von westlichen „Idealen“ ganz zu Schweigen. Die rasante Übernahme der Macht durch die Taliban zeigt dies eindrücklich.

Das Hauptziel, Afghanistan nicht erneut zu einer Brutstätte für islamistische Terrorist*innen werden zu lassen, ist ebenso gescheitert, wie die versuchte Kolonialisierung Afghanistans. Das ist allen Besatzernationen seit vielen Jahren bekannt. Wenn Auswärtiges Amt, Kanzleramt und BND jetzt heucheln, die Rasanz des Taliban-Siegeszuges nicht erahnt haben zu können und unvorbereitet gewesen zu sein, ist das schlichtweg gelogen. Bereits seit 2016 werden Arbeitsverträge von sogenannten „Ortskräften“ umgewandelt. Sie werden nicht mehr bei der Bundeswehr angestellt, sondern bei Subunternehmen als „mittelbar Beschäftigte“. Ortskräfte werden nun bei „externen Dienstleistern“ und somit nicht direkt bei der Bundeswehr angestellt – womit ihnen ein Visum für die Einreise nach Deutschland verwehrt wird. Diese Verträge erinnern stark an Scheinselbständige in Deutschland, eine echte organisatorische Trennung gibt es nur auf dem Papier. Das Ziel ist bereits damals, Verantwortung abwälzen zu können und die Ortskräfte, die ihr Leben riskieren, zurückzulassen.

Als sich das Desaster des Abzugs der Koalitionstruppen am Flughafen von Kabul abzeichnete, wurden die ersten Stimmen laut, es dürfe kein neues 2015 geben – eine Anspielung auf die vielen syrischen Geflüchteten damals. Ähnlich der Erzählung von feigen Syrer*innen, die lieber für ihr Land kämpfen sollten als nach Deutschland zu fliehen, werden nun den Afghan*innen alte Stereotype übergestülpt.

Dr. Thomas Sarholz, Oberst a.D. und ehemaliger Kommandant von Camp Warehouse in Kabul, konnte in einem Leserbrief der FAZ (26.8.2021) seine Abneigung gegen alle Afghan*innen kundtun. Darin schwadroniert er von tagtäglichem Verrat der Ortskräfte und propagiert seinen Rassismus und sein Unverständnis der afghanischen Kultur: „Selbstlosigkeit war das Letzte, was diese Leute angetrieben hat, für uns zu arbeiten“, sie wollen lediglich den „Wohlstandsmagneten Deutschland“ erreichen. Seine Aussage: „Innerlich verachten uns diese Menschen“ spiegelt seine eigene Verachtung wider. Das neue Springer-Format „BILD-TV“ räumte dem rechten Oberst sogleich Sendezeit frei, damit er weiter Stimmung gegen die im Stich gelassenen Ortskräfte und Afghan*innen im Allgemeinen machen kann. Herr Sarholz, der nie die Realität Afghanistans außerhalb seiner Festungsblase erlebt hat, fordert von Afghan*innen Loyalität und Selbstlosigkeit, während tausende Menschen, die für die Bundeswehr ihr Leben riskiert haben, bewusst im Stich gelassen werden. Menschen, deren Land 20 Jahre lang als Experimentierfeld für neue Waffentechnik und neue Taktiken der „Aufstandsbekämpfung“ missbraucht wurde.

Der Westen hat nach 9/11 ganz offen gezeigt, dass er mit zweierlei Maß misst. Auf der einen Seite sind die Menschen, denen Wohlstand, Menschenrechte und Würde zustehen, auf der anderen die Menschen zweiter Klasse, deren Leben nichts Wert sind in den Augen von modernen Schreibtischtäter*innen und Killer*innen. In Afghanistan haben wir unser wahres Gesicht gezeigt: Wir sind weder selbstlos, noch loyal, haben weder Mitgefühl noch Moral. Unser Wort ist nichts wert. Unsere Scheinheiligkeit und Selbstgefälligkeit ist grenzenlos.