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Die Ermittlungen der Polizei in der NSU-Mordserie

Markus Mohr Daniel Roth
Einleitung

Zu den Ermittlungen der Polizei in der rassistischen Mordserie des NSU in den Jahren 2000 bis 2011.

Polizei NSU Mordserie
(Foto: Christian Ditsch)

Stärkere Strahlkraft

Die Česká-Mordserie begann im September 2000 mit der Hinrichtung von Enver Şimşek an einer Ausfallstraße in Nürnberg. In der Folge fielen ihr acht weitere Migranten zum Opfer, zuletzt Mehmet Kubasik in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel im April 2006. Analysiert man die ein Jahrzehnt lang andauernden Ermittlungen der Polizei in der Česká-Mordserie, - unter Auslassung des NSU-Komplexes in Thüringen der Jahre 1998 bis 2003 mit der eigentümlich erfolglosen Fahndung der Polizei nach den drei verschwundenen Jenaer BombenbastlerInnen – so lassen sich eine Reihe von wesentlichen Schritten markieren. Sie haben auch dafür gesorgt, dass nicht die Neonazis und auch nicht ihre Netzwerke in den Fokus der Ermittlungen genommen wurden. Anders formuliert: Die Polizei hat in der Ermittlungsarbeit – mit Ausnahme der Mordsache in Kassel - außerordentliche Anstrengungen darauf verwendet, keine rechte Spur in der Mordserie zu verfolgen. Und dafür war auch ein zum Teil unverstellter Rassismus in der Polizeiarbeit gegenüber der dadurch drangsalierten türkischen Community nützlich.

1.) Von der Polizei wurde das aus den ersten vier Morden in den Jahren 2000 und 2001 ermittelte Wissen in einer sorgfältig für die Öffentlichkeit abgestimmten bundesweiten Pressemitteilung (PM) vom November 2001 falsch zusammengefasst. Darin wurden die Aussagen von Augenzeug_innen an den verschiedenen Tatorten entweder weggelassen oder in einem Fall sogar manipuliert. Weggelassen wurden die Augenzeugenberichte zweier Münchner Zeuginnen im vierten Mordfall (Habil Kılıç, August 2001), die unabhängig voneinander vor und nach der Tat zwei Radfahrer beobachtet und präzise beschrieben hatten. In den Akten des ersten Mordfalls (Enver Şimşek, September 2000) ist eine Zeugenaussage zu finden, laut der Zeugen zwei Männer - einen an der geöffneten Seitentür des Lieferwagens, einen als Schatten- darin sahen, und „zwei blechern klingende laute Schläge“ hörten. Es liegt eine Personenbeschreibung desjenigen Mannes vor, der vor der Tür des Transporters gestanden haben soll in dem Enver Şimşek erschossen wurde: „Eine männliche Person, Alter ca. 20 bis 30 Jahre, sehr groß (über 1,80 Meter), schlank, beige oder graue Baseballmütze (richtige Tragweise), ohne Symbole, keine Haare zu erkennen. Bekleidung: dunkles T-Shirt, kurzärmlig, Farbe des T-Shirts wahrscheinlich schwarz, ohne Aufdruck, schwarze kurze Radlerhose. Helle Sportschuhe (Farbe und Marke unbekannt). Zusatz: Das Besondere daran war, dass ich kein Fahrrad erkennen konnte.“

Diese Beschreibung wurde in der Pressemitteilung weggelassen, so dass es keine Hinweise auf Fahrradfahrer als mutmaßliche Mörder mehr gab. Darüber hinaus wurde die Zeugenaussage so angepasst, dass sie zu einem Video aus der Sendung Aktenzeichen XY passte, das im Zuge der Ermittlungen zum ersten Mord im April 2001 im ZDF ausgestrahlt worden war. In dem Video sind zwei bullige Männer in Lederjacken zu erkennen, die aus einem schwarzen Auto steigen und während des Mordes vor dem Lieferwagen stehen bleiben. Am Ende der Presseerklärung findet sich die Behauptung, dass sich die Ermittlungen „aufgrund der türkischen Mentalität und der damit verbundenen Zurückhaltung sowie der Sprachbarriere von Anfang an sehr schwierig“ gestalteten.

Das war – abgesehen von der unbequemen Wahrheit der Existenz rassistischer Stereotype in den polizeilichen Ermittlungen – in dieser Generalität schlicht eine Falschaussage. Aus den Ermittlungsakten lässt sich entnehmen, dass die Angehörigen der Mordopfer – wie im Falle der Zustimmung zu der Ausstrahlung in der Sendung Aktenzeichen XY – mit den Behörden vertrauensvoll kooperierten.

2.) Nach 2001 kamen die polizeilichen Ermittlungen in der Mordserie zum Erliegen. Die Česká-Mörder ließen sich aus bislang unbekannten Gründen etwa zweieinhalb Jahre Zeit, bevor sie Ende Februar 2004 in einem Dönerimbiss in Rostock-Toitenwinkel ihr fünftes Opfer, Mehmet Turgut, erschossen. Der von Beginn an in der Mordserie ermittelnde Kriminalkommissar Albert Vögeler aus Nürnberg bekannte sich vor dem Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern dazu, dass er zur Zeit des fünften Mordes „allein mit der ganzen Serie beschäftigt“ gewesen sei, sprich: Er habe „das mehr verwaltet“, und gab zu bedenken: „Große Ermittlungen kann man mit einem Mann nicht machen.“ Von der Polizei wurde gleich zu Beginn der Ermittlungen „ein ausländerfeindlicher Hintergrund“ des Mordes ausgeschlossen. Und das vor einem Panorama, dass es im anliegenden Bundesland Brandenburg zeitgleich eine lang anhaltende Brandanschlags- und Terrorserie von Neonazis auch gegen Dönerimbissbuden gab.

Obwohl der Polizei und Staatsanwaltschaft durch die Untersuchung der Pistolenkugeln nach zwei Wochen deutlich wurde, dass die Mordserie mit der gleichen Waffe ihre Fortsetzung fand, wurde die Öffentlichkeit darüber nicht informiert. Das hatte damit zu tun, dass das Ersuchen der Staatsanwaltschaft in Rostock an die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, den Mordfall in einem Sammelverfahren mit den voran gegangenen vier Morden zu bearbeiten, abgewiesen wurde. Die Begründung der Ablehnung wurde festgehalten: „Trotz der zum damaligen Zeitpunkt offenkundigen Verbindung der Morde über dieselbe Tatwaffe und die einheitliche Tatbegehung war nach ihrer Einschätzung nicht ausreichend belegt, dass die Morde auch von denselben Tätern verübt worden sind.“ Auch das Bundeskriminalamt lehnte eine Ermittlungsführung in der Mordserie ab. Evident hier: Eine Übernahme des Rostocker Falles in einem Sammelverfahren durch die Staatsanwaltschaft in Nürnberg oder durch den Generalbundesanwalt sowie das BKA hätte die Bearbeitung der Mordserie auf eine ganz andere Stufe des öffentlichen Interesses gehoben. Eben das sollte nicht sein. Und dafür war auch die Entscheidung, von der man bis heute nicht weiß, wer sie warum getroffen hat, zielführend, den Mord an Mehmet Turgut nicht als Teil einer Serie in der Öffentlichkeit zu kommunizieren.

Das wurde erst 16 Monate später, nach der Ermordung von Ismael Yaşar in Nürnberg, im Juni 2005 in einer Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Mittelfranken nachgeholt. Mit der Formulierung dass „vor kurzem“ (sic) auch die Ermordung von Turgut in Rostock bekannt geworden ist, wurde dieser Mord von der Polizei gewissermaßen „in den Skat“ aufgenommen.

3.) Nachdem die Mordserie mit fünf Toten von der Polizei jahrelang quasi in den Modus der weitgehenden De-Thematisierung und Nicht-Bearbeitung verschoben worden war, erfolgte nach den Morden an Ismail Yaşar (Nürnberg) und Theodorus Boulgarides (München) Ende Juni 2005 die Gründung einer großen Sonderkommission, der BAO Bosporus. Der Mord in Nürnberg an Yaşar war im Unterschied zu den vorangegangenen Morden der Serie nicht an einem abgelegenen Ort, sondern mitten in der Stadt um die Mittagszeit vor einer belebten Schule verübt worden. Hier konnte die Polizei ihre in den Ermittlungen zur Mordserie geübte Zurückhaltung nicht mehr fortführen.

Allerdings erfolgte die Gründung dieser Polizeieinheit, in der zeitweise 160 Polizeibeamte arbeiteten, auch aus der Intention, einen Ermittlungsbezug zwischen dem Anschlag in der Keupstraße und der Mordserie an sieben Migranten zu verhindern. Wenige Tage nach den Morden an Yaşar und Boulgarides wurden die ErmittlerInnen im Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom Juni 2004 auf die Personenbeschreibungen der Täter in Nürnberg aufmerksam. Die Polizei in Köln verfügte über Videoaufzeichnungen, welche zwei Fahrradfahrer zeigten, die die Nagelbombe mit einem Topcase auf einem Fahrrad in die Keupstraße schoben, dort platzierten und dann verschwanden. Die beiden Fahrradfahrer in Köln waren von drei Augenzeugen gesehen worden. Im Česká-Mord von Nürnberg wurden ebenfalls zwei Fahrradfahrer von mindestens fünf Augenzeugen vor, während und nach der Tat gesehen. Es handelte sich um den am besten beobachten Mord in der Serie.

Von der Deutschen Presseagentur (DPA) ist gestützt auf Informationen aus der Kölner Polizei Ende Juni 2005 ein Bericht überliefert, in dem davon gesprochen wird, dass die Ermittler in Köln „auf eine mögliche neue Spur gestoßen“ seien. Sie führe „zu einer Mordserie an mehreren türkischen Ladenbesitzern und einem Griechen, die in den vergangenen fünf Jahren alle mit derselben Waffe erschossen worden waren. (...) Die Fotos aus Köln und die nach den Zeugenaussagen angefertigten Phantombilder (in Nürnberg) sollen nun nach Angaben von Polizeisprecher Michael Baldes abgeglichen werden.“ (DPA v. 22.6.2005)

Nun, wie wurde diese Spur abgeglichen? Schon einen Tag später wurde die Spur nach Köln von der gerade gegründeten BAO Bosporus als Spekulation abgetan: „Eine von den Medien ins Spiel gebrachte Verbindung zwischen der Mordserie und dem Nagelbomben-Attentat vor einem Jahr in Köln besteht jedoch nicht“ erklärte hier Kriminalrat Peter Grösch, Sprecher des Polizeipräsidiums Nürnberg und der übergreifenden Kommission Bosporus. (Nürnberger Nachrichten v. 23.6.2005) Und dann darf man etwa zwei Wochen später in einem DPA-Bericht neue „Erkenntnisse“ unter der Schlagzeile „Kein Zusammenhang zu Mordserie an Türken“ lesen: Dabei wird von einer „Sackgasse“ gesprochen und dass nach einem „intensivem Austausch mit den Kollegen in Nürnberg (...) nichts für einen Zusammenhang der Taten“ spreche. (DPA v. 8.7.2005)

Man kann aus den Akten leicht erkennen, dass in den zwei Wochen keine Spuren geprüft geschweige denn abgeglichen worden sind. Dazu hätte man den Zeugen aus Nürnberg das Videomaterial aus Köln zeigen müssen: Ein Routinevorgang, der jedoch im Sommer 2005 nicht erfolgte. Im November 2005 legte die BAO Bosporus ihren ersten 110-seitigen Sachstandsbericht vor. Liest man den detaillierten Bericht aufmerksam, so scheint man darin jedem noch so kleinen Hinweis nachgegangen zu sein. Es fällt jedoch etwas auf: Der Nagelbombenanschlag in Köln wird im Bericht nicht erwähnt. So gelang es der Polizei nach der Zeit Ende Juni/ Anfang Juli 2005 bis zum Selbstenttarnungsvideo des NSU vom November 2011 erfolgreich jeden Bezug zwischen der Mordserie an den Migranten und dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstrasse aus der öffentlichen Wahrnehmung und damit aus der Diskussion auszuschalten.

4.) Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık in Dortmund um die Mittagszeit in seinem Kiosk ermordet. Erstmals in der Serie spricht der vor Ort ermittelnde Staatsanwalt davon, dass auch ein „rechtsextremer Hintergrund“ der Mordtat nicht ausgeschlossen werden kann. Eine Zeugin hatte unmittelbar vor der Ermordung in direkter Nähe zum Tatort zwei Basecap-tragende, fahrradschiebende junge Männer im Alter zwischen 25 – 30 Jahre gesehen. Sie meldete sich telefonisch bei der Polizei und gab an, dass es sich bei beiden Männern mit einem stechenden Blick entweder um Junkies oder Nazis gehandelt habe. Zur Vernehmung der Zeugin werden zwei Beamte aus der Abteilung Staatsschutz entsandt. Danach verschwindet in der Weiterbearbeitung der Aussage der Zeugin immer wieder der von ihr geltend gemachte Hinweis auf Neonazis, es bleibt nur der auf Junkies. Kurz: Der Neonazi-Hinweis von Dortmund wurde von der Polizei gesilenced. Die Aussage der Zeugin wurde nicht veröffentlicht, so dass in der Öffentlichkeit auch jeglicher Hinweis auf Fahrradfahrer in Dortmund fehlte.

Wie weit der Kreis der Geheimhaltung gezogen wurde ist unklar. In einem Pressebericht Mitte Juni 2006 heißt es: „Tatsächlich gibt es nur in einem Nürnberger Fall überhaupt Zeugen, die zwei verdächtige Fahrradfahrer in der Nähe des Tatortes beobachtet haben. (Die) Sprecherin der Staatsanwaltschaft sagt dazu `Vielleicht melden sich bald wirklich Dortmunder Zeugen ́.“ Eben das war für die auch politische Interpretation der Mordserie in der Öffentlichkeit der Jahre nach 2006 zielführend: Denn so konnte auch die Mordserie weiter als ein mutmaßlich mörderischer Konflikt innerhalb einer türkisch-kurdischen „Parallelwelt“ präsentiert und dargestellt werden, ohne von Neonazis sprechen zu müssen.

5.) Nur 55 Stunden nach Mehmet Kubaşık wurde Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel im Internetcafé erschossen. Nachdem sich BAO-Chef Wolfgang Geier in der BILD-Zeitung mit der Aussage vernehmen ließ: „Die Spur zu den Auftragsmördern führt in die Türkei“, führen die weiteren Ermittlungen sehr schnell in das beschauliche Hofgeismar in Hessen. Am 21. April
2006 wird dort der erste Tatverdächtige in der Mordserie, der Verfassungsschutzbeamte des Landes Hessen, Andreas Temme, festgenommen. Von ihm findet die Polizei schnell heraus, dass er in der Jugendzeit ein Neonazi war. Es kann bei ihm ein ganzer Schwung von Nazimaterial beschlagnahmt werden und er verwaltet als V-Mann Führer eine Reihe von Spitzeln in der nordhessischen Neonazi-Szene. Auch nachdem sich die Ehefrau von Temme Eva Schmidt-Temme in einem abgehörten Telefonat mit ihrer Schwester eindeutig zu der Angelegenheit äußert - „Ich sage: Ja, [...] weißt du (Schätzchen), du hast unsere Zeit verplempert in so einer Asselbude in Kassel-Nord in der Holländischen Straße. [...] Dabei hat er selbst noch gesagt, wie widerlich diese Gegend ist [...] Bei sonem Dreckstürken. Interessiert es mich denn, wen der heute wieder niedergemetzelt hat? Solange er sich die Klamotten nicht schmutzig macht!“ - wird von der Polizei eine sogenannte OFA
(Operative Fallanalyse) in Auftrag gegeben.

Diese generiert Alexander Horn, ein Profiler des bayerischen LKA, in Windeseile aus der Vita von Temme und seiner jüngeren Neonazikontaktpersonen. Die OFA kehrt vom jahrelang ergebnislos verfolgten Ermittlungsansatz nach einer „Organisierten Kriminalität“ zu suchen, ab. Sie fordert Ermittlungen in den lokalen Neonazi-Szenen, vor allem in Nürnberg, Dortmund und Kassel, sowie zu Querverbindungen zwischen dem Bombenanschlag in der Keupstrasse und der Mordserie. Die OFA macht deutlich, dass die Polizei durchaus in der Lage ist, Neonazis adäquat zu erfassen und spricht von „missionsgeleiteten“ Tätern mit einem ausgeprägten „Hass auf Türken“. Ausgerüstet mit der OFA hofften die ErmittlerInnen die „Unterstützungshaltung“ des Hessischen Verfassungsschutzes für ihren tatverdächtigen Mitarbeiter Temme zu eliminieren. Doch die weitere polizeiliche Ermittlungsarbeit in der Causa Temme wird im Spätsommer 2006 durch eine Entscheidung des hessischen Innenministers Volker Bouffier komplett abgebrochen. Es gibt keine Befugnis im dienstlichen Umfeld von Temme, d.h. im Netzwerk von Kameraden, zu ermitteln. Die BAO Bosporus wurde dadurch „auf Null“ gesetzt, arbeitete aber einfach weiter.

Und sie traf ab August 2006 die Entscheidung fortan in der Öffentlichkeitsarbeit nur noch von einem „Einzeltäter“ zu sprechen, auch wenn immer klar war, dass es zwei mindestens waren. Das stellte den gesamten polizeilichen Wissensbestand aus den vorangegangen Morden völlig auf den Kopf.

6.) Die OFA, welche Neonazis in den Fokus rückte, wurde der Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht. Sie wurde innerhalb des Sicherheitsapparates sofort bekämpft und nach extrem kurzer Zeit erfolgte ein Auftrag an das LKA Baden-Württemberg (BW) der Erstellung einer weiteren OFA. Da das LKA BW keine neue Hypothese zu den Tätern generierte war das Profiling für die praktischen Ermittlungen nutzlos und muss als politische Botschaft an den gesamten Apparat verstanden werden.

Gleich zu Beginn der Ende Januar 2007 unter Leitung von Udo Haßmann vorgelegten OFA heißt es denn auch, dass „in der vorliegenden Serie bereits Fallanalysen von anderen Dienststellen erstellt wurden, auf deren Kenntnisnahme zur Wahrung der Objektivität verzichtet wurde.“ Also nichts zu Neonazis oder Temme, dafür viele rassistische Stereotypen. Die Opfer hätten eine „undurchsichtige Lebensführung“, alle Kontakt zu „kriminellen Gruppierungen“, es ist von „Phänotypus“ oder „Ehrenkodex“ die Rede. Hinsichtlich der Tatsache, dass alle neun Opfer in den fast sieben Jahren Ermittlungsarbeit eben nicht in Zusammenhänge mit der Drogenmafia gebracht werden konnten wird das Profiling fast religiös: Die kriminelle Gruppe, der sie angeblich angehörten, war für die Opfer nicht „erkennbar“. Durch die „Verletzung eines Ehrenkodexes“ wurden in der „Tätergruppierung jeweils Todesurteile gefällt und vollstreckt“. Die PolizeitheoretikerInnen kamen so in der Quintessenz zu dem Ergebnis, dass die Mörder der Migranten hinsichtlich ihres „Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems“ zu verorten seien; es sei sehr wahrscheinlich, dass die Täter „im Ausland aufwuchsen oder immer noch dort leben.“

Kriminalhauptkommissar Haßmann erklärte auf Nachfrage eines Untersuchungsausschusses zum NSU, dass die Aufnahme eines rechtsradikalen Tatmotivs in diese OFA deshalb keine Berücksichtigung fand, weil die hier referierten Stereotypen eine „größere Strahlkraft“ entfaltet haben. Auch so wurde dieser Befund gegen die durch die Festnahme von Andreas Temme für den Polizeiapparat in ersten Umrissen erkennbar gewordene Evidenz des seit Jahrzehnten exzellent geschmierten Betriebssystems Verfassungsschutz und Neonaziverwaltung behauptet, in der die Mordserie an den Migranten eingebettet war.

Zum Weiterlesen:
M. Mohr / D. Roth: "Stärkere Strahlkraft / Wahrheit und Lügen in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex 2000 -2011"; Leipzig 2021, 380 Seiten, www.strahlkraft-buch.org