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Bischofferode: "Die volle Bedeutung des Kampfes wurde nicht erkannt"

Einleitung

In den nächsten Jahren werden sich immer mehr auch bis dahin konservative und vom Kapital befriedete Menschen mit einer Situation konfrontiert sehen, in der ihnen die Grundlage für ihre bisherige Existenz durch Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau zerstört wird. Ob und in welche Richtung die Betroffenen sich entwickeln werden, wird wesentlich davon abhängen, ob es zu Widerstand kommt und wie dieser geführt wird. Von der vertanenen Chance im Zusammenhang mit Bischofferode1 handelt das folgende Anfang November 1993 geführte Interview mit dem 75jährigen Antifaschisten Fritz Teppich, der sich im Sommer 1993 dem Hungerstreik der Kali-Kumpel2 angeschlossen hatte.

  • 1Das "Kaliwerk Bischofferode" in Bischofferode (Thüringen) förderte und verarbeitete von 1909 bis zur Schließung 1993 Kalisalze.
  • 2Am 7. April 1993 besetzten 500 Bergleute das Werk Bischofferode bei laufender Produktion, um gegen die Schließung zu protestieren.
Symbolfoto von wikimedia.org; Michael Köhler; CC BY 4.0

(Symbolfoto von wikimedia.org; Michael Köhler; CC BY 4.0)

Zur Person:

Fritz Teppich, Jahrgang 1918, entstammt einer großbürgerlichen jüdischen Familie aus Berlin. Schon in Jungen Jahren trat er den kommunistischen Roten Pfadfindern bei. 1933 ging Fritz ins Exil und lernte in Paris Koch. Im September 1936 gehörte Fritz zu den ersten Freiwilligen, die zur Verteidigung der spanischen Republik gegen den Franco-Putsch sich auf eigene Faust nach Spanien durchschlugen. Bis 1939 kämpfte er in der republikanischen Armee und geriet nach Francos Sieg in Gefangenschaft. Nach gelungener Flucht lebte er in Belgien, wo er beim deutschen Überfall 1940 als Deutscher interniert, nach Südfrankreich deportiert und im berüchtigten französischen Lager Camp du Vernet interniert wurde. Der Deportation in deutsche Vernichtungslager konnte sich Fritz durch Flucht nach Portugal entziehen. Bis zu seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 1946 war Fritz im portugiesischen Exil. In den späten 70er Jahren gehörte er der Gruppe »Gewerkschafter gegen Rechts« an. Mit anderen Kollegen gab er den entscheidenden Anstoß zur Gründung der Wilmersdorfer Friedensinitiative, die am Beginn der neuen Friedensbewegung der 80er in West-Berlin stand und wurde Initiator der Friedenskoordination. Im Sommer dieses Jahres nahm Fritz am Hungerstreik der Kali-Kumpel in Bischofferode teil und organisierte in Berlin Solidaritätsaktionen.

Bischofferode Sommer 1993 - vertane Chancen

Die als konservativ und christlich geltenden Kali-Kumpel in Bischofferode haben einen beharrlichen Kampf für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze geführt und führen ihn noch immer. Der Aufruf von ihnen und ihren Unterstützern, diesen Kampf zu einem Flächenbrand in Thüringen und ganz Ostdeutschland auszuweiten, verhallte weitgehend angehört. Damit ist eine wichtige Chance von Belegschaften, Gewerkschaften und fortschrittlichen Kräften vertan worden, aus den isolierten Protesten gegen Massenentlassungen eine breite kämpferische Bewegung zu schaffen, die in der Lage gewesen wäre auch politisch einiges in Gang zu setzen. Damit haben sich aber auch die Möglichkeiten für einen aktiven Kampf gegen (Neo)Faschismus und Reaktion weiter verschlechtert. In der antifaschistischen Bewegung wird dies nicht thematisiert. Ein schwerer Fehler, wie wir finden.

(Neo)Faschismus läßt sich auf Dauer nicht durch Aktionen kleiner und isolierter Gruppen aufhalten (daß auf den Staat erst recht nicht zu hoffen ist, wird von vielen ja gesehen), sondern nur durch Aktionen auf der Straße, die von einer breiten Massenbewegung getragen werden. Diese notwendige Verbreiterung der antifaschistischen Kräfte setzt die Einbeziehung sozialer Forderungen und die Vernetzung (und damit möglicherweise auch Radikalisierung) der verschiedenen Kämpfe voraus. Grundlage für einen solchen Prozeß sind eigenständige, um die eigenen Interessen, geführte Kämpfe.

Davon kann heute nicht die Rede sein. Vor dieser Situation gilt es aber nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern die ersten Schritte in die richtige Richtung zu tun und das heißt heute, die Diskussion darüber überhaupt in Gang zu bringen und die verschiedenen sozialen Kämpfe und Bewegungen in der gesamten Gesellschaft stärker zur Kenntnis zu nehmen.

Antifaschistisches Infoblatt: Wie kam es zu Deinem Entschluß nach Bischofferode zu gehen und am dortigen Hungerstreik der Kali-Kumpel gegen die Schließung des Bergwerks teilzunehmen?

Fritz Teppich: Ich bin Vorsitzender des Seniorenausschußes der Gewerkschaft "Handel, Banken und Versicherungen" (HBV) im DGB Berlin und als solcher Mitglied im Landesvorstand der HBV. Wir hatten erfahren, daß der Hauptvorstand der IG Bergbau und Energie (IGBE) den kämpfenden Kumpeln in Bischofferode in den Rücken fällt. Das fanden wir schlimm. Wir hätten verstanden, wenn die Leitungsgremien und der Vorsitzende der IGBE anfangs eine andere Meinung vertreten hätten. Aber wenn Arbeiter kämpfen, dann hat die Gewerkschaft die Verpflichtung ihnen zu helfen und ihnen beizustehen und alle Kritik muß zurückstehen. Da man in der gegebenen Situation nicht mit Worten helfen konnte, sondern bloß mit Taten, haben wir von der Leitung des Seniorenausschußes beschloßen, daß ich nach Bischofferode fahre und am Hungerstreik teilnehme. Ich habe 23 Tage am Hungerstreik und später am Protestmarsch nach Berlin von Genthin nach Brandenburg teilgenommen.

Wegen einer Mitgliederversammlung des Seniorenausschußes kehrte ich nach Berlin zurück. Da trafen sich 71 Mitglieder und dort habe ich gesagt, wir müssen hier etwas spektakuläres machen. Acht Leute haben sich gemeldet und wir haben kurzzeitig die Außenstelle des Bundeswirtschaftsministeriums (Unter den Linden) besetzt und zwei Tage später die Bezirksstelle der IGBE. Dort hatten wir ein Gespräch mit dem Bezirksleiter, bei dem wir noch mal unseren Standpunkt dargelegt haben. Wir waren der Ansicht, daß sich jetzt entscheiden muß, ob die Gewerkschaften eine Art Dienstleistungsgesellschaft nur zum Abschluß von Tarifverträgen sind, oder ob sie eine energische Interessenvertretung der Arbeitenden, der Arbeitslosen und der Rentner sein sollen. Das hat ziemlich viel Aufsehen erregt und es hat bis in die Spitze des DGB eine Diskussion gegeben.

Antifaschistisches Infoblatt: Gregor Gysi steht nicht allein, wenn er in einem Zeitungsinterview die Gegend um Bischofferode als katholisch und schwarz, d.h. konservativ, bezeichnet hat. Warum kam es gerade dort zu solch einer Ausweitung des Protestes gegen Arbeitsplatzabbau?

Fritz Teppich: Die Leute haben dort in der Gegend zu 90 Prozent CDU gewählt; das würden sie wohl heute nicht mehr tun, denn in diesem außerordentlich langen und verdienstvollen Kampf seit Mitte Dezember 1992 haben sie natürlich viele neue Ansichten und Erkenntnisse gewonnen und neue Erfahrungen gemacht. Zur Frage:

Erstens glaube ich, Bischofferode ist j.w.d., sehr isoliert, auch von der Hektik und von der Reizüberflutung dieses Lebens. In der Abgeschiedenheit können sie viel nachdenken. Zum zweiten gab es starke Unterstützung durch die Familien. Die Religion hat auch eine große Rolle gespielt, wobei diese Leute meist sozusagen basisreligiös eingestellt sind. Sie sehen Jesus Christus als einen Kämpfer für Gerechtigkeit und ich denke, das hat ihnen Kraft gegeben. Das alles führte dazu, daß die Belegschaft äußerst intelligent ihren Kampf führt. Dies zeigt sich auch an der Art und Vielfalt ihrer Aktionen: Die Frauen sind monatelang mit in den Schacht gefahren, dann der Hungerstreik, der Marsch nach Berlin, verschiedene Kundgebungen usw. Auch in den Verhandlungen die es verschiedentlich bis zum Bundeskanzleramt gab, wurde beachtliches geleistet. Die Gegenseite hatte die Schaffung von Ersatz-Arbeitsplätzen für einen begrenzten Zeitraum in Aussicht gestellt, aber die Kumpel haben gesagt, daß sie sich nicht gegen die Arbeitslosen — von denen es ja 22.000 in der Gegend gibt — ausspielen lassen und haben diese Bestechungsversuche zurückgewiesen.

Antifaschistisches Infoblatt: Gab es von rechts Versuche der Einflußnahme?

Fritz Teppich: Ja. Mehrere rechte Gruppierungen sind dort zu den Aktionstagen erschienen. Sie sind so aufgetreten, daß sie nicht auf den ersten Blick zu erkennen waren. Als ein Beispiel möchte ich die Schiller-Seilschaft (Schiller-Institut) von LaRouche (Lyndon Hermyle LaRouche, Jr.) und seiner Frau Helga Zepp-LaRouche nennen, die dort mit vielen Zeitungen erschien. Es gab auch einen fragwürdigen Mann, den wir nie ganz durchschauen konnten, der sich zu den Hungerstreikenden eingeschlichen hatte. Es hat das also gegeben und zwar ziemlich intensiv.

Antifaschistisches Infoblatt: Wie haben die Kali-Kumpel darauf reagiert?

Fritz Teppich: Es mußten erst Erfahrungen gesammelt werden. Leute mit mehr politischer Einblick haben versucht den Kumpeln zu erklären, was hinter der demagogischen Propaganda der Rechten steckt. Das hat gewirkt.

Antifaschistisches Infoblatt: Wie sah die Unterstützung des Kampfes vor Ort und durch Gewerkschaften aus?

Fritz Teppich: In der unmittelbaren Umgebung wurden die Kumpel stark unterstützt. Nur so war es möglich, daß am ersten Aktionstag circa 10.000 Leute teilgenommen haben. Die IGBE spielt dagegen eine fatale Rolle, indem sie den Kumpeln während des Kampfes in den Rücken gefallen ist. Sie hat an den Egoismus der Arbeiter in den anderen Kali-Bergwerke appelliert, indem sie gesagt hat, wenn Bischofferode weiter arbeitet, dann werden die anderen ihre letzten Arbeitsplätze verlieren. Der IGBE-Vorsitzende und SPD-Bundestagsabgeordnete Hans Berger, der übrigens im Aufsichtsrat der BASF sitzt, hat also im Effekt für die Interessen dieses NS-belasteten Konzerns Stellung bezogen.

Antifaschistisches Infoblatt: In dem Aufruf »Thüringen brennt« hatten sich eine Reihe Betriebs- und Personalräte aus der Region für eine Bündelung der Kräfte im Kampf gegen die Arbeitsplatzvernichtung in Ostdeutschland eingesetzt. Hat sich da etwas bewegt?

Fritz Teppich: Zu wenig. Die konservativ-reaktionären Organe - ich nenne das Handelsblatt, die FAZ, auch den Spiegel - hatten erkannt, welche Weiterungen dieser Kampf haben könnte. Sie sprachen von Flächenbrand, der ausgetreten werden müßte. Sie haben gesehen, daß durch eine Vernetzung aller Arbeitenden, die in ähnlicher Situation sind, für die Bundes- und Landesregierung eine schwierige Situation entstehen würde. Die SPD-Führung steht leider für den Fusionsvertrag und damit gegen Bischofferode. Es hat von einzelnen Leuten aus den Reihen der SPD, der Grünen und nachhaltig seitens der PDS sowie der ostdeutschen Betriebsräte-Initiativen und lokal von einzelnen Gewerkschaften Unterstützung gegeben. Das ist aber nicht genug angesichts der Bedeutung, die die Sache hatte.

Auch das »Neue Deutschland« hat zwar Artikel gebracht, in denen die Lage erklärt wurde, aber der Apell an die Massen und an die etwa 140.000 Mitglieder der PDS, daß sie überall ebenso spektakuläre Aktionen unternehmen, wie die Bischofferoder, ist ausgeblieben. Als die kämpfenden Kumpel zu ähnlichen Aktionen in anderen Städten und Regionen aufriefen, hätten 100 Leute in 50 Städten genügt, die in einer Kirche oder in einem Gewerkschaftshaus mit Hungerstreiks angefangen hätten und der Flächenbrand wäre dagewesen. So ist es nicht dazu gekommen. Wir können in Deutschland lange zurückblicken, bis wir einen Kampf finden, der mit dieser Intelligenz, Beharrlichkeit und Energie geführt wurde. Das hat nicht nur Bedeutung für die Arbeiterbewegung, sondern auch für Deutschland überhaupt. Gerade in diesen Tagen um den 9. November wird klar, wie sich Deutsche immer wieder gebeugt haben und nicht aufgestanden sind und auch nicht genug den Mund aufgemacht haben. Dieser Kampf wurde also bis in die Linke hinein unterschätzt

Antifaschistisches Infoblatt: In den letzten Jahren hat es in Deutschland einen starken Rechtsruck gegeben. Es ist zu erwarten, daß sich dies im nächsten Jahr bei den Wahlen fortsetzen wird. Wie siehst du die politische und soziale Entwicklung in Deutschland vor dem Hintergrund deiner Erfahrungen?

Fritz Teppich: 1989/90 fand in der DDR und im sozialistischen Lager keine Wende, sondern eine Rückwende statt. Solcher Rückwende, solcher Restauration folgt, das wissen wir aus der Erfahrung, stets Reaktion, Rassismus, Antisemitismus, Arbeiterfeindlichkeit usw. Die Rückwende wird langwierige Folgen haben und die Arbeiter und Arbeitslosen sollten erkennen, daß wenn sie sich nicht besinnen, sie dafür teuer bezahlen werden, schon teuer bezahlen. Auch im Nazi-Reich dachten ja viele, sie sind für Revolution, nationale Revolution - und wo hat das geendet? Auf den Schlachtfeldern, in Blut, Elend und Teilung Deutschlands.