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Neue Wache: "Krieg und Gewaltherrschaft" ersetzt "Faschismus und Militarismus"

Einleitung

Die "Neue Wache" ist ein umstrittenes Baudenkmal im Berliner Ortsteil Mitte. Errichtet wurde sie in den Jahren 1816–1818 von Karl Friedrich Schinkel als Wache für das gegenüberliegende Königliche Palais und Denkmal für die "Befreiungskriege". Nach dem deutschen Faschismus wurde das Gebäude von 1957 bis 1960 als Mahnmal für die "Opfer des Faschismus und Militarismus" wiederhergestellt. Nach der deutschen "Wiedervereinigung" wurden im Innenraum alle Elemente aus der DDR-Zeit entfernt und die Gestaltung von 1931 weitgehend wiederhergestellt. Jetzt dient die "Neue Wache" als neue "Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft". Wir dokumentieren eine Protesterklärung hierzu.

Bild: Sendker, Gemeinfrei, wikimedia.org

Eine Postkarte zeigt einen "Wachaufzug" der Wehrmacht vor der Neuen Wache.

"Es kann kein gemeinsames Gedenken an Täter und Opfer geben!"

Am 14. November 1993 wurde in Berlin die zur »Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland« umgestaltete "Neue Wache" wiedereröffnet. Künftig soll dort »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« gedacht werden. Dieses ganze Vorhaben staatlichen Opfergedenkens ist und bleibt ein Skandal. Wir distanzieren uns von der beabsichtigten Verhöhnung aller Opfer des deutschen Faschismus; von der geplanten Unkenntlichmachung der Täter, ja dem unverschämten Versuch, sie und sich selbst "ein-zu-opfern"; von dem Vorhaben, den in der sogenannten Historikerdebatte gewünschten »Schlußstrich unter die Deutsche Geschichte« durch einen zentralen Schluß-Klotz zu manifestieren. Gegen die Behauptung vom gesellschaftlichen Konsens erklären wir unseren Widerspruch zu diesem Schandakt. Am 9. November besetzten 50 Leute aus Protest die Neue Wache und wurden gewaltsam geräumt.

Alle nur noch Opfer in Deutschland?

Soll es denn in Deutschland künftig egal sein, ob einer freiwillig die Hakenkreuzbinde anzog oder ob eine andere gezwungen wurde, einen gelben Stern mit der Aufschrift »Jude« zu tragen? Soll es denn wirklich egal sein, ob einer SS-Sturmbannführer war, der ein Ghetto »liquidierte« und später in Dresden »ausgebombt« wurde oder ob jemand zuden deutschen Jüdinnen und Juden gehörte, die im Novemberpogrom 1938 umgebracht wurden, denen Synagogen, ihre Freiheit und ihr Eigentum zerstört wurde? Soll es auch egal sein, ob jemand als Soldat, als Volkssturm-Mann oder als Flak-Helferin die faschistische Reichshauptstadt bis zum letzten Moment fanatisch verteidigte und hierbei »fiel« oder ob eine andere in Viehwaggons durch Europa deportiert wurde, an der Rampe von Auschwitz selektiert und schließlich mit Millionen anderen in Gaskammern getrieben und ermordet wurde?

In dieser »Zentralen Gedenkstätte« finden wir alle beispielhaft genannten Personengruppen unterschiedslos als »Opfer« wieder. Neben der Hauptinschrift »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« wird auf einer zusätzlichen Tafel ausgeführt, daß gleichzeitig »der Gefallenen der Weltkriege« und »der Millionen ermordeter Juden« gedacht wird.

Im Deutschland von 1993 müssen die Unterschiede erklärt werden: Wieviele von denen, derer wir also gedenken sollen, haben als Angehörige der Deutschen Wehrmacht teilgenommen an den Liquidationen von Ghettos, Dörfern und ganzen Städten, an den Massenmorden an der Zivilbevölkerung in allen überfallenen und besetzten Ländern Europas, haben zumindest den SS-Sonderabteilungen ihre Opfer zugetrieben und sind anschließend »gefallen«?

Auch ohne solche Form von Beteiligung hielten »die Gefallenen« im Zweiten Weltkrieg eben die Front, hinter der in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor, Auschwitz und in vielen anderen solange pausenlos und systematisch Millionen Menschen ermordet wurden, bis diese Front durchbrochen werden konnte. Daher ist es unmöglich, gleichzeitig und an einem Ort beider »Opfergruppen« zu gedenken. Wer dies trotzdem vorschlägt, erweist den Helfern der Schlächter die letzte Ehre.

Die Erschlagenen, die Millionen Ermordeten aber werden gerade mit diesem Gedenken ein weiteres mal verhöhnt. Auch wenn auf der Opfer-Tafel einiger Menschengruppen, die Opfer des Nationalsozialistischen Regimes wurden, wie den Schwulen, den Sinti und Roma oder den Opfern des NS-Euthanasie-Programmes, zum ersten Mal nach über 48 Jahren an herausgehobener Stelle gedacht wird, so bleibt die Kritik, daß ihrer eben nur mitgedacht wird. Weder werden die Unterschiede ihrer spezifischen Verfolgungssituation berücksichtigt noch wird ihrer abseits ihrer einstigen Peiniger gedacht.

»Wir gedenken«, heißt es statt dessen , »der Unschuldigen, die durch Krieg und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind«. Wir fragen: Wessen Krieg? In wessen Gefangenschaft? Welche Vertreibung? Es ist unerträglich, daß derer, die systematisch aus der Gesellschaft ausgegrenzt und vertrieben, und derer, die aus ihren Ländern und ihrem Leben vertrieben wurden, nicht gedacht werden soll. Hierzulande wird nur eine Vertreibung betrauert: Die aus den »Ostgebieten«.

Wenn schließlich nicht nur der wenigen Deutschen gedacht wird, »die sterben mußten um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen«, sondern gleichzeitig »der Frauen und Männer, die verfolgt und ermordet wurden, weil sie sich totalitärer Diktatur nach 1945 widersetzt haben«, wundern wir uns kaum noch. Nur weil es böse Assoziationen; den bewußt gemiedenen Begriffen »Deutscher Faschismus« oder »Nationalsozialismus« wecken könnte, heißt es nicht schlicht und einfach: den Opfern des Stalinismus. Auch diese Gleichsetzung von Opfern lehnen wir ab.

Die Verbrechen Deutschlands im Faschismus stellen eine Singularität dar. Es verbieten sich System-Gleichsetzungen genauso wie das In-eins-setzen der sittlichen Motivation derjenigen, die dem Faschismus die Stirn boten mit der Widersachern anderer Systeme. Die Erinnerung an den von den Nazis fabrikmäßig organisierten Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden soll zugeschüttet werden: zugeschüttet das Wissen, daß dieses Verbrechen einmalig ist in der Geschichte und in der Welt; zugeschüttet auch alle Moral, die es verbietet, diese Singularität durch Vergleiche jeglicher Art zu verwischen.

Gleichzeitig sollen die Täter unkenntlich gemacht werden. 1933 machte sich das Deutsche Volk auf, sich zur faschistischen Volksgemeinschaft zu formieren. Wir wissen, daß die Verantwortung für die daraus resultierenden Verbrechen nicht pauschal zu verteilen ist. Wir können durchaus differenzieren zwischen den Bossen der Kriegsindustrie oder der IG Farben und dem kleinen Arisierungsgewinnler oder Rüstungsarbeiter, zwischen alt und jung, zwischen der gesellschaftlichen Elite, die versagte, und denen, die im Bierdunst »Heil« schrien.

Doch wie immer die Verantwortung zu bewerten ist und welche Konsequenzen daraus zu ziehen wären: Wir sagen Nein, wenn 50 Jahre danach im neuen großen Deutschland ungestraft die Aktionäre der IG Farben tagen dürfen, um über neue Gewinne aus den alten Taten zu reden. Wir sagen Nein zu der »Zentralen Gedenkstätte«: weil sie Täter zu Opfern erklärt, weil in ihr nicht einmal mehr der Nationalsozialismus beim Namen genannt wird, weil auf der Tafel zur Geschichte der Neuen Wache von 1933 bis 1945 eine große Lücke klafft.

Dem Deutschland von 1993 reicht es allerdings noch nicht, die Täter zu verschweigen: Man möchte endlich selber lieber als Opfer- denn als Täter-Nation gesehen werden. So scheut man nicht einmal davor zurück, Teile der Volksgemeinschaft, die sich vor 60 Jahren zu ihren Taten aufmachten, "ein-zu-opfern" und ihrer zentral zu gedenken.

Doch dieselbe Bundesregierung, die sich anschickt, in Berlin »aller Opfer« zu gedenken, weigert sich konsequent, Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Gedenkstätte in Auschwitz vor dem fortschreitenden Verfall zu bewahren.

Während der unterschiedlichen Gruppen der Opfer des Faschismus mitgedacht wird, sehen sich die Angehörigen dieser Gruppen in diesem Land erneut Verfolgung ausgesetzt: Was nützt den Behinderten eine Gedenktafel, wenn sie immer öfter auf der Straße überfallen werden und akademische Kreise über ihr Recht auf Leben erneut diskutieren? Was nützt den Roma und Sinti eine Gedenktafel, wenn sie weiter öffentlich diskriminiert und zu Tausenden außer Landes geschafft werden? Was nützt den Jüdinnen und Juden eine Gedenktafel, wenn der Antisemitismus in Deutschland auf allen gesellschaftlichen Ebenen wieder offen zu Tage tritt?

Solange für all diese Gruppen eine erneute Verfolgungs- und Bedrohungssituation besteht, solange sprechen wir diesem Land das Recht ab, ihrer heuchlerisch zu gedenken. Da die »Zentrale Gedenkstätte« kein Ort des Gedenkens für die Opfer des deutschen Faschismus sein kann, werden wir sie nie akzeptieren.

(Berlin 4.11.1993: Meshulash Berlin, Antirassistische Initiative, Berliner Mitglieder des Auschwitz-Komitees in der BRD. Unterstützt von: Vorstand der A.F.V.N. (Antifascistische oud- Verzetsstrijders Nederland - Bond van Antifaschisten), Jüdischer Kulturverein Berlin e.V., Antifaschistisches Aktionsbündnis, Redaktion Perspektiven, Frankfurt/Main, Internationale Liste/Undogmatische Linke an der Uni Frankfurt/Main, Büro Claudia Roth, MdEP)