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Zum Umgang mit "Schnellverfahren"

RH Hamburg EA Berlin (Gastbeitrag)
Einleitung

Seit 1994 gibt es das neue sog. »Schnellverfahren« (»beschleunigtes Verfahren«, § 417ff StPO) und seit 1997 die neue sog. »Hauptverhandlungshaft« (§ 127 b StPO). Mit dem Schnellverfahren soll die Möglichkeit geschaffen werden, daß »auf frischer Tat« gefasste Straftäter sofort nach der Festnahme, i.d.R. am nächsten Tag, vor Gericht gestellt und verurteilt werden.

Symbolbild von Christian Ditsch

Dazu sind prozessuale Schutzrechte der Angeklagten massiv eingeschränkt worden, z.B. braucht keine schriftliche Anklage erstellt zu werden, die Beweiserhebung ist eingeschränkt, ZeugInnen müssen nicht unmittelbar aussagen, sondern es kann aufgrund verlesener Vernehmungsprotokolle verurteilt werden usw. Voraussetzung für ein Schnellverfahren ist ein »einfacher Sachverhalt«, eine »klare Beweislage« und ein nicht allzu schweres Delikt (höchstmögliche Strafe im Schnellverfahren ist 1 Jahr Freiheitsstrafe, bzw. in dem Fall, daß kein/e Verteidiger/in anwesend ist, 6 Monate). Das Schnellverfahren wurde eingeführt mit dem ausdrücklichen Hinweis, es sei geeignet u.a. für »reisende Gewalttäter«, also DemonstrantInnen. Da sich schnell herausstellte, daß die wenigsten Menschen einen solchen »kurzen Prozeß« freiwillig mitmachten und zum Schnellprozeß oft einfach nicht erschienen, wurde diese Vorschrift ergänzt durch die Hauptverhandlungshaft. Danach kann ein/e Festgenommene/r, der für ein Schnellverfahren vorgesehen ist, bis dahin (bis zu einer Woche) auch ohne »Haftgrund« (das ist: Fluchtgefahr oder Verdunklungsgefahr, die Gründe, aus denen Untersuchungshaft verhängt werden kann) eingeknastet werden. Dieses Institut ist auch unter bürgerlichen JuristInnen umstritten, da hier einige Tage Haft für Delikte verhängt werden, für die als Strafe in der Regel nur Geldstrafen in Betracht kommen.

Diese Instrumente werden in neuester Zeit tatsächlich gegen uns angewandt: vgl. z.B. taz vom 24.3.98, S.9: zweimal vom Amtsgericht Heilbronn (wegen Anti-Castor-Aktionen); bekannt sind uns weitere Fälle aus Erfurt (Anti-Autobahn), München und Göttingen (jeweils Antifa), alle aus den letzten Monaten. Wir müssen uns also damit beschäftigen, darüber aufklären, Verhaltenstips erarbeiten und weitergeben und gegen die Vorschriften und ihre Anwendung politisch Druck machen. Insofern ist es höchst erfreulich, wenn im Antifaschistischen Infoblatt (AIB) ein Artikel (des "Ermittlungsausschuß Berlin", Anm. des AIB) dazu mit Verhaltenstips erscheint und dieser auch in Rote-Hilfe-Publikationen (z.B. Regionalinfo Lingen) nachgedruckt wird.

Kritik der "Rote Hilfe Ortsgruppe Hamburg" am Schnellverfahren-Artikel

Dieser Artikel ist auch zu zwei Dritteln gut und nützlich, enthält jedoch in seinem letzten Drittel Verhaltensvorschläge, denen wir deutlich widersprechen!

Zunächst weist der Artikel ganz richtig darauf hin, daß Betroffene auf jeden Fall einen Anwalt oder eine Anwältin verlangen sollten. Für den Fall, daß sie das Schnellverfahren gegen Euch durchziehen wollen, ohne daß Ihr einen Anwalt habt, wird in dem Artikel gesagt, daß Ihr »Anträge stellen müßt, um das Verfahren doch noch abzuwenden«; es wird empfohlen, sich dabei auf »Artikel 6 Absatz 3b der Menschenrechtskonvention« zu berufen; es wird weiter empfohlen, Beweisanträge zu stellen und sogar ZeugInnen zu Deiner Entlastung zu benennen, etwa in der Art: »XY war auch dabei und kann bezeugen, daß ich nicht...«. Das halten wir für grundfalsch und saugefährlich! Die Rote Hilfe rät zur konsequenten und umfassenden Aussageverweigerung, egal ob als Zeuge oder Beschuldigte, egal ob vor Polizei, Staatsanwaltschaft oder Richter! Auf jeden Fall solange, bis Gelegenheit zu ungestörtem Anwaltsgespräch und zu ruhigem Überlegen ist: auf gar keinen Fall also irgendetwas sagen, nachdem Du überraschend verhaftet wurdest und/oder eine Nacht im Knast verbracht hast! Name, Adresse, Geburtsdatum und -Ort, Beruf (allgemein) und Familienstand - das sind die »Angaben zur Person« und sonst nix! Die einzigen Worte, die darüberhinaus über unsere Lippen kommen sind allein: »Ich verweigere die Aussage!« und »Ich will sofort eine/n Anwältin/Anwalt sprechen!«. Erstmal ist es nicht nötig, sich auf irgendetwas zu berufen oder irgendwelche Anträge zu stellen! Wer gar nichts sagt, gerät auch nicht in Gefahr, zu irgendetwas sein/ihr »Einverständnis« zu geben, z.B. zur Verlesung von Aussagen oder zum Rechtsmittelverzicht - Schweigen reicht, entgegen dem Eindruck, den der Artikel erweckt, wenn er schreibt: »Die Zustimmung dazu müßt Ihr natürlich verweigern.«. Ob das Verfahren gegen die Menschenrechtskonvention verstößt (die »ausreichende Gelegenheit zur Verteidigung« vorschreibt), sollte mal in einem geeigneten Fall vor einen Europäischen Gerichtshof getragen werden, die Rote Hilfe wäre bei der Finanzierung eines Musterprozesses sicherlich dabei - dafür ist es aber völlig unerheblich, ob die Betroffene sich am Anfang darauf berufen hat oder nicht! Auch wird der/die Richter/in,der Dich verurteilen will (und nicht einmal auf Deine/n Anwalt/Anwältin wartet!), sich auch nicht von einem solchen Hinweis plötzlich einschüchtern lassen und das Verfahren abbrechen. Die Berufung darauf ist schlicht überflüssig und mensch sollte Leute, die auf 'ne Demo gehen wollen, nicht noch damit belasten, sie müssten sich Artikel der Menschenrechtskonvention o.a. merken, weil es wichtig sei, sie gegebenenfalls parat zu haben - diesen Eindruck erweckt der Artikel aber (»Ihr müßt einen Antrag mit folgendem Wortlaut schreiben...«; »Ihr müßt als allererstes darauf bestehen...«) und das ist, Stichwort »Angstmachen«, eher kontraproduktiv! Keine Aussagen außer Personalien machen, EA- und Anwalts-Telefonnummer parat haben, das ist alles, was Demonstrantin »im Fall des Falles« wirklich draufhaben muß, sonst nix!

Richtig falsch und gefährlich werden die Ratschläge aber unsrer Meinung nach dort, wo geraten wird, ZeugInnen zu benennen: Damit reitet Ihr andere mit rein! Um Himmels Willen nicht sagen, wer (»Name, Adresse...«) wo dabei war! Daß das erstens nichts nutzt und zweitens schadet, ist schon in o.g. taz-Artikel nachlesbar: Trotz drei von ihm benannter EntlastungszeugInnen wurde der Angeklagte verurteilt und die drei EntlastungszeugInnen noch im Gerichtssaal festgenommen und angeklagt wegen Meineides! Auch wenn's nicht ganz so schlimm kommt: etwas Besseres kann den Repressionsorganen gar nicht passieren, als wenn wir unter diesen Bedingungen (Verhaftung bei der Aktion, Nacht im Knast, unberaten, ohne Rücksprache mit FreundInnen, politischen Gruppen, EA, Roter Hilfe...) zu plaudern beginnen, ihnen alles erzählen, von dem wir glauben (ohne irgendwelche Akten gesehen zu haben!), es könnte uns entlasten o.a. Dann hätten sie ein wichtiges Ziel des Schnellverfahrens, nämlich zu verhindern, daß unsere Soli- und Prozeßvorbereitungs-Strukuren zu greifen beginnen, erreicht! Was Stattdessen? Jede Aussage verweigern, immer wieder nach dem Anwalt verlangen! Möglicherweise werden sie schon, wenn sie merken, daß Du konsequent und nicht einzuschüchtern bist, auf ein Schnellverfahren verzichten, dies ist ja für »einfache Sachverhalte« gedacht. Wenn sie es dennoch durchführen wollen, kannst Du sie in dieser Situation nicht daran hindern - dann lass es über Dich ergehen wie einen Regenschauer. Unmittelbar danach ist erstmal Ruhe, sie lassen Dich raus und Du kannst sofort zur/zum AnwältIn/EA/Rote Hilfe, Du legst innerhalb von einer Woche Berufung ein und bereitest Dich in aller Ruhe auf den Berufungsprozeß vor. (Sollte die Berufung in Bagatellverfahren wegen § 313 StPO ausnahmsweise nicht möglich sein, so wäre dies ein Fall, der einmal bis in die höchste Instanz getrieben und öffentlich besonders angeprangert werden musste! Das Schlimmste aber, was auch theoretisch in einem solchen Fall passieren kann, ist einen Geldstrafe von maximal 15 Tagessätzen.)

Inhaltliche Anträge (Beweisanträge) solltest Du auf gar keinen Fall stellen! Eingelegte Proteste oder formale Anträge des ersten (Schnell-)Verfahrens spielen im Berufungsverfahren sowieso keine Rolle, aber was eine Rolle spielen kann, und zwar in der Regel gegen Dich, sind die gemachten Aussagen im ersten Verfahren, von Dir und von den ZeugInnen! Also: Keine Aussagen im Schnellverfahren, keine inhaltlichen Anträge (in denen in irgendeiner Weise zum Strafvorwurf Stellung genommen wird), vor allem keine ZeugInnen-Benennungen!

Zum Schluß: Wir sind in der Verhaftungs-Situation immer die aktuell Schwächeren! Der Gegner bestimmt die Umstände, bis hin zur Raumtemperatur, der Beleuchtung, unserer Übermüdung usw. Unsere ganze Stärke zeigen wir hier, indem wir uns in ein Schneckenhaus zurückziehen und wie eine kaputte Schallplatte monoton »Ich mache keine Aussage« leiern - nicht, indem wir Bullen oder Richtern vorzuführen versuchen, was wir für ein toller Kerl sind oder was wir juristisch alles drauf haben.

Wenn wir aber von der Situation, und auch das kommt mal vor, einmal nicht eingeschüchtert sein sollten und uns gut und stark fühlen, können wir andere Sachen machen, die sich nicht ihrer Regie unterwerfen und ihnen maximalen Ärger und Umstände verursachen: In Gefangenensammelstellen kann mensch oft die Einrichtung, die elektrische Anlage usw. zerlegen; niemand muß freiwillig in den Gerichtssaal gehen, mensch kann sich schleifen oder tragen lassen; mensch kann nachts einen Arzt verlangen und am nächsten Tag dagegen, daß keiner kam, protestieren; alles protokollieren lassen (solange sie dabei mitspielen); sich für gesundheitlich verhandlungsunfähig erklären; usw. Ihr könnt natürlich auch all die schönen formalen Anträge stellen, von denen in dem o.g. Artikel die Rede ist, z.B. die Verhandlung zu unterbrechen zwecks Verteidigungsvorbereitung, Befangenheitsanträge gegen RichterInnen u.a.- die werden alle nichts nützen und vor allem: Ihr »müßt« das nicht, aber ihr könnt es tun und es schadet nichts. Mensch kann die Schnell-Verhandlung permanent stören, sich nicht setzen, ständig dazwischenrufen, auf den Tisch trommeln usw. - ob ein Schnellverfahren auch in Abwesenheit des wegen Störung ausgeschlossenen Angeklagten (§ 231 b StPO) überhaupt weitergeführt werden darf, ist bisher noch nicht ausprobiert worden! Das Wichtigste ist aber, daß es den Repres sionsorganen auch mithilfe dieses Mittels nicht gelingen darf, von uns Aussagen zu erpressen!

Stellungnahme des "Ermittlungsausschuß Berlin"

Wir haben das Informationsblatt zum Schnellverfahren mitherausgegeben und ziehen es nun aus dem Umlauf. Es ist sehr richtig, daß die RH zu dem Teil, wo ZeugInnen mit Namen und Anschrift benannt werden sollen, einschreitet. Wir könnten uns aus der Affäre ziehen und sagen: das war ein Test, die RH hat's als erste und einzige bemerkt. So ist es aber nicht. Das Schnellverfahren ist für uns Neuland und es wurde versucht, es erstmal auf der juristischen Ebene zu begreifen. Dabei haben wir in der Eile unsere eigenen politischen Selbstverständlichkeiten völlig außer acht gelassen. Die Kritik der RH bezieht sich außerdem auf die Kompliziertheit und den Umfang der Anträge, die vor dem »Schnellverfahren« gestellt werden können. Klar ist es richtig, daß mensch das Schnellverfahren durch Aussageverweigerung über sich ergehen lassen kann und später mit anwaltlicher Hilfe Berufung einlegen kann. Es ist in diesen Verfahren jedoch sehr wohl möglich, daß mensch nach der Verhandlung bis maximal sechs Monate eingeknastet werden kann, weil mensch z.B. schon einige Vorstrafen hat. Ziel des Informationsblattes war es jedoch, den Leuten die juristischen Möglichkeiten aufzuzeigen, das Schnellverfahren mit den gleichen Waffen zu schlagen oder auch nur zu blockieren. Wir wollten es nicht als »Muß« verstanden wissen, sondern lediglich Tips geben. Jede/r entscheidet selbst, ob er/sie mit diesen Tips etwas anfangen kann. Wir denken nicht, daß die Anträge immer gleich vom Richter abgebügelt werden, manchmal geschehen ja noch Wunder... Wir werden die Infos jetzt erneut überarbeiten und diskutieren und versuchen es dann noch mal. In diesem Sinne danken wir für die konstruktive Kritik.