"Euthanasie" und Bevölkerungspolitik
Der Historiker Detlev Peukert veröffentlichte kurz vor seinem Tod einen Aufsatz, in dem er versuchte, die Logik der Vernichtung, die mit dem Namen »Auschwitz« verbunden ist, aus der Logik der medizinischen Pflege und dem Versprechen auf einen gesunden »Volkskörper« zu erklären. In der Moderne lag nach Peukert ein Zug, soziales Elend und Krankheit abzuschaffen. Für lange Zeit sei es dabei um Maßnahmen gegen die Ursachen und Symptome von Armut und Krankheit gegangen. Doch in Verbindung mit einer rassistischen Ausgrenzungsmentalität seien schließlich statt der Armut die Armen und statt der Krankheit die Kranken ins Blickfeld gerückt. Als die zu verteilenden Mittel spärlicher und die Ausgaben für Sozial- und Gesundheitssystem knapper wurden, stieg die Bereitschaft, diese Menschen zu ermorden.1
- 1Peukert, Detlev J.K., »Die Genesis der 'Endlösung' aus dem Geist der Wissenschaft«, in: J.K. Detlev Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 102 ff.. 1990 starb Detlev Peukert im Alter von 40 Jahren.
Bereits seit den Siebziger Jahren war, beispielsweise in der Zeitschrift »Autonomie« oder in den »Beiträgen zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik«, auf den Zusammenhang zwischen kapitalistischer Verwertungslogik und Bereitschaft zur Vernichtung in modernen Gesellschaften aufmerksam gemacht worden. Tatsächlich war es das Fachwissen der Ärzte, die auf Hitlers Anweisung die Euthanasie-Aktion durchgeführt hatten - das heißt praktische Erfahrungen in der massenhaften Vernichtung von Menschen gesammelt hatten -, das dann beim Aufbau der Todesfabriken als Grundlage diente, als es darum ging, zur Judenvernichtung zu schreiten.
Sicher wäre es falsch, in dieser Logik den entscheidenden, alles erklärenden Schlüssel zu "Auschwitz" zu suchen. Aber zumindestens in Deutschland nach 1945 konnten sich die diskreditierten Befürworter des angeblich so »schönen Todes« - denn das heißt "Euthanasie" übersetzt - über lange Zeit nicht mehr offensiv in die Öffentlichkeit wagen.
"Euthanasie" und Sterbehilfe
Das hat sich seit einigen Jahren geändert. Wesentlich unbefangener wird "Euthanasie" öffentlich diskutiert, auch wenn der Begriff nicht immer verwendet wird. Es ist bequem für die Befürworter von "Euthanasie"-Maßnahmen, wenn der prominenteste Fürsprecher dieser Praxis, Peter Singer, nicht nur kein Deutscher ist, sondern vom Vorwurf des Rassismus stets als Jude in Schutz genommen wird. Mit dem »Personenkult« um Singer beschäftigt sich ein extra AIB-Artikel der Ausgabe Nr. 45 über ein Seminar an der TU Braunschweig.
Statt um das häßliche Wort vom »schönen Tod« wird in der deutschen Debatte oft um Sterbehilfe diskutiert. Medienwirksam wird das Schicksal einzelner Patientinnen dargestellt, die Sterbehilfe mehr oder weniger offen als einzige Erlösung präsentiert. Dabei verwischen häufig die Grenzen. Moralisch und ethisch ist das Problem hochkompliziert: Gibt es einen Anspruch auf einen selbstbestimmten Tod? Kann ein Tod selbstbestimmt sein in einer entfremdeten Gesellschaft, in der noch nicht einmal das Leben selbstbestimmt ist? Wann ist eine Entscheidung »frei«?
Mit dem Problem der Sterbehilfe gerät die moderne Medizin im ausgehenden 20. Jahrhundert ins Blickfeld. Einerseits sind PatientInnen Objekte von Kosten-Nutzen-Kalkulationen, andererseits sind zahlungsfähige PatientInnen auch profitträchtig. Die Zerschlagung der Polikliniken in der DDR sowie die Privatisierungen und Teilprivatisierungen im gesamtdeutschen Gesundheitssystem haben die betriebswirtschaftliche und auf Profit orientierte Ideologie im medizinischen Bereich verstärkt.
Zugleich steigt die Forderung, nicht mehr "verwertbare" Menschen töten zu dürfen. Behinderten, Alten, schwer leidenden Kranken wird dabei abgesprochen, darüber entscheiden zu können, ob ihnen ihr Leben noch etwas »bringt«. Einige Urteile der vergangenen Jahre weiten die Möglichkeiten zu derartigen Maßnahmen aus.
Bevölkerungspolitik im Norden und im Süden
Ausgrenzung, passives »Sterbenlassen« und aktivere Formen einer Art "Vernichtung" armer, kranker, »nicht-lebenswerter« Menschen ist kein Gespenst der Vergangenheit - es ist alltägliche Praxis in jenem größeren Teil der Erde, in dem der größere und ärmere Teil der Menschheit lebt. Die Hightech-Medizin der Industrieländer steht in einem krassen Gegensatz zur nicht vorhandenen medizinischen und ökonomischen Grundversorgung der Menschen in der sogenannten Dritten Welt. Und so liegt dort und bei der armen Bevölkerung der Industrieländer auch der Schwerpunkt auf jenen Maßnahmen, die verhindern sollen, daß sie nach ihrem eigenen Willen Kinder bekommen. Von der Vernichtung der Armut zur "Vernichtung der Armen" - und weiter, zur präventiven Verhinderung ihrer Reproduktion. Dreimonatsspritzen, Implantate und Zwangssterilisierung von Frauen in Afrika, Asien und Lateinamerika sind das Instrumentarium dieser »Prävention«. Ein Geschäft, bei dem die multinationalen Pharmakonzerne riesige Gewinne einfahren. In der Kritik diesbezüglich steht beispielsweise Schering mit dem umstrittenen Langzeitverhütungsmittel Depo-Provera, das zuerst an schwarzen Frauen in Südafrika und Namibia getestet wurde. In den USA werden mittlerweile afroamerikanische Sozialhilfeempfängerinnen mit mehreren Kindern per Gerichtsbeschluß dazu gezwungen, Depotverhütungsmittel zu benutzen. Diesen Punkt gilt es festzuhalten, da sich die hier abgedruckten Artikel auf Deutschland und Europa konzentrieren.
Zugleich dienen die armen Länder auch als Versuchsfelder für den reichen Norden. Weltweit sind es bestimmte Bevölkerungsgruppen, die kein selbstbestimmtes Recht auf Reproduktion haben sollen. Erst vor kurzem wurde bekannt, daß sowohl in Schweden als auch in Frankreich Zehntausende von Menschen mit Behinderungen ohne ihre Einwilligung sterilisiert wurden; und es sind bestimmte Kinder, die nicht leben sollen: Arme, kranke, behinderte. Dem dient die pränatale Diagnostik der Industrieländer, mit der sich Udo Siercks Gastbeitrag im AIB Nr. 45 befasst. Kriterium ist die Verwertbarkeit nach Kapitallogik.
Die AIB-AutorInnen wollen selbstverständlich in der Debatte keine Position gegen einen selbstbestimmten Tod beziehen, noch gegen das Recht zur Entscheidung von Frauen, ob sie ein Kind austragen wollen oder nicht. Doch die aktuelle Debatte verschiebt die Frage weg von der Selbstbestimmung hin zur Fremdbestimmung. Danach sollen, können, müssen »verwertbare« Kinder ausgetragen werden. »Nicht-verwertbare« Menschen, »nutzlose Esser«, sollen, können, müssen von ihrem Leben »erlöst« werden.