Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst.
Annette WeinkeIn diesem Jahr feiert sich die Bundesrepublik als Erfolgsmodell. Grundgesetz und Wiedervereinigung gelten als Ecksteine der Berliner Republik. Besonders stolz tragen Politik, Medien und manche Historiker die Behauptung vor sich her, die angeblich so vorbildliche Bewältigung der NS-Vergangenheit könne ein Demokratie-Exportgut des neuen Deutschland sein. Das Buch der Berliner Historikerin Anke Weinke hingegen zeigt dem Leser das Nachtgesicht bundesdeutscher Geschichte: der widersprüchliche Versuch der frühen Bundesrepublik, die juristische Schuldabwehr aufzugeben.
Zum 50. Jahrestag der Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle für Kriegsverbrechen war die Presse voll des Lobes über dieses Beispiel gelungener juristischer Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der alten Bundesrepublik. Es ist Joachim Perels (siehe auch Artikel auf Seite 40) zu danken, dass er in seinem Geburtstagstext auch jene Schleifen flocht, die keine hellen Farben tragen. Dass und in welchem Maße die Zentralstelle Gegenstand heftiger politischer Kontroversen war, als veritable Teile der politischen Klasse das Projekt einer koordinierten Verfolgung von NS-Tätern lieber heute als morgen beerdigt sehen wollten, all dies wurde indes geflissentlich verschwiegen.
Eben davon handelt die instruktiv zu lesende Monographie der Historikerin Annette Weinke, die bereits 2002 einen Band zum Vergleich der Verfolgung von NS-Taten in Ost und West vorlegte.
In ihrer Einleitung legt die Autorin die wechselvolle Geschichte der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen dar. Denn dass es keineswegs als ausgemacht galt, dass der in die Souveränität entlassene westdeutsche Staat die von den Alliierten betriebene Ahndung von NS-Verbrechen fortsetzen würde, wurde an Bemühungen namentlich der FDP- und CDU-Fraktionen im Bunde stehend mit der Bonner Ministerialbürokratie deutlich, die sich mühten, diese im Sande verlaufen zu lassen. Es ist der sogenannte Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, der die Wende zum koordinierten Versuch der Bundesländer zu einer abgestimmten Vorgehensweise in Sachen NS-Verbrechen zu gelangen, bringt.
Differenziert stellt die Autorin die schwierige Rolle des Ulmer Anklägers und späteren ersten Leiters der Ludwigsburger Stelle, Schüle dar. Dieser erwarb sich im Ulmer Verfahren bleibende Verdienste und trieb seine Arbeit in Ludwigsburg mit Akribie voran. Doch justizpolitisch agierte Schüle wenig strategisch. Das politisch gewollte Dilemma der bundesdeutschen Justiz, NS-Verbrechen mit dem Handwerkszeug des normalen Strafgesetzbuches anstelle eines auf die Dimension der NS-Verbrechen zugeschnittenen Rechts verfolgen zu müssen, erläutert die Autorin anschaulich anhand der Debatte, ob es sich bei den Tätern jenseits von Himmler und Heydrich um Mörder oder eben doch nur um Mordgehilfen gehandelt habe. Nachvollzogen werden in der Monographie auch jene großen politischen Debatten, die um Verjährungsfristen für NS-Taten kreisten.
Weinke macht in ihrem Buch deutlich, wie sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nach Eichmann- und Auschwitzprozess in den 1960er Jahren eine kritische Öffentlichkeit herausbildet, die das Schweigen und die Strategien der Schuldabwehr nicht mehr unwidersprochen lässt.
Interessant sind dabei vor allem zwei Aspekte. Hatten die beiden großen Kirchen bis weit in die 1950er Jahre hinein die Blickperspektive der Täter als sogenannte »Kriegsverurteilte« mit dem Ziel der Entlastung und Schuldabwehr eingenommen, so bildet sich zur Mitte der 1960er Jahre in der evangelischen Kirche eine Gruppe heraus, die eine deutlich kritischere Sicht auf die NS-Vergangenheit favorisiert (vgl. AIB 79, »Mit Blick auf die Täter«).
Nur am Rande spielt schließlich jenes komplexe Interaktionsverhältnis der bundesdeutschen Politik und Justiz zu den Ostblockstaaten und insbesondere zur DDR eine Rolle. Denn die Einsicht der Ermittler, dass man ohne die Aktenbestände namentlich aus Polen und Tschechien wesentliche Aspekte des nationalsozialistischen Massenmordes nicht ergründen konnte, wurde durch den Kalten Krieg und die Kampagnen der Ostberliner SED-ZK-Propagandaabteilung unter Albert Norden verstellt. Doch Nordens im Tonfall unsägliche, manchmal jedoch treffsichere Anwürfe, setzten das Bonner Establishment nur dann unter Druck, wenn die Stimme der DDR-Propaganda im Chor jener ehemalig von Deutschland besetzten Staaten erklang, die mit Sorge auf den Gang der Dinge in der Bundesrepublik blickten.
In vorbildlicher Weise erarbeitet die Autorin hier Zeitgeschichte als Konfliktgeschichte. Der Band sei allen zur Lektüre empfohlen, die nach dem zu erwartenden Erscheinen von Jubelbiographien zur Geschichte der Bundesrepublik noch Fragen an die postnazistische Gesellschaft haben.
Annette Weinke
Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst.
Die Ludwigsburger Zentralstelle 1958–2008
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008
224 S. ISBN-13: 9783534219506