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„Racism still lives here“

Xavier Bonnet
Einleitung

Die antirassistischen Proteste in Ferguson und anderen US-Städten haben etwas bewegt. Das zeigt die „Black Lives Matter“-Bewegung (BLM), die sich im beginnenden Wahl­kampf immer wieder Gehör verschafft. Aber ob sie dem strukturellen Rassismus in den USA mehr als nur ein paar Kratzer zufügen kann?

Foto: flickr.com/scottlum (CC BY-NC 2.0)

„Racism still lives here“ war einer von zahlreichen Sätzen, die bei den Demonstrationen am ersten Jahrestag der Ermordung von Michael Brown in Ferguson auf Transparenten mitgetragen und mit Sprechchören skandiert wurden. Mehr als Tausend Menschen, darunter die Familie von Brown,  marschierten durch den Vorort von St. Louis im Bundesstaat Missouri. Nachts kam es zu einem Schusswechsel mit der Polizei, bei dem der 18-jährige Tyrone Harris verletzt wurde. Er hatte unweit der Stelle, an der Brown ein Jahr zuvor starb, auf ein Poli­zeiauto gefeuert. Die Polizei streckte ihn nieder. Er wird wohl überleben.

Trotz des Ausnahmezustands, den die Behörden daraufhin verhängten, gingen in den Tagen darauf weiterhin hunderte Menschen auf die Straßen. Es kam zu über 150 Festnahmen, die meisten davon bei Blockaden des örtlichen Gerichts und einer Auto­bahn. Eine For­derung der Demonstranten: die Auflösung der örtlichen Polizeibehörde. Aus deren Reihen stammte der Beamte Darren Wilson, der Brown erschossen hatte, Monate später freigesprochen und aus dem Dienst entlassen worden war. In einem Porträt mit dem „New Yorker“ von Anfang August ließ Wilson keinen Zweifel an seiner rassistischen Selbstgerechtigkeit. Brown sei ein „Böser“ gewesen, er habe ihn „erschie­ßen müssen“. Die Schwarzen hätten eine „andere Kultur“ und eine „schlechte Erzie­hung“, die Weißen Amerikas die „bes­sere Kultur“.

Wilson ist dabei nur ein Produkt des Jahrhunderte alten, strukturellen Rassismus in den USA und die Polizeibehörden und ihre Verteter nur eine Institution, in der der Rassismus fortlebt. Ein Bericht von Amnesty International vom Frühsommer attestiert jedem einzelnen der 50 US-Bundesstaaten „ein weit verbreitetes Muster von rassistischer Diskriminierung durch Polizeibeamte und die alarmierende Anwendung tödlicher Gewalt“. Wenige Wochen zuvor hatte die Obama-Regierung, die auf die Proteste hin eine „Task Force on 21th Century Policing“ eingerichtet hatte, bei den örtlichen Poli­zeibehörden klare Richtlinien über den Gebrauch von Gewalt eingefordert, inklusive einem entsprechenden Training, das die Philosophie von der „Unantastbarkeit des Lebens“ berücksichtigt. Doch das Prinzip von Schußwaffengebrauch als letztem Mittel, wie es auch die USA im „International Covenant on Civil and Political Rights“ unterzeichnet haben, steht weiterhin nur auf dem Papier. Das US-Justizministerium ist noch nicht einmal in der Lage, über tödliche Schüsse und Schläge von US-Polizisten Buch zu führen. Namen und Umstände festzuhalten wäre aber der erste Schritt, um Daten überhaupt auszuwerten und dann Reformen vorzuschlagen — ein Schritt, der nicht ge­macht worden ist.       
       
Dass diese Fakten — Elemente des strukturellen Rassismus — überhaupt bekannt wurden, ist den unermüdlichen Aktivist_innen der jungen „Black-Lives-Matter-Bewegung“ zu verdanken. Auch andere dezentrale Basisgruppen, die sich in den vergangenen zwei Jahren aus den Protesten gebildet haben, trugen dazu bei, etwa die „Coalition Against Police Violence“ oder das „Black Youth Project 100“. Die „Dream Defen­ders“ aus Florida existierten bereits vor BLM.

In Ferguson gab es trotz der internationalen Kritik und trotz eines niederschmetternden Berichts des US-Justizministeriums kaum Änderungen. Der Stadt­direktor, der Richter und der Polizeichef nahmen ihren Hut. Außerdem darf sich die Polizei nicht mehr in dem Ausmaß wie zuvor als Geldeintreiber betätigen. Diese Praxis hatte Hunderttausende von Dollars in die Stadtkassen gespült: Die Polizei hatte will­kürlich Schwarze und Latinos angehalten und Geldbußen für Bagatelldelikte verhängt.   

Aber sonst blieb in der Vorstadt, die über die USA hinaus zum Symbol für Rassismus made in USA wurde, alles beim Alten. Mehr als 60 Reformentwürfe wurden vom Parlament des Bundesstaates Missouri abge­schmettert: Die Polizei darf weiterhin „Vorwärtsverteidigung“ betreiben und muss keine Körperkameras tragen. Sonderermitt­ler wird es im Fall von polizeilichen Todes- schüssen nicht geben. Und nicht zuletzt hat Missouri über die soziale Situation in Ferguson einen Bericht erstellen lassen. Die  Empfehlungen, etwa die Anhebung des Mindestlohns, lesen sich schön — mehr aber nicht.

Ferguson steht exemplarisch für Hunderte von Ortschaften in den USA, in denen dieselbe Struktur herrscht. Nach einer Studie des 25-jährigen Informatikers Samuel Sinyangwe, der auf seiner Webseite „Mapping Police Violence“ Polizeiübergriffe aus­wertet, wurden 2014 1149 Menschen von Polizisten umgebracht. Es war dreimal wahr­scheinlicher, dabei als Afroamerikaner erschossen zu werden. Im März 2015 wurde statistisch gesehen alle 21 Stunden ein Schwarzer von der Polizei umgebracht. VICE News fand heraus, dass täglich im Durchschnitt fast drei Menschen von Polizisten umgebracht werden. 42 Prozent der schwar­­zen Kinder gehen in total verarmten Bezir­ken zur Schule. Die Hälfte aller schwarzen Jugend­lichen, die keinen High-School-Abschluss haben, ist und bleibt arbeitslos. Obwohl Afroamerikaner 13,2 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, stellen sie 37 Prozent der Obdachlosen.  Jeder 13. Afro­amerikaner darf nicht wählen — weil er oder sie im Gefängnis war oder ist. Überhaupt: Fast die Hälfte aller Häftlinge in den USA sind Schwarze, die statistisch gesehen eine sechsmal höhere Wahrscheinlichkeit haben, im Knast zu landen als Weiße.

Im August erregte „Black Lives Matter“ mehrmals mit Interventionen in den Vorwahlkampf vor dem Urnengang im Herbst 2016 Aufmerksamkeit. In Seattle verhinderten zwei „Black Lives Matter“-Aktivistinnen eine Wahlkampfrede des Sozialisten Bernie Sanders und warfen der versammelten Menge „Rassismus“ vor. Die Aktion war in der US-Linken umstritten. Aber Sanders, der die Bewegung bis dahin igno­riert hatte, unterstützt seitdem öffentlich die Forderungen nach Polizeireform und Antirassismus. Auch die führende demo­kra­tische Kandidatin Hillary Clinton kommt an „Black Lives Matter“ nicht mehr vorbei. Als sie erfuhr, dass Aktiviste eine Wahlkampf­rede von ihr unterbrechen wollten,  ließ sie sie abfangen, um nach ihrer Rede die   „Black Lives Matter“-Aktivisten zu einem Ge­spräch über deren Forderungen einzuladen.

Seit Mitte August ist aus der Bewegung ein Online-Manifest namens „Campaign Zero“ hervorgegangen, das Polizei- und Straf­rechtsreformen anmahnt und konkrete Forderungen stellt. Dazu zählen die Begrenzung polizeilicher Gewaltmittel, die Kontrolle örtlicher Polizeiwachen durch Bürgerausschüsse, die Ausstattung von Beamten mit Körperkameras, das sofortige Ende aggressiver Polizeitaktiken und schwere Strafen für Regelüberschreitungen.

„Campaign Zero“ bezieht sich dabei posi­tiv auf reformierte Polizeibehörden in wenigen Städten der USA. So ist es den Behörden in Illinois untersagt, einzelnen Polizisten die Verhängung einer Mindestzahl von Straf­zetteln zu verordnen. In Cincinnati dürfen die schwer bewaffneten SWAT-Teams nur in ausgesprochenen Krisensituationen eingreifen. Im Kongress steht ein Gesetzesentwurf an, der unabhängige Ermittler im Fall von Polizeiübergriffen auf den Plan rufen würde.

Im Wahlkampf werden Vorschläge für Polizei- und Strafrechtsreformen eine grö­ßere Rolle spielen als bisher. Denn Sanders, Clinton und andere Kandidat_innen aus der Demokratischen Partei setzen auf afro­amerikanische Stimmen und kommen des­halb an der neuen jungen Bürgerrechtsbewegung nicht vorbei. Ob und inwieweit sich die „Black-Lives-Matter“-Bewegung dabei funktionalisieren lässt, ist noch nicht ausgemacht. Dank ihrer Aktivitäten hat der strukturelle Rassismus in den USA erste Kratzer bekommen.