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Antirassismus muss theoretisch werden

Hannes Bode (Gastbeitrag)
Einleitung

»Rassismus« steht aktuell im Mittel­punkt linken Interesses. Doch seine Struktur und sein Zusammenhang mit dem Kapitalverhältnis werden selten wirklich erfasst und reflektiert, die theoretische Unterkomplexität lässt die Praxis blind werden. Oft wird der linke Diskurs gar selbst rassistisch – vor allem beim Thema antimuslimischer Rassismus werden in »postantideutschen«, »postmodernen« und »bewegungslinken« Kreisen ideologische Identitätspolitiken reproduziert und soziale Konflikte kulturalisiert.

Foto: flickr.com; Kaje Yomama/CC BY NC 2.0

Von zentraler Bedeutung für Debatten und (Re-)Positionierungen linker Strömungen oder Gruppen sind die Themen Islam, Islamismus und antimuslimischer Rassismus. Nirgends zeigt sich deutlicher, wie schwierig es ist, aus den ideologischen Denkformen und Identitätspolitiken aus­zu­brechen, die die Verhältnisse uns vorgeben, als wenn vermeintlich religionskritische AntifaschistInnen sich positiv auf kulturalistische Zuschreibungen, islamistische Normen oder folternde Diktaturen beziehen, oder vorgebliche »IdeologiekritikerInnen« neben allerlei bürgerlicher Ideologie immer offeneren Rassismus propa­gie­ren.1

Zwischen bürgerlichem und irgend­einem »linken« Denken ist hier nicht zu trennen. Bei dem zugrundeliegenden Kulturalismus bzw. Rassismus handelt es sich um eine spezifisch moderne Denkform, um eine Ideologie, »welche die Subjekte einerseits selbst produzieren, um sich die kapitalistische Gesellschaft zu deuten, ihr Leiden in ihr zu artikulieren sowie für ihre ohnmächtigen Wut- und Haßgefühle ein falsches, aber konkretes und wehrloses Ziel zu finden, und welche andererseits aber in ihren Strukturen, Funktionen und zentralen Inhalten durch diese spezifische gesell­schaft­liche Verfaßtheit präformiert und deformiert wird«, wie es Thomas Haury einmal zusammenfasste. Wie der nicht mit Rassismus identische, in diesem Artikel nicht thematisierte Antise­mitismus sind Kulturalismus bzw. Rassismus überall als ideologische Konsequenz einer entmenschlichenden gesellschaftlichen Organisation zu entlarven. Nach Albert Memmi ent­steht Rassismus durch die »verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen«. Hier müssen die gewaltsame und herrschaftsförmige Durchdringung der Welt, die Errichtung von Sklavenwirtschaften und Kolonien und das Auseinanderfallen der Kontinente in Zentrum und Peripherie des globalen kapitalistischen Systems mitgedacht werden. Mit der »Andersartigkeit« der Anderen konstatiert man zugleich die eigene Überlegenheit. Kernelement des Rassismus ist dabei die Zwangs­kollektivierung der Einzelnen, die Leugnung oder Ablehnung der Universalität des Mensch-Seins. Einzelne werden nicht als Persönlichkeit mit spezifischen Anlagen und Begabungen  aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation und Lebenssituation angesehen, sondern als Mitglieder eines bestim­m­ten »ethnischen«, heute oft auch »kulturellen« Kollektivs.

Dabei steht Identität im Zentrum des Denkens der Menschen, die sich in modernen Gesellschaften zurecht­finden müssen. Es dreht sich in Zeiten von endgültig globalisiertem Kapita­lismus und immer stärkeren Mobi­li­tät(sanforderungen) um das Gemeinsame mit Anderen im Unterschied zu den ganz Anderen, den »Fremden«, auf der Basis von vorgefundener und zugleich reproduzierter »Tradition« bzw. ethnischer, religiöser oder natio­naler Zugehörigkeit. Aufgrund der Tabuisierung des Rassismus auf biologischer »Rassegrundlage« nach der Niederlage Nazideutschlands standen bald die Ethnie und ihre Kultur oder kulturelle Identität im Mittelpunkt. Das Spezifische ist hierbei, dass Kultur nicht zuerst mit Sprache, Vergesellschaftung, Erziehung, Bildung bzw. mit menschlicher geistiger Tätigkeit identifiziert, sondern zu einer ethni­schen Kategorie hypostasiert wird, als den Einzelnen qua Abstammung aus einem Kollektiv zukommendes Erbe.

Zentral ist in diesem Zusammenhang der Begriff »Differenz«, der in der Formel vom »Recht auf Differenz« wie auch grundsätzlich »Un-Gleichheit« (im doppelten Wortsinn) ersetzt hat. Mit ihm verknüpft sind auch poststrukturalistische Theoreme mit ihrer Ablehnung von Wahrheits­an­spruch und universeller Geltung der »kategorischen Imperative«. Sie sind nicht nur widersprüchlich, da sie selbst auf einem nur nicht reflektierten Wahrheitsanspruch beruhen. Sie verunmöglichen auch die wertende Unterscheidung von progressiver und regressiver Politik, von Unterdrückung und Befreiung, von menschlichem und unmenschlichem Han­­deln. Wo die »différance« stark gemacht wird, werden die dominanten Identitätspolitiken reproduziert. Die aktuellen »critical whiteness«-Debatten sind geprägt von der Entpolitisierung des Einzelnen und der Reproduktion der Kategorien von »Ethnie« bzw. »sichtbarem« Anderssein, die es eigentlich zu bekämpfen und dekonstruieren gilt; sie sind verbunden mit der identitären Vergemeinschaftung der Eingeweihten mittels Codes und Sprachnormierung. Der Fokus auf Sprache ignoriert und verschleiert zudem meist die Funktion des Rassismus als Legitimation von eben vorgängigen Herrschafts-, Ausbeutungs- und Ausgrenzungsverhältnissen. Andere kontern nicht minder identitär und ideologisch – die Zeit­schrift »Bahamas« verhöhnt auf ihrem jüngsten Titelblatt gar die Opfer des Kolonialismus in Afrika, die »Verdammten« Frantz Fanons, als »Neger­küsse« und verteidigt die Bezeichung von »Schwarzen« als »Neger«, als würde das Wort nicht unmittelbar rassisti­sche Zuschreibungen und Ausgrenzungen  reproduzieren; sie bietet abstoßende Beispiele von theoretischem Versagen, Jargon und Populismus, von intellektuellem und politischen Verfall.

Auch in der Islamdebatte sucht man materialistische Analyse und emanzipatorische Kritik nahezu vergeb­lich. Schon der Begriff des antimuslimischen Rassismus wird meist nicht sinnvoll dort gebraucht, wo die Diskriminierung oder der Ausschluss von Menschen gemeint ist, die mittels »Rassifizierung« (Terkessidis) als Muslime markiert wurden oder werden – unter Rückgriff auf diesen kollektiv zugeschriebenen Attributen wie Traditionalität, Gewaltaffinität etc. und unter Verwendung von Markern wie Hautfarbe, Dialekt oder Bartwuchs. Vielmehr wird der Begriff gebraucht, um die Kritik an Islamismus, Reli­gions­kritik oder die Thematisierung von Sexismus, Rassismus und Anti­semi­tis­mus im Nahen Osten oder innerhalb migrantischer communities zu diffa­mieren. Als würde sich Rassismus gegen Ideologien bzw. Religionen richten, und nicht gegen Menschen, ist gar von »Islamophobie« oder »anti-isla­mischem« Rassismus die Rede. Im bürgerlichen Feuilleton wird ebenso wie in linken Publikationen aller Couleur ein geschichtstranszendentes Wesen namens Islam vorausgesetzt, des historischen Charakters beraubt, ohne Bezug auf soziale, normative, ideologische oder sonstige Unterschiede und Konflikte. Auch Aziz al-Azmeh kritisiert diese Reduktion, diese »Überislamisierung«, die be­stimmte Gesellschaften in »Hypos­ta­sen eines seines historischen Charakters gänzlich entkleideten Islam« verwandle. Zudem identifizieren die Verteidiger »der Muslime« und ihre Gegner gesellschaftliche Verwerfungen und islamistische Ideologie mit religiöser Traditionalität. Doch wie Geert Hendrich bemerkt, ist isla­mis­tische Ideologie »Teil jenes Denkens, das ›Moderne‹ unter Ausschluss von Aufklärung propagiert« – also Gegen­aufklärung. Gilt der Nahe Osten den meisten – ob positiv oder negativ besetzt – als das orientalische Andere, ist er eigentlich schlicht peripherer Teil des globalen kapitalistischen Zusammenhangs.

In der rassistischen Debatte ver­knüpft man die Einzelnen mit dem Kollektiv und dem spezifisch »Anderen« »ihrer Kultur«. Das gilt nicht nur für die Gesellschaften der als solche eigentlich gar nicht existierenden »islamischen Welt«. Auch das Selbstverständnis und die Lebensreali­tät von  »MigrantInnen« spielt keine Rolle. Noch in der zweiten, dritten »Generation« werden sie die Mar­kie­rung nicht los, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer sozialen Posi­tion oder ihrer politischen Einstellungen. Im gesellschaftlichen Diskurs über die »Anderen« hat dabei in den letzten Jahrzehnten eine Verschie­bung stattgefunden – aus dem »Gast­arbeiter« wurde der »Ausländer« wur­de der »Migrant« bzw. immer häufiger der »Muslim«. 

Die Ethnisierung und Kulturali­sierung sozialer Konflikte, die auch die Folge ungleicher Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum, von Bildungsressourcen und Möglichkeiten zur Lohnarbeit sind, setzt das Wesen des Kollektivs an Stelle der Sozialisation des Einzelnen. Sarrazins über alle Maßen erfolgreiche Synthese von neo­liberaler Wirtschaftstheorie, Rassismus und Sozialdarwinismus ist das Sinnbild dieses Zusammenhangs und der nur oberflächlich verdeckten Ge­waltsamkeit der deutschen Gesell­schaft in Zeiten der kapitalistischen Krise. Dass in der Linken die zugrundeliegenden Denkformen und kulturrassistischen Kategorien teilweise reproduziert oder gar affirmiert werden, ist Folge einer Theorielosigkeit, der nur mit Theoriearbeit, Reflexion und Selbstkritik beizukommen ist.

Der Autor behandelt einige Aspekte dieses Themas ausführlich in »Repressive Toleranz«. Zur Aktualität Marcuses für die aktuellen Rassismusdebatten (ZAG 63, 2013) und in Politisch, nicht kulturell! Zur Kritik von »islamischem Feminismus« und Kulturalismus (iz3w 337, 2013).

  • 1Vgl. etwa die zwanghaften Positionierungen zu dichotom wahrge­nommenen Konflikten im Irak, Iran, Syrien etc., die »Kopftuchmädchen«-Kampagne, in der die rassistische Markierung fortgeschrieben wird, oder die Fremdbilder und Rassismen in der Zeitschrift Bahamas.