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"Graue Wölfe" und türkischer Nationalismus im Aufwind

Kemal Bozay
Einleitung

Der Einfluss extrem rechter und nationalistischer türkischer Bewegungen in Deutschland nimmt weiter zu. Seit dem so genannten gescheiterten Putsch in der Türkei, der repressiven Kurden-Politik der türkischen Regierung und der Armenien-Resolution des Bundestages eskalieren die Spannungen auch innerhalb der türkeistämmigen Community hierzulande.

Foto: Roland Geisheimer / attenzione photo

Seit den türkischen Parlamentswahlen im Juni und November 2015 sind die "Grauen Wölfe" (Bozkurtçular) erneut im türkischen Parlament vertreten und gewinnen auch hierzulande wieder mehr Einfluss. Spätestens seit der repressiven Kurdistan-Politik in Rojava/Syrien, der militärischen Intervention in den kurdischen Gebieten der Türkei und dem Scheitern des jüngst angeblich von der Gülen-Bewegung inszenierten Putschversuchs in der Türkei, treten auch in bundesdeutschen Städten extrem rechte und nationalistische türkische Vereinigungen vermehrt öffentlich auf.

Die Welle der Gewalt und Mobilmachung hat mit Aktionen vor kurdischen und türkischen Einrichtungen eine neue Dimension erreicht. Hinzu kommen Bedrohungen bundesdeutscher (insbesondere türkisch- und kurdischstämmiger) PolitikerInnen, die im Juni 2016 der Armenienresolution der Bundesregierung zugestimmt haben. Doch der Erfolg der "Grauen Wölfe", die in der Türkei in der "Nationalistischen Bewegungspartei" (MHP/ "Milliyetçi Hareket Partisi") und der "Großen Einheitspartei" (BBP/ "Büyük Birlik Partisi") organisiert sind, beschränkt sich nicht allein auf die Wahlerfolge der MHP, sondern ist auch Produkt einer neuen nationalistischen Stimmung im Land, die sich durch das gesamte islamische und kemalistische Lager zieht. Profitiert haben die "Grauen Wölfe" insbesondere vom durch die islamische und neo-osmanische AKP-Regierung1 geschürten Nationalismus, der sie zur viertstärksten Kraft im Parlament avancieren ließ.

Nationalistische Ekstase

Der jüngst gescheiterte Putschversuch hat in vielen Teilen der Türkei eine nahezu nationalistische Ekstase ausgelöst. Nicht zuletzt hat Regierungsoberhaupt Recep Tayyip Erdoğan mit seiner AKP-Regierung einen aggressiv-nationalistischen Kurs eingenommen, der sich in einer repressiven Kurdistan-Politik und der außenpolitischen Haltung zeigt. Mehrere Dokumente belegen, dass die Türkei im Zuge des Syrien-Konflikts eine Plattform für islamistische Gruppen bot und Waffen an den IS lieferte, damit der kurdische Einfluss im Nachbarland Syrien gebrochen wird. Der IS rekrutierte viele Kämpfer aus der Türkei und sorgte durch Bombenanschläge — insbesondere gegen friedliche Demonstrationen von sozialistischen, linken und kurdischen Organisationen sowie jüngst gegen die Verlobungsfeier einer kurdischen Familie in Gaziantep — für Furore. Der nationalistische Kurs in der Kurdistan-Politik richtet sich gegen die Kämpfenden der PKK in den kurdischen Gebieten der Türkei sowie den verbreiteten Einfluss der kurdischen YPG-Kämpfer in Syrien und nicht zuletzt gegen die pro-kurdische HDP (Demokratiepartei der Völker), die bei den letzten Wahlen die 10 Prozent-Hürde überwunden hat und als drittstärkste Kraft im türkischen Parlament sitzt.

Bei Gülen handelt es sich um einen ehemaligen Weggefährten von Erdoğan, der durch sein islamisches Netzwerk (insbesondere im Bildungsbereich und staatlichen Institutionen) ein weltweites Imperium aufgebaut hat. Nicht zuletzt war es die AKP-Regierung selbst, die jahrelang der islamisch und nationalistisch ausgerichteten Gülen-Bewegung Unterstützung bot, damit sie ihre Macht weiter ausbauen konnte. Seit der Offenlegung illegaler Geldgeschäfte wichtiger AKP-Politiker im Dezember 2014 wurde Gülen zum Erzfeind ernannt, weil dieser angeblich die geheimen Dokumente verbreitet habe. Der gescheiterte Putsch löste dann eine gnadenlose Verfolgungsjagd auf seine Anhänger — darunter Soldaten, Staatsanwälte, Unternehmer und Journalisten — aus. Hinzu kommt die Verfolgung von Oppositionellen und kritischen Medien, die nicht der Gülen-Bewegung zuzuordnen sind. Gülen selbst ist schon vor Jahren in die USA übergesiedelt — weil er 1998 im Zuge des Präsidialputsches gegen die Islamisten in der Türkei unter Anklage stand. Auch wenn Gülen eine Beteiligung am versuchten Militärputsch zurückweist, werden seine Anhänger in der Türkei weiterhin als terroristische Bande dargestellt, die danach strebe eine parallele Staatsstruktur aufzubauen.

Einfluss extrem rechter Organisationen nimmt zu

Der Einfluss extrem rechter türkischer Organisationen und ihrer Netzwerke ist seit Mitte der 1990er Jahre auch in Deutschland wieder enorm gestiegen. Mehr als 250 Vereine und Gemeinden sind bundesweit entstanden, die als Selbsthilfeorganisationen, Moscheegemeinden und Kulturvereine Einfluss auf das soziale Leben von Türkischstämmigen nehmen. Herausgebildet haben sich hier drei rechtsnationalistische Dachverbände: "Türk Federasyon"2 ("Föderation der Idealistenvereine in Europa, ADÜDTF"), ATIB3 („Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V.“) und ANF4 ("Föderation der Weltordnung in Europa").

Alle diese Verbände bekennen sich heute zur Tradition des "Grauen Wolfes"5 . Der Graue Wolf stützt sich auf einen Mythos der noma­dischen Göktürken, in dem der Wolf als legendäres Tier angesehen wird, das die türkischen Stämme vor der Unterjochung durch den Feind gerettet und sie von China nach Kleinasien geführt habe. Für die gegenwärtige türkische Rechte symbolisiert er die Militanz der politischen Bewegung6 .

Türkisch-Islamische Synthese

Der Einfluss dieser extrem rechten Bewegungen in Deutschland kann nicht allein mit hiesigen Rahmenbedingungen erklärt werden. Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass die sozialen und politischen Entwicklungen in der Türkei die politische Orientierung der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland stark beeinflussen. Die extrem rechte Bewegung in der Türkei stützt sich ideologisch auf ein Konglomerat von verschiedenen nationalistischen und islamistischen Diskursen: dem sogenannten idealistischen Nationalismus (Ülkücülük). Dieser beinhaltet einen ausgeprägten Rassismus gegenüber allen nicht-türkischen Bevölkerungsteilen sowie eine antidemokratische Grundhaltung, die Propaganda u.a. gegen Linke, Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschaften betreibt. Im Mittelpunkt steht der Islam in seiner konstituierenden Rolle des sogenannten Türkentums, d.h. die Türkisch-Islamische Synthese (Türk İslam Sentezi) deren Kernelement die Untrennbarkeit von türkisch-nationalen und islamischen Bestandteilen als Gegenpol zum Einfluss linker Ideen ist sowie die Neun-Strahlen-Doktrin (Dokuz Işık) des MHP-Führers Türkeş.

Diese proklamiert den Weg zur nationalistischen Türkei, die Autorität des Führers und nicht zuletzt die in Deutschland propagierte Kernideologie des Europäischen Türkentums (Avrupa Türkçülüğü), der als Sammelbegriff für die türkisch-nationalistische Identität in Europa benutzt wird. Damit werden Migranten angesprochen, die ihren Lebensmittelpunkt in Europa haben, aber dennoch ihre türkisch-nationalistische Identität weiter verbreiten und für nationalistische Interessen mobil gemacht werden sollen.7

Das verstärkte Auftreten nationalistischer, extrem rechter und kemalistischer Bewegungen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland korreliert dabei zweifelsohne mit der Entwicklung des Konflikts um die sogenannte Kurden-Frage. Diese hat in der Türkei eine nationalistische Ekstase hervorgerufen, die nicht nur eine Folge der Kriegshysterie gegenüber sogenannten separatistischen Tendenzen ist. Vielmehr handelt es sich um die Neubelebung einer chronischen Existenzangst des türkischen Nationalismus.

Durch die gesamte Geschichte der türkischen Republik hindurch wurde immer wieder die Angst vor dem Separatismus reproduziert, die heute das Rückgrat des türkischen Staatsnationalismus bildet. Dass Kurden in den Nachbarländern Irak und Syrien nach Autonomie streben und im türkischen Parlament die pro-kurdische "Halkların Demokratik Partisi" (HDP) Fraktionsstärke hat, wird als Bedrohung wahrgenommen. Gerade durch den Import der politischen Auseinandersetzungen um die kurdische Frage in der Türkei und Syrien sowie um den gescheiterten Putschversuch der Gülen-Bewegung erhalten extrem rechte türkische Organisationen sowie kemalistische Einrichtungen neuen Aufwind, um das „europäische Türkentum“ zu mobilisieren. Nach türkischem Vorbild ziehen Demonstranten durch bundesdeutsche Städte, verdammen die "Partiya Karkerên Kurdistanê" (PKK) und auch die Kurden. In manchen Großstädten wird sogar zur Hetzjagd auf Kurden und ihre Einrichtungen aufgerufen.

Grundbausteine für diese Mobilisierung bilden dabei die politische Propaganda türkischer Politik, die Berichterstattung türkischer Medien sowie die extrem nationalistischen und teilweise islamischen Dachverbände in Deutschland. 

Literaturhinweise:

• Arslan, Emre (2009): Der Mythos der Nation im transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag
•  Aslan, Fikret/ Bozay, Kemal (2010): Graue Wölfe heulen wieder. Türkische Faschisten und ihre Vernetzung in der BRD, 3. Aktualisierte Auflage. Münster: Unrast Verlag.
•  Bozay, Kemal (2009): „ich bin stolz, Türke zu sein!“ Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung, 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
•  Bozay, Kemal (2016): Unter Wölfen?! Rechtsextreme und nationalistische Einstellungen unter Türkeistämmigen. In: Bozay, K./ Borstel, D.: Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS Verlag, S. 165—185.
•  Dantschke, Claudia/ ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur (2013): „Der ideale Türke“. Der Ultranationalismus der Grauen Wölfe in Deutschland. Eine Handreichung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit, Familien und Politik. Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus der ZDK gGmbH. Berlin: ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur.

  • 1AKP steht für "Adalet ve Kalkınma Partisi"/"Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung"
  • 2"Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu"
  • 3"Avrupa Türk-İslam Birliği"
  • 4"Avrupa Nizam-ı Alem Federasyonu"
  • 5Vgl. Bozay, Kemal (2009): „ich bin stolz, Türke zu sein!“ Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung, 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
  • 6Vgl. Bozay, Kemal (2016): Unter Wölfen?! Rechtsextreme und nationalistische Einstellungen unter Türkeistämmigen. In: Bozay, K./ Borstel, D.: Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS Verlag, S. 165—185.
  • 7Vgl. Arslan, Emre (2009): Der Mythos der Nation im transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag und Bozay, Kemal (2009): „ich bin stolz, Türke zu sein!“ Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der Globalisierung, 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.