Der russische Geheimdienst foltert Antifaschist_innen und Anarchist_innen
Mika (Gastbeitrag)Vor einem Jahr begann der FSB (Förderale Geheimdienst der Russischen Föderation), einen Terror-Fall gegen elf Antifaschist_innen und Anarchist_innen in Russland zu konstruieren. Den Betroffenen wird vorgeworfen, eine terroristische Gruppe namens «Netz» gebildet und Anschläge zu den Präsidentschaftswahlen und der Fußballweltmeisterschaft 2018 geplant zu haben. Zehn Personen befinden sich derzeit in U-Haft, eine weitere steht unter Hausarrest.
Hatte die antifaschistische und anarchistische Bewegung in den 2000er Jahren am ehesten mit Angriffen von rechts zu kämpfen, so wird seit mehreren Jahren vermehrt versucht, sie durch staatliche Repression an ihrer Entwicklung zu behindern. Die entsprechenden Organe statuieren an bekannten Gesichtern politischer und subkultureller Zusammenhänge ein Exempel, um sie einerseits zu stoppen und andererseits den Rest der Szene einzuschüchtern. Beide Tatsachen führten in den letzten 20 Jahren dazu, dass die antifaschistische und anarchistische Bewegung verhältnismäßig jung, zahlenmäßig gering sowie in eher kurzlebigen und überwiegend losen Strukturen aktiv ist, in denen sich subkulturelle, politische und freundschaftliche Kreise häufig überschneiden.
Bei dem Versuch der autoritären Regierung der Russischen Föderation die antifaschistische und anarchistische Bewegungen klein zu halten, griff sie bis dato eher zum „Anti-Extremismusgesetz“, das zu Verfahren, Bußgeldern oder einigen Jahren Arbeitskolonne bzw. Gefängnis führen kann. Als Hassverbrechen gegen eine bestimmte Personengruppe wurden dabei bereits das Teilen von oder gar Sympathiebekundungen unter einem Anti-Nazi- oder „ACAB“-Eintrag in sozialen Netzwerken eingestuft. Vereinzelt wurde bisher neben Hausdurchsuchungen, bei denen oft Beweismaterial untergeschoben wurden, auch Gewalt zur Einschüchterung eingesetzt, wobei das Vorgehen immer wieder ähnlich war: Aktivist_innen wurden auf der Straße von vermummten Personen in einen dunklen Van gezogen, in den Wald gefahren, zusammengeschlagen und wieder ausgesetzt.
Terrorgruppe „Netz“?
Der russische Geheimdienst FSB stützt seine aktuellen Ermittlungen auf wage Vermutungen, unbegründete Behauptungen, gefälschte „Beweise“ sowie unter Folter erpresste Geständnisse und Aussagen. Im Oktober 2017 begann die erste Verhaftungswelle. Der FSB nahm fünf Personen unter dem Verdacht der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ namens „Netz“ (Artikel 205.4 Punkt 2 Strafgesetzbuch der Russischen Förderation) in der etwa 550 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen Stadt Pensa gefangen - Jogor Sorin, Andrey Tschernov, Wassili Kuksov, Ilja Schakurskij, Dmitrij Ptschelinzev - und eine weitere Person in St. Petersburg - Arman Sagynbajev – der gelegentlich in Pensa zu Besuch war. Kuksov und Ptschelinzev wurden bei der Hausdurchsuchung zusätzlich noch Waffen untergeschoben. Zum einen diente den Behörden wohl ihr gemeinsames Hobby Strikeball – ähnlich dem Paintballspiel ein taktischer Geländesport, der legal und sehr populär in Russland ist – und ihre Sympathie mit linker Politik, Anarchismus und Antifaschismus als Anlass ihrer Verhaftung. Zum anderen aber auch ihr Bekanntheitsgrad in der lokalen linken Szene.
Dies wird am Beispiel Ilja Schakurskijs deutlich: Er ist bekennender Antifaschist und organisierte u.a. Vorträge, Kundgebungen, „Food not Bombs“-Aktionen, Umweltschutzinitiativen und Tierrechtskampagnen. Bereits zu Schulzeiten stieß sein selbstorganisiertes Engagement und sein Talent, Mitschüler_innen zu Aufräumaktionen am naheliegenden Fluss zu mobilisieren den Vertreter_innen der Stadtverwaltung scheinbar negativ auf. Diese erteilten daraufhin in Begleitung mit der Polizei Shakurskijs Mitschüler_innen in der Schule eine extra Lehrstunde, behaupteten Ilja wäre ein Neonazi und verlangten von den Schüler_innen den Kontakt zu Ilya abzubrechen - eine Geschichte über die Shakurskij und seine antifaschistischen Freund_innen sich noch sehr lange amüsierten.
Im Januar 2018 folgten dann Verhaftungen von drei weiteren Personen in St. Petersburg: Julij Bojarschinov, Viktor Filinkov und Igor Schischkin wurden beschuldigt Mitglieder einer Zelle der terroristischen Gruppe „Netz“ zu sein. Hierbei wurde bekannt, dass der Antifaschist Viktor Filinkov am Flughafen von St. Petersburg vom FSB verhaftet, entführt und stundenlang gefoltert worden ist. Nach zwei Tagen tauchte er mit einem Geständnis, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, wieder auf. Erst ab diesem Zeitpunkt berichteten unabhängige Nachrichtenseiten über den konstruierten Fall sowie über beginnende Solidaritätsaktionen. Über die anderen Gefangenen und ihre Situation hingegen ist nur wenig bekannt.
So auch im Fall von Michail Kulkov und Maksim Ivankin, die erst kürzlich im Juli 2018 als vermeintliche Mitglieder der angeblichen Terrorgruppe „Netz“ verhaftet wurden. Viele Gründe zwingen die Angeklagten und ihre Familienangehörigen zum Schweigen: Angst vor (weiterer) Folter oder „Outing“ als Antifaschist_innen vor anderen Zelleninsassen im Strafvollzug, Hoffnung auf niedrigere Strafmaße und Schutz der Freund_innen und Familienangehörigen vor Repression oder Angriffen durch Neonazis.
Repression
Beim aktuellen Fall nehmen die Anschuldigung des Terrors, das damit verbundene Strafmaß in Höhe von bis zu zehn Jahren und der systematische Einsatz von Folter eine zusätzliche und neue Dimension an. Filinkov, Schakurskij und Ptschelinzev schildern in Briefen bzw. über ihre Anwält_innen und Familienangehörige Misshandlungen und Folter mit Stromschlägen, um Falschaussagen und Unterschriften unter Geständnisse zu erzwingen. Ptschelinzev berichtete, dass ihm täglich über Wochen Elektroden am Körper befestigt und die Stromzufuhr aufgedreht wurde. Vor Schmerz biss er die Zähne so stark zusammen, dass sie anfingen zu bröckeln und er den Mund voller Zahnstückchen hatte. Um dieser Qual zu entkommen, hatte Ptschelinzev bereits einen Selbstmordversuch unternommen, aber überlebt. An seinem Beispiel wird aber auch deutlich, wie der Geheimdienst Familienangehörige unter Druck setzt: In einem Verhör mit seiner Frau wurden ihr gegenüber sexuelle Androhungen geäußert und ihm wurde im Fall von mangelnder Kooperation mit der Vergewaltigung seiner Frau gedroht.
Die Strategie des FSB funktioniert: Tschernov unterschrieb sein Geständnis, nachdem er eine Unterhaltung mit dem gefolterten Ptschelinzev geführt hatte. Mit diesen Einschüchterungen und Androhungen von Gewalt und Folter erklären sich Angehörige und Unterstützer_innen das erzwungene Schweigen der anderen Inhaftierten. So gibt es Aussagen von Anwält_innen und Angehörigen über Hämatome, Hautreizungen durch Elektroschocker und blutverschmierte Kleidung im Fall von Kuksov und Schischkin, die bisher aber selbst keine offiziellen Bekundungen über Gewalt und Folter gemacht haben.
Internationale Solidarität
Mittlerweile wurden ein Elternrat der Inhaftierten und die mehrsprachige Informationswebsite „rupression.com“ gegründet. Nur durch weltweite Aufmerksamkeit sehen Unterstützer_innen die Chance, dass die russische Regierung in Handlungszwang gerät. Aktionen im eigenen Land halten die meisten hingegen für zu gefährlich. Zum einen fanden bei Aktivist_innen von Solidaritätsaktionen wiederum Hausdurchsuchungen und Verhaftungen statt, zum anderen berichteten Angehörige, dass mit jeder Solidaritätsaktion innerhalb Russlands der Druck auf die Inhaftierten erhöht wird. Umso notwendiger scheint die Möglichkeit, international auf die Repression gegen emanzipatorische Linke in Russland hinzuweisen. So kam es seit Ende Januar 2018 in über 30 Städten und über zehn Ländern auf vier Kontinenten zu Solidaritätsbekundungen und -aktionen verschiedenster Art - von Graffitis, Bannern und Straßentheater über „Mobfotos“, Infovorträge, Kundgebungen und Spontandemonstrationen bis hin zu symbolischen und militanten Aktionen. Seit Frühling 2018 finden auch immer mehr Informationsveranstaltungen in Europa statt, unter anderem auch auf internationalen Musik-Festivals wie dem „Fluff Fest“ in Tschechien oder dem „Resist to Exist“ in Deutschland.