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Russland: The Future is Unwritten. Wahlen in Kriegszeiten

Ein Artikel von Tum Balalaika, antifaschistische Zeitschrift St. Petersburg
Bild: flickr.com/worldeconomicforum/CC BY-NC-SA 2.0

Der frühere FSB-Chef Vladimir Putin wurde zum Premierminister ernannt.

In den letzten fünf Jahren war die russische Politik ein ernstzunehmendes Schlachtfeld zwischen Präsident Jelzins Reformpolitik und Versuchen konservativer Kräfte – unter denen die Rrussische Kommunistische Partei (KPRF) die bedeutendste ist –, diese Reformen zu stoppen. AntifaschistInnen in Russland haben die Regierungsinitiativen zur Fortentwicklung der Demokratisierung entweder unterstützt oder toleriert, Kommunisten und Faschisten blockierten sie. Nach dem Machtverlust Jelzins und der demokratischen Reformer aufgrund des erstenTschetschenien-Krieges 1997 und der Wirtschaftskrise von 1998 stagnierte der offizielle Demokratisierungsprozess. Einerseits wuchsen dadurch verschiedene antifaschistische Basisinitiativen und demokratische Bewegungen, andererseits war damit der Weg frei für reaktionäre Kräfte wie den FSB 1 und Repräsentanten des militärisch-industriellen Komplexes.

Die Ergebnisse der jüngsten Wahlen in Rußland zeigten deutliche Veränderungen in der Politik seit der Ernennung des FSB-Chefs Wladimir Putin zum Premierminister. Die Bombenexplosion in Moskau und anderen Städten und die drastische Entwicklung hin zu einer russischen Militäroffensive gegen Tschetschenien müssen verstanden werden als wichtige Elemente im Kampf um die politische Macht zwischen verschiedenen Politikern und ihren Unterstützern. Politiker, die zur herrschenden Elite Rußlands gehören, gründeten verschiedene neue Parteien. Zuerst wurde die Partei Vaterland Allrussland (OVR) gebildet, an deren Spitze der Moskauer Bürgermeister Luzhkow und der Gouverneur von St. Petersburg Jakowlew stehen. Die OVR stellte sich als Alternative zur Jelzin-Regierung dar und versprach, Chaos und Korruption durch eine starke Law-and-Order-Politik zu bekämpfen. Nimmt man die Moskauer Stadtverwaltung unter Luzhkow als Beispiel, so bedeutet dies unter anderem eine Politik der sogenannten Kavkazophobie, der polizeilichen Verfolgung von Menschen aus dem Kaukasus, besonders aus Azerbeidschan. Kurz nachdem der frühere Premierminister Primakow der OVR beitrat, präsentierte das Jelzin-Establishment eine neue Partei unter dem Namen Einheit. Massiv beantwortete die Einheit den Populismus der OVR mit einer Propaganda-Kampagne für die Regierungspolitik im Kampf gegen Krise, Chaos und Korruption.

Die Propaganda stützte sich auf Putin als starken Mann. Die Kommunistische Partei gestaltete ihre Kampagne im altmodischen Stil und konnte dafür mehr finanzielle Mittel einwerben als alle anderen Parteien. Im allgemeinen präsentierte sich die Partei als moderat und als Vertreterin des am meisten »russischen« Weges. Außer dem Versprechen zur Erhöhung der Löhne und Renten kündigte sie die Bestrafung Jelzins an, eine Außenpolitik, die die Brüderschaft zwischen den slawischen Völkern stärkt, und die Fortsetzung sowjetischer Politik. In St. Petersburg war die Propaganda der örtlichen KPRF-Kandidaten ausgesprochen nationalistisch und hatte eine starke antisemitische und antidemokratische Tendenz. Eine bemerkenswerte Veränderung gegenüber der Wahlkampagne vor fünf Jahren war das Fehlen sozialistischer Parolen und Anschauungen, ausgenommen die Forderung zur Renationalisierung der privaten Industriebetriebe. Die aggressivste Opposition zur Wirtschaftspolitik der Regierung in dieser Hinsicht kam von seiten des faschistischen Schirinowski-Blockes. Schirinowski präsentierte ein Programm eines Dritten Weges, dem China als Modell für ideale und gut organisierte private und staatliche Unternehmen dient. Für AntifaschistInnen war die Bildung eines Stalinistischen Blockes sehr schockierend, der insgesamt auf wenig Widerstand oder Ablehnung stieß. Neben den Stalinisten traten einige größere und radikalere kommunistische Gruppen, die ursprünglich unter der Führung der KPRF gestanden hatten, unabhängig zu den Wahlen an. Sowohl die Bewegung zur Unterstützung der Armee (DPA), die von den notorischen Antisemiten Makaschow und Iljuschin gerührt wird, als auch die Bewegung des geistigen Erbes (DN) treten als eigene Parteien an. Der Führer der DN, Podberezkin, ist einer der wichtigsten Vordenker der national-patriotischen Ideologie, der die KPRF und ihre Verbündeten folgen.

Die beiden demokratischen Parteien Jabloko und Vereinigung rechtsgerichtete Kräfte (SPS) konkurrierten offen miteinander. SPS ist eine neue Allianz kleinerer, bereits bestehender demokratischer Parteien und Bewegungen, die übereinstimmen in der Befürwortung von Neoliberalismus, Menschenrechtspolitik und Demokratisierung als Grundprinzipien. Jabloko ist ebenfalls liberalistisch, aber in einem wenigerprowestlichen Sinn. Sie korrumpierten sich selbst in der Vergangenheit durch ihre Zusammenarbeit mit faschistischen und kommunistischen Jelzin-Gegnern. Die Frage, ob die Neonazis von Barkashows Heilsbewegung (SPAS) an den Wahlen teilnehmen dürfen, war für AntifaschistInnen ein wichtiges Thema. Die Staatliche Wahlkommission entschied, dass SPAS falsche Informationen über ihre Organisation geliefert hatte und schloss die Partei von den Wahlen aus, nachdem eine Zeitung berichtet hatte, dass drei regionale Gliederungen nicht existieren. Eine politische Entscheidung stand nicht zur Debatte, und so kann Barkaschow zu den Präsidentenwahlen kandidieren. Die Medien spielten während des Wahlkampfes eine unkritische und propagandistische Rolle. Kaum ein Journalist versuchte eine kritische politische Diskussion zu führen und Faschisten wie Schirinowski konnten ihre Propaganda ausspeien. Parallel zu der Berichterstattung über den andauernden Krieg bedeutet dies einen Bruch mit der eher unabhängigen und kritischen Position der russischen Medien vor dem Krieg. Diskussionen über die Stimmabgabe beschäftigten AntifaschistInnen andauernd. Die meisten anarchistisch orientierten AntifaschistInnen traten dafür ein, gegen alle Parteien zu stimmen, eine mögliche Wahlentscheidung, bei der auf dem Wahlzettel alle genannten Kandidaten abgelehnt werden können. AntifaschistInnen mit demokratischem oder menschenrechtsbewegtem Hintergrund schlugen die Wahl demokratischer Parteien und Kandidaten vor. Wenige Einzelpersonen befürworteten, gar nicht zur Wahl zu gehen, um damit ihre generelle Ablehnung dieser parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck zu bringen.

Die Antifaschistische Jugend-Aktion stand geschlossen hinter SPS und viele ihrer AktivistInnen nahmen an deren Wahlkampagne teil. Etliche kritische Intellektuelle bevorzugten Jabloko wegen ihrer einstimmigen Anti-Kriegs-Position.Generell waren AntifaschistInnen sehr besorgt, dass die Wahl einen politischen Durchbruch der KPRF und ihrer stalinistischen und faschistischen Verbündeten bringen könne. Die Wahlergebnissesahen folgendermaßen aus: KPRF: 24% und 27% Direktmandate; Einheit: 23% und 4% Direktmandate; OVR 13% und 11% Direktmandate; SPS 9% und 2% Direktmandate; Jabloko 6% und 2% Direktmandate; Schirinowski 6% und 0,5% Direktmandate; keine der angegebenen Parteien 3% und bei 2% der Direktmandate; andere Parteien 16% und 51,5% der Direktmandate. Das Parlament wird zur Hälfte aus den Direktmandaten gebildet. Die Wahlen waren weniger ideologisiert als erwartet. Der Erfolg von Einzelbewerbern beruhte auf deren hohen Wahlkampfmitteln, regionaler sozio-politischer Macht und ihrem Charisma, wie der Sieg einiger regionaler Ölmagnaten beweist. Die Wahlen zeigten den Erfolg von Putin und seiner aggressivenPolitik. Parteien, die sich offen auf seine Seite stellten, wie die SPS und die Einheit, waren die großen Wahlsieger. Signifikante Unterschiede bestehen in den Regionen. Der südliche und zentrale Teil Russlands sind nach wie vor die Hochburgen der KPRF und kleinerer stalinistischer und nationalistischer Parteien. Diese Parteien blieben unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde.

Nur in einigen Regionen wurden faschistische Kandidaten gewählt. In Wahlbezirken, in denen die Barkaschow-Gruppe RNE sehr stark ist, hatte die KPRF große Erfolge. Dies eröffnet eine mittelfristige Perspektive für die KPRF zur Zusammenarbeit mit der RNE in lokalem Rahmen, wie sie sich beispielsweise bereits in Krasnodar herausgebildet hat. Auf nationaler Ebene war es die OVR, die einen Schritt auf die KPRF zu machte, indem sie den früheren Kommunisten Primakov aufstellte.Jelzins Rücktritt und die Machtübergabe an Putin war seine letzte Überraschung im 20. Jahrhundert. Im Rückblick hat diese Periode viele positive Veränderungen für Russland gebracht, aber auch den Weg gebahnt für die Rekonstruktion autoritärer und aggressiver Politik, wie sie durch Putin verkörpert wird. Die Repression, die im vergangenen Jahr gegen Anarchisten und Umweltschützerbegann, wurde nun auch auf Wehrdienstverweigerer ausgedehnt. Außer einigen SPS-Enthusiasten sieht kein Antifaschist, keine Antifaschistin irgendwelche positiven Ergebnisse in diesen Wahlen, insbesondere da der Krieg in Tschetschenien andauert und jeden Tag schlimmer wird. Aber wie ein bekanntes russisches Sprichwort sagt: »Die Hoffnung stirbt zuletzt. Die Zukunft ist offen – offener, als sie es jemals war.«
 

  • 1Geheimdienst in Nachfolge des KGB, Anm. AIB