Feindbestimmung
antifa nt (Gastbeitrag)„Merkel, the mother of all things anti-white and anti-germanic, is top of the list. Few have done more to damage and racially cleanse Europe of its people“ – so schrieb es der australische Rechtsterrorist Brenton Tarrant, der am 15. März dieses Jahres im neuseeländischen Christchurch in zwei Moscheen 51 Menschen erschoss. Seinem Manifest gab er den Titel „The Great Replacement“. Knapp ein halbes Jahr zuvor ermordete der US-amerikanische Rechtsterrorist Gregory Bowers in Pittsburgh elf Menschen, die in einer Synagoge am Shabat-Gottesdient teilnahmen. Wie Tarrant war auch er überzeugt, ein Genozid gegen die „weiße Bevölkerung“ sei im Gange. Verantwortlich dafür, so schlussfolgerte er im antisemitischen Wahn, sei eine „jüdische Verschwörung“.
Schlussstriche und andere Kurzschlüsse
Nachdem bekannt wurde, dass es der Neonazi Stephan Ernst war, der den CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Kopfschuss hingerichtet haben soll, twitterte Peter Altmaier, Wirtschaftsminister und CDU-Parteifreund Lübckes: „Wenn die Berichte zum Fall #Lübcke zutreffen, dann war es ein kaltblütiger rechtsextremer Mord. Das haben wir seit den NSU-Morden nicht mehr für möglich gehalten.“ Während viele Parteifreund_innen des Ermordeten einfach schwiegen oder aktiv an der Rechtsverschiebung mithalfen, hatte Altmaier eine naheliegende Assoziation: die Morde des NSU. Doch „seit den NSU-Morden“ – und hier setzt Altmaiers Erkenntnis wieder aus – habe man dies nicht mehr für möglich gehalten. Altmaier verfängt sich in der Logik des Schlussstrichs: nach dem NSU – Uwes tot, Zschäpe hinter Gittern – hätten wir das nicht mehr für möglich gehalten. Wir hingegen schon, möchte man ihm entgegnen, wir, die wir den Schlussstrich nicht gezogen haben. Denn wenn es einen Schluss gab, den man aus dem NSU-Komplex ziehen musste, dann wohl diesen: dass die Gefahr durch rechtsterroristische Netzwerke nach dem NSU nicht vorüber ist – im Gegenteil.
Um die Bedrohungslage jenseits des NSU zu erkennen, hätte es nicht einmal der Empathie mit den Opfern und Überlebenden bedurft. Allein ein Blick in die kalten Zahlen der (unvollständigen) Polizeistatistiken der letzten Jahre hätte genügt, den Anstieg rassistischer Gewalttaten zur Kenntnis zu nehmen, der unzähligen und ungezählten Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, den alltäglichen Terror. Seit Auffliegen des NSU hat die Bundesregierung, der Altmaier angehört, mehrere Todesopfer rechter Gewalt anerkannt. Weitere sind noch immer nicht anerkannt, so etwa die neun Menschen, die am 22. Juli 2016 bei einem rassistischen Terroranschlag im und um das Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München ermordet wurden. Lange Zeit weigerten sich die Behörden, die rechtsterroristische Dimension der Tat zu benennen. Bis vor Oktober 2019 hielt der Staat wider besseren Wissens an der These fest, der Mörder David Sonboly habe aufgrund einer Mobbingerfahrung gehandelt, die Auswahl der Opfer sei persönlichen Erfahrungen, nicht aber Rassismus geschuldet.1
In dieselbe Kerbe schlugen nach dem Oktoberfestattentat 1980 die entpolitisierenden Aussagen der Sicherheitsbehörden zu Gundolf Köhler. Köhler habe „aus einer schweren persönlichen Krise und/oder aus übersteigertem Geltungsbedürfnis gehandelt“, hieß es damals von der Bundesanwaltschaft, die 39 Jahre später nun auch für die Ermittlungen im Fall Walter Lübcke zuständig ist. Wie später auch beim NSU tat die Bundesanwaltschaft damals alles dafür, die rechtsterroristischen Strukturen, in die der Täter eingebunden war, zu verleugnen und ihre Offenlegung zu verhindern.
Dieselbe Behörde hat in den Ermittlungen zum Mord an Walter Lübcke keinen Vertrauensvorschuss verdient. Es ist kein abgestumpfter Zynismus zu sagen: Wir erwarten nichts von dieser Bundesanwaltschaft. Die Nicht-Ermittlungen gegen das riesige Netzwerk aus Geheimdiensten und Neonazis rund um den NSU sind nur das jüngste und schockierendste Beispiel in einer langen Reihe staatlicher Verharmlosung rechten Terrors. Bleiben wir realistisch: Auch im Fall Lübcke wird es auf investigative Recherche und antifaschistische Praxis jenseits und mitunter auch gegen die staatlichen Stellen ankommen.
Der rassistische Terror von Christchurch und der antisemitische Terror von Pittsburgh sind noch kein Jahr her. Im März 2018 ermordeten mutmaßlich rechte Polizisten in Rio de Janeiro die linke Politikerin Marielle Franco und ihren Mitarbeiter Anderson Gomes. Franco kämpfte für die Rechte von Frauen und LGBTIQ* und gegen die brutale alltägliche rassistische Polizeigewalt. 2016 ermordete ein Neonazi die britische Labour-Abgeordnete Jo Cox. Vor Gericht antwortete er auf die Frage nach seinem Namen „Tod den Verrätern“. Im November 2017 stach ein Rassist mit einem Messer auf den CDU-Politiker und Bürgermeister von Altena in NRW, Andreas Hollstein, ein. Unmittelbar nach der Tat griff der Täter Hollstein für seinen Umgang mit Geflüchteten an. Zwei Jahre zuvor hatte es bereits einen neonazistischen Messerangriff auf die Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Henriette Reker gegeben. Reker, zuvor in Köln für die Unterbringung von Geflüchteten zuständig, überlebte mit viel Glück. Die Aussagen des Täters im Nachgang der Tat lesen sich wie ein durchschnittlicher Kommentar auf PI-News oder jedem anderen rassistischen Drecksblog. Er habe „in 20 Jahren nicht in einer muslimisch geprägten Gesellschaft leben“ wollen.
Wie viele andere kam auch dieser Täter nicht aus dem Nichts. In den 1980er Jahren war er im Umfeld der neonazistischen FAP, der damals größten militanten Neonazi-Organisation, unterwegs. In der Logik der Sicherheitsbehörden, der Gerichte und von Teilen der Öffentlichkeit handelt es sich bei all den genannten Tätern um isolierte Einzeltäter. Die organisatorische, insbesondere aber die ideologische Einbindung gerät so schnell aus dem Blick oder wird bewusst übersehen. Dabei machen selbst legale neonazistische Organisationen und Parteien kaum ein Geheimnis um ihre terroraffine Strategie. Die Partei „Der III. Weg“ hängte im Europawahlkampf Plakate mit der Aufschrift „Reserviert für Volksverräter“ an Laternenmasten auf. Bewusst wurden diese Plakate an Orten mit hoher symbolischer Bedeutung aufgehangen, in München etwa am Platz der Opfer des Nationalsozialismus oder am Jakobsplatz, an dem die Synagoge Ohel Jakob und das jüdische Gemeindezentrum liegen. Einer, der die Plakate persönlich aufhängte, hatte dort einst gemeinsam mit anderen Neonazis der „Kameradschaft München“ einen Bombenanschlag auf die Grundsteinlegung von Synagoge und Gemeindezentrum geplant. Die Mord- und Totschlagsprache der Nazis ist mehr als Provokation oder bloße Gewaltphantasie. Dafür ist dies nur ein Beispiel unter vielen: Dass Neonazis das, was sie sagen auch so meinen. Dass sie sagen, dass sie morden, und dass sie morden, wenn sie niemand daran hindert.
„Taten statt Worte“ war das Motto des NSU. Die Strategie des NSU zielte auf Migrant_innen, die sich in Deutschland eine ökonomische Existenz aufgebaut, Familien gegründet und an dieser Gesellschaft teilhatten. Die Morde und Sprengstoffanschläge zielten auf die Normalität einer (post-) migrantischen Gesellschaft und damit auf Millionen von Menschen. In den letzten Jahren sind zunehmend geflüchtete Menschen in den Fokus des rechten Terrors geraten.
"Tod den Verrätern"
„Merkel (…) is top of the list“, schrieb Brenton Tarrant, bevor er in Christchurch 51 Menschen ermordete. Wieso schrieb er das? Wieso setzt ein australischer Terrorist, kurz bevor er in Neuseeland Muslim_innen ermordet, an erster Stelle die deutsche Kanzlerin auf seine Todesliste? In dieser Figur kommen zunächst zwei Elemente zusammen, die für die rechten Hetz- und Gewaltkampagnen, die dem rechten Terror unmittelbar vorausgehen, wesentlich sind: die personalisierte Feindbestimmung, die immer auf die physische und existenzielle Vernichtung aus ist, und die Todesliste. Der NSU, die Gruppe um Franco A., die Gruppe Nordkreuz – keine dieser Gruppen kam ohne eigene Todesliste von Feind_innen aus, deren Ermordung sie an einem „Tag X“ oder auch früher planten.
Seit 2015 hat die deutsche und auch internationale Rechte Merkel ins symbolische Zentrum ihres mörderischen Hasses gestellt, sie ist „top of the list“. Merkel, so geht die Erzählung, habe durch eine vermeintliche Grenzöffnung, die zudem illegal gewesen sei, die Migration nach Deutschland und Europa zu verantworten, die wiederum Teil eines teuflischen Plans zum Völkermord an den Völkern Europas sei. Wir kennen diese Erzählungen aus allen Spektren der faschistischen Bewegungen. Bei den klassischen Neonazis firmiert sie als „Volkstod“, bei den Identitären als „Großer Austausch“, manch parteipolitisch engagierter (Neo)faschist fabuliert vom „Bevölkerungsaustausch“, wie AfD-Chef Gauland oder der österreichische Ex-Vize-Kanzler Strache, andere, wie Akif Pirinçci, sprechen von „Umvolkung“. Pirinçci war es auch, der 2015 in seiner „KZ“-Rede auf einer Pegida-Demonstration die rechte Hetzkampagne gegen Walter Lübcke anfachte. Diese Logik des „Verrats“ trägt auch dazu bei, dass vor allem Merkel als konservative Kanzlerin so sehr im Zentrum der rechten Hetze steht und sich die mörderischen Angriffe in Deutschland bis jetzt vor allem gegen konservative Politiker_innen richteten: Hollstein, Reker und nun der Mord an Walter Lübcke.
Es sind diejenigen, von denen sich der autoritätsfixierte rechte Mob die harte Hand gegen Geflüchtete und Migrant_innen ersehnt, sodass enttäuschte Wünsche nach autoritärer Gewalt umso stärker in Hass auf die „Verräter“ umschlagen. Es lohnt sich, die rechten Hetzschriften gegen Merkel genauer zu betrachten: Was dort vollkommen an der Realität vorbei als „Grenzöffnung“ beschrieben wird, ist nichts als das Ausbleiben einer militärischen Intervention gegen die Bewegungen der Migration im Spätsommer 2015. Doch genau darum ging es den Höckes, Kubitscheks und allen anderen Fans des rechten Bürgerkriegs und darauf zielten die unzähligen politischen Aktionen, von den symbolischen Grenzschließungen bis hin zu den Brandanschlägen gegen die Unterkünfte von Geflüchteten. Von der Forderung der AfD, dass „Volk müsse wieder souverän werden“, über den Seehoferschen Gedanken gegen die „Herrschaft des Unrechts“ bis hin zum rechten Terror – sie alle vereint der Appell an den starken Staat. Und wo dieser ausbleibt, wo die Eliten durch eine vermeintlich liberale Flüchtlingspolitik „das Volk verraten“, da leitet sich in der Logik des rechten Bürgerkriegs das Recht zum „Widerstand“ ab. Oder um es mit den Worten des Thüringischen AfD-Chefs Björn Höcke von 2015 zu sagen, dessen Landesverband Stephan Ernst im Jahr darauf mit einer Spende bedacht haben soll: „Wenn wir diese Entwicklung“ – gemeint ist die Migration von Flüchtlingen nach Deutschland und Europa – „nicht stoppen, dann prognostiziere ich einen Bürgerkrieg“.
Es ist offenkundig, dass dieses Denken verschwörungsideologische Züge beinhaltet. Daher wird auch der Hinweis auf die permanente militärische Aufrüstung der EU-Außengrenzen oder darauf, dass die Regierung Merkel in Deutschland die migrationsfeindlichsten Gesetze in der Geschichte der Bundesrepublik zu verantworten hat, nicht auf fruchtbaren Boden stoßen. Die Rechten sind nicht dazu in der Lage, Migration und Flucht als das zu erkennen, was sie sind, nämlich eine autonome Bewegung und die praktische Einforderung des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit. Sie begreifen sie stattdessen als teuflisches Mittel, mit dem die Eliten versuchen, das Volk in seiner Homogenität zu zerstören. Wir kennen die wesentlichen Aspekte dieses Wahns aus dem Antisemitismus und daher ist es auch wenig verwunderlich, dass neben Merkel vor allem der Shoah-Überlebende George Soros als Drahtzieher der Migration ausgemacht wird – oder aber Merkel zur „Jüdin“ oder „jüdischen Agentin“ erklärt wird. Und wie schon immer zielt diese Logik auf die mörderische Auslöschung des „Feindes“ und seiner „Agenten“ – dies ist der Mechanismus hinter dem Schlagwort „Volksverräter“.
Es lässt sich vermuten, dass der Fall Lübcke der erste (bekannte) Neonazimord nach der Strategie NSU 2.0 ist. Nun geraten auch Politiker_innen und Funktionsträger_innen als „Volksverräter“ verstärkt in den Fokus rechter Gewalt. Es wäre falsch, darin etwas vollkommen Neues zu sehen, oder gar von einer „neuen Dimension“ oder eines neuen Ausmaßes rechten Terrors zu sprechen, weil neben Migrant_innen und Geflüchteten jetzt Menschen aus der buchstäblichen „Mitte der Gesellschaft“ von Neonazis ermordet werden.
Diejenigen, die bisher kein Verständnis für die Gefahren rechten Terrors und nichts für seine Opfer übrig hatten, bleiben auch jetzt, da es gewissermaßen „einen von ihnen“, einen politischen Beamten der CDU, getroffen hat, erstaunlich still. Vielleicht fühlen sich manche konservative Akteure in ihrer politischen Agenda näher bei der Ideologie des Täters als bei dem Symbol, das Lübckes Politik darstellte. Insgeheim hat man Verständnis für die Motivation zur Eskalation, mit „Merkel“, „Bahnhofsklatschern“ oder „flüchtlingsfreundlicher“ Politik möchte man ohnehin nichts zu tun haben. Den rechten Terror hier als solchen zu benennen hieße auch, Zugeständnisse gegenüber linken Analysen und Forderungen zu machen, die schon lange auf die Realität und Brisanz rechten Terrors hinweisen.
Es geht hier nicht um Einzeltäter
Jeder Mensch, der durch rechte Gewalt stirbt, verdient Anerkennung und Trauer – das heißt nicht, dass wir aus Walter Lübcke nachträglich einen linken Antifaschisten machen wollen. Lübcke platzte angesichts der unerträglichen rassistischen Hetze der Kragen und geriet dadurch ins rechte Visier. Lübcke wurde von Neonazis und Rassist_innen zum Symbol für eine bessere, eine solidarische und antirassistische Gesellschaft gemacht, weil er daran erinnerte, dass Flüchtlinge Menschenrechte besitzen. Der Angriff auf ihn gilt uns allen. Der Mord an Lübcke handelt nicht nur von Stephan Ernst, der verdächtigt wird Lübcke auf dessen Terrasse hingerichtet zu haben. Er handelt auch nicht nur von den Netzwerken, in die Stephan Ernst eingebunden war und den möglichen Mittäter_innen und Unterstützer_innen, die es nun zu ermitteln gilt. Der Mord wurde auch möglich durch die rechte Hetze, die unzähligen Übergriffe, Hetzkommentare und Mordaufrufe.
1968 schoss ein Neonazi auf Rudi Dutschke, nachdem es eine jahrelange Hetzkampagne rechter Medien und der BILD-Zeitung gegen ihn und die Stundent_innenbewegung gegeben hatte. Ein Tag nach dem Mordversuch skandierten die Demonstrant_innen „Bild hat mitgeschossen“. Das war eine polemische Zuspitzung und zugleich eine richtige Analyse. Sicherlich täte ein direkter Vergleich beider Fälle sowohl Dutschke als auch Lübcke Unrecht. Aber dennoch: Ohne die jahrelange Hetzkampagne rechter Organisationen, Parteien und Medien hätte es diesen Mord nicht gegeben: Erika Steinbach hat mit geschossen! Akif Pirinçci hat mit geschossen! PI-News hat mit geschossen! Die AfD hat mit geschossen!
- 1Mehr als drei Jahre hat es gedauert, bis sich die bayerischen Behörden Ende Oktober 2019 zu der Bewertung durchringen konnten, das das Attentat am Münchner Olympia Einkaufszentrum (OEZ) doch als "rechtsextrem motiviertes Verbrechen" eingestuft werden muss.