Migrantifa: „Alle Kämpfe müssen zusammen geführt werden“
Interview mit Aktivist*innen verschiedener Migrantifa-Initiativen in Deutschland
Könnt Ihr euch bitte kurz vorstellen?
Wir sind Aktivist*innen in verschiedenen Migrantifa-Zusammenhängen in Berlin, Bremen, Hessen und NRW, sowie teilweise im „Streikbündnis achter Mai“. Wir haben uns zusammengefunden, um in diesem Artikel über die Aktionen zum 8. Mai zu resümieren und um unsere Perspektiven auf mögliche Wege für eine weitergehende migrantische antifaschistische Selbstorganisierung in der nächsten Zeit aufzuzeigen.
Was ist Migrantifa? Seit wann gibt es euch und aus welcher Motivation und politischen Situation heraus habt ihr euch entschieden, euch als Gruppe bzw. Aktionsbündnis zusammenzutun?
Im Rahmen der bundesweiten Diskussionen um einen migrantischen Generalstreik entstanden in verschiedenen Städten erste Migrantifa-Gruppen, die sich trafen, um lokal Ideen für einen Protest am 8. Mai zu entwickeln. Das rechte Terrorattentat in Hanau hat für viele einen Wendepunkt dargestellt. Ein Gefühl von „jetzt reicht’s!“ kam auf und es wurde die Notwendigkeit gesehen, sich selbst zu organisieren, um gegen faschistischen Terror wehrhaft zu werden. Abgesehen von dem expliziten Bezug auf den Anschlag in Hanau gibt es bislang kein bundesweit einheitliches Verständnis, was Migrantifa ist oder werden wird. Viele Gruppen verstehen sich als (bislang eher lose) Zusammenhänge, die antifaschistische Politik vor allem von Migrant*innen für Migrant*innen machen wollen. Nicht alle von uns haben eigene Migrationserfahrungen gemacht, und nicht alle unsere (familiären) Migrationsgeschichten sind vergleichbar oder hatten die gleichen Ursachen. Wir haben uns unter dem Label Migrantifa zusammengefunden, um uns trotz dieser Unterschiede auf die Gemeinsamkeiten unserer Erfahrungen mit rechtem, rassistischem und antisemitischem Terror zu konzentrieren. Uns eint die akute Bedrohung durch diesen Terror in Deutschland 2020.
Manche Gruppen, wie die in NRW und Hessen, gibt es schon seit Februar diesen Jahres, die Struktur in Berlin hat sich im Laufe des März zusammengefunden, und in anderen Städten fingen Menschen im Mai an sich gemeinsam zu organisieren. An vielen Orten ging es zunächst darum, zum 8. Mai zu mobilisieren und unsere Stimmen laut auf die Straßen und ins Netz zu tragen. Im Nachhinein gilt es, zu diskutieren, wie es weitergehen kann und soll. Bundesweit besteht weitgehend Einigkeit, dass es in der nächsten Phase zunächst wichtig ist, dass sich die verschiedenen Gruppen lokal festigen und organisieren. Viele von uns eint das Gefühl, in herkömmlichen antifaschistischen Gruppen und Strukturen nicht wirklich willkommen zu sein oder dort erneut in die Minderheitenrolle gedrängt zu werden. Uns eint außerdem das Bewusstsein, dass ein identitär abgeschotteter Kampf gegen Rassismus, der andere gesellschaftliche Verhältnisse nicht berücksichtigt, zum Scheitern verurteilt ist.
Rassismus, Antisemitismus, anti-Schwarzer Rassismus, anti-muslimischer Rassismus, Rassismus gegen Rom*nja & Sinte*zze – all diese Kämpfe müssen zusammen gedacht und zusammen geführt werden.
Ihr habt gemeinsam mit anderen antirassistischen und migrantischen Initiativen am 8. Mai zu Aktionen im Rahmen eines „Tag des Zorns“ aufgerufen. Warum habt ihr dafür den Tag der Befreiung gewählt und was sind die Hintergründe?
Angeregt durch die Rede der „Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı” bei der Großdemo am 22. Februar 2020 in Hanau, die als Reaktion auf die Anschläge vom 19. Februar stattfand, haben sich Menschen zusammengetan, um für den 8. Mai, den Tag des Sieges über das NS-Regime, einen migrantischen Generalstreik auszurufen. Aufgrund der Covid-19-Pandemie war dieser in seiner gedachten Form nicht mehr umsetzbar und es mussten Alternativen zum physischen Streik gefunden werden. In Berlin kam zudem hinzu, dass der 8. Mai zunächst einmalig als gesetzlicher Feiertag festgelegt wurde und ein Streik deshalb als wirksame politische Aktion schwer umzusetzen gewesen wäre.
Der 8. Mai wird in Deutschland mittlerweile als Tag der Befreiung gefeiert. Der Sieg über das NS-Regime, mit dem Shoa und Porajmos beendet wurden, ist dieses Jahr 75 Jahre her. Und so sehr dieser Sieg in der einen Hinsicht eine Befreiung war, blieb diese unvollständig. Die Entnazifizierung hat nie so stattgefunden, wie der Staat es uns erzählt. Wir wollten am 8. Mai auf die Opfer rechten Terrors aufmerksam machen. Auf all die, die jeden Tag strukturelle Diskriminierung erfahren, all die, die deswegen ermordet werden. Die Einführung des Feiertags am 8. Mai wäre ein politischer Erfolg, weil es den Sieg über und die Befreiung vom NS-Regime markiert. Gleichzeitig ist es notwendig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass faschistische Kontinuitäten bis jetzt andauern. Dem Staat ist keine ruhige Feiertagspause zu gönnen.
Warum habt ihr gerade diese Bezeichnung für euren Aktionstag gewählt?
In Berlin z.B. wurde zum „Tag des Zorns“ aufgerufen, in NRW und Frankfurt gab es Aufrufe zu einem „Tag des Widerstands“. Von manchen wurde der Begriff „Zorn“ gewählt, weil er zum einen aus dem ursprünglichen Aufruf stammt und zum anderen, weil es deutlich macht, dass wir wütend sind und diese Wut auf die Straße und ins Netz bringen wollten. Viele konnten sich mit diesem Zorn identifizieren. Er hat uns in gewisser Weise untereinander näher zusammengebracht. Andere wollten vor allem den Aspekt des Widerstandes gegen rechten Terror hervorheben und kraftvoll an dem Tag Ausdruck verleihen.
Seid ihr mit anderen linken Gruppen/ Initiativen vernetzt und falls ja, haltet ihr einen kontinuierlichen Austausch für wichtig?
Die Migrantifa-Zusammenhänge sind an ihren jeweiligen Orten mit anderen antifaschistischen bzw. migrantischen Gruppen und Organisationen in Kontakt bzw. vernetzt, wobei das auch davon abhängt, ob die Gruppen sich schon im Februar gegründet haben oder noch relativ neu sind. Die Aktionen in Berlin wurden von Migrantifa z.B. als Teil des Aktionsbündnis Antira (ABA) organisiert. In Hamburg hat sich das Streikbündnis z. B. gegen das Label Migrantifa entschieden, weil es ein Bündnis aus Geflüchteten und rassifizierten, wie von Antisemitismus betroffenen Menschen ist. Für uns ist klar: Migrantifa soll keine neue Struktur werden, die für sich alleine aktiv ist, sondern eher ein Zusammenhang, der viele verschiedene Strukturen und Personen verbindet und zusammenbringt.
Wurden bei den Diskussionen, einen migrantischen Generalstreik zu organisieren, auch Vorstellungen/ Ideen wieder aufgegriffen, die migrantische Gruppen bereits nach den rassistischen Morden der 1990er Jahre diskutiert haben?
Selbstorganisierten migrantischen Widerstand gab es schon immer in Deutschland, aber besonders in den 1990ern war er sehr präsent und kraftvoll. Ende der 1980er wurde in Berlin die Antifaşist Gençlik (Antifaschistische Jugend) gegründet. Schnell bildeten sich deutschlandweit weitere Gruppen. Sie verstanden sich als Schnittstelle von migrantischer, zumeist türkischer und kurdischer Vereinskultur, Jugendbanden und linker und antifaschistischer Politik. Nur wenige Jahre später mussten sich die Strukturen aufgrund von staatlicher Repression auflösen. Andere Beispiele sind (unvollständig und in ungeordneter Reihenfolge) etwa Kanak Attak, Köxüz, FeMigra, Café Morgenland, Antikapitalistische Nicht-Weiße Gruppe, Auslända Connection, ADEFRA, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, Lampedusa in Hamburg, Kanax Antifa oder Women in Exile - die Liste lässt sich noch viel weiter führen.
Schon 1993, nach den rassistischen Morden von Mölln und Solingen, gab es Streikaufrufe ausgehend von selbstorganisierten Initiativen, wie am 2. Juni 1993 in Hamburg. Jede noch so unzureichende Veränderung des rassistischen Systems zugunsten der von Rassismus betroffenen Menschen musste von ihnen selbst erkämpft werden. Die Migrantifa-Zusammenhänge schließen an diese Organisierungen an und wollen die bereits bzw. zur Zeit geführten Kämpfe unterstützen und fortsetzen. Migrantifa ist für uns kein starres Gebilde, noch keine feste abgeschlossene Gruppe, sondern richtet sich an alle, die sich unter diesem Motto versammeln und gemeinsam gegen rechten, rassistischen und antisemitischen Terror und für eine radikale Veränderung der Gesellschaft kämpfen wollen.
Was zieht ihr für ein Resümee aus dem bundesweiten Aktionstag am 8. Mai?
Die Aktionen am 8. Mai sind aus unserer Sicht insgesamt sehr gut gelaufen. Besonders beeindruckt hat uns, dass es in kurzer Zeit viele unterschiedliche Aktionen gab. Die Vernetzung auf bundesweiter Ebenen aber auch mit lokalen Strukturen hat gut funktioniert. In Frankfurt waren wir vor der Alten Oper, dem Frankfurter Sinnbild bürgerlichen Selbstbewusstseins. Ein Ort, wo Menschen zusammenkommen und die Schönheit ihres Daseins feiern. Hierhin trugen wir unseren Schmerz, unsere Trauer und unsere Wut und verwandelten sie durch Gemeinsamkeit in unsere Stärke. In Berlin haben wir gemeinsam mit dem Aktionsbündnis Antira (ABA) eine Kundgebung am Hermannplatz organisiert, und außerdem eine Digitale Boots-Demo über die Spree durch das Regierungsviertel. Über Social Media fand eine bundesweite Vernetzung unter Migrantifas statt, unter anderem wurde in Berlin auf dem Boot ein Redebeitrag von Migrantifa NRW abgespielt. Die Migrantifa NRW hat eine ganze Aktionswoche organisiert: Vom 1. bis zum 8. Mai gab es Aktionen gegen Polizeigewalt, dem europäischen Grenzregime, Graffiti-Künstler*innen malten ein Gedenkbild für die Ermordeten von Hanau, und am 8. Mai gab es ebenfalls eine Kundgebung.
Die Aktionen am 8. Mai haben uns allen viel Kraft gegeben, wir haben Energie geschöpft und wollen nicht zulassen, dass dieses Feuer erlischt. Für viele kann Migrantifa das sein, worauf sie lange gewartet haben. Gleichzeitig haben nicht alle Perspektiven im Rahmen der Vorbereitungen und der Aktionen genug Raum gefunden. Für die Migrantifa-Zusammenhänge wird es in der Zukunft auch darum gehen müssen, alle mitzunehmen.
Was ist für euch der Unterschied zwischen Migrantifa und Antifa und was sind eure Pläne für die Zukunft?
Wie bereits beschrieben, geht es erstmal darum, dass die vielen lokalen Gruppen Zeit haben, sich zu finden und zu festigen. Insbesondere gibt es viele Leute, die neu dazustoßen, wodurch sich der Charakter vieler Gruppen weiter wandelt. Weil alle Gruppen unabhängig voneinander arbeiten, lässt sich schwer voraussagen, in welche Richtung es gehen wird. Unserer Meinung nach hat das Label Migrantifa das Potential, Antifaschismus und antifaschistische Politik für migrantische Menschen zugänglicher zu machen. Das kann zum Beispiel durch antifaschistische Arbeit in den eigenen Nachbar*innenschaften erfolgen, indem wir offen auf die Jugendlichen in unseren Kiezen zugehen, unsere Selbstverteidigung organisieren oder anfangen, revolutionäre Basisarbeit im Viertel zu machen.
Gleichzeitig sehen wir die Chance, bestehende antifaschistische Strukturen durch unsere Perspektiven zu bereichern. Generell ist uns aber klar, dass jeder erfolgreiche antifaschistische Kampf ein von migrantischen und nicht-migrantischen Menschen gemeinsam geführter Kampf sein muss. Wir wollen uns nicht von Rassismus spalten lassen - das tun Staat, Nationalismus und Kapital schon von ganz alleine. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass die Selbstorganisierung uns die Möglichkeit gibt, eine spezifisch migrantische Perspektive auf Antifaschismus zu entwickeln und diese dann politisch umzusetzen. Wir glauben, dass sich daraus viel Stärke für die gemeinsamen Kämpfe ziehen lässt.
Wie kann man euch unterstützen?
Wir rufen alle Menschen dazu auf, sich in lokalen antifaschistischen Zusammenhängen zu organisieren und gemeinsam mit uns und anderen gegen rechten Terror und dessen geistige Brandstifter aktiv zu werden! Das bedeutet neben der Organisierung auch, die eigenen Strukturen zu hinterfragen und auf eventuelle rassistische Dynamiken zu überprüfen. Nicht umsonst sind migrantische Perspektiven in antifaschistischen Kontexten in Deutschland so unterrepräsentiert. Jede Form von Solidarität, Aktivismus und Gedenken ohne Einbeziehung von Opfern, Betroffenen, deren Nachkommen oder Angehörigen, halten wir für Selbstdarstellung und Profilierung – und lehnen sie ab.
Vielen Dank das für Interview, möchtet ihr am Ende noch etwas hinzufügen?
Serpil Temiz, die Mutter des in Hanau ermordeten Ferhat Unvar hat nach dem terroristischen Attentat in einem Interview gesagt: „Der Rassismus soll keine andere Familie mehr zerstören.“ Aus diesem Satz ziehen wir den Antrieb für die Kämpfe, die auf uns zukommen.