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Zur Geschichte migrantischer Selbstorganisierung – Teil II

Massimo Perinelli
Einleitung

Kanakoperaismo revisited - zur Geschichte migrantischer Selbstorganisierung – Teil II

Als der Berliner Senat am 20. April 1989 den „ausländischen Mitbürgern“ riet, zuhause zu bleiben, da anlässlich von Hitlers 100. Geburtstag Neonazis angekündigt hatten, durch die Stadt zu ziehen, riefen kanakische Jugendliche dazu auf, sich die Straße nicht nehmen zu lassen und sich zu wehren.1 Dieser Gründungsmoment von Antifaşist Gençlik – noch kurz vor der deutschen Vereinigung – bedeutete eine Neuausrichtung migrantischer linker Politik.

Noch marxistisch geschult in der Tradition der türkischen und kurdischen ML-Parteien ihrer Elterngeneration, richtete sich die Aufmerksamkeit der Jugendlichen zunehmend auf die hiesigen Verhältnisse. Als im selben Jahr die Mauer fiel und die rassistische Gewalt zur tagtäglichen Erfahrung im geöffneten Berlin wurde und auch bundesweit die Anschläge und lebensbedrohlichen Angriffe gegen alles vermeintlich Nicht-Deutsche explodierte, stellte sich die Frage nach Rückkehr oder Selbstbehauptung für alle Migrant*innen mit großer Dringlichkeit.

Hinzu kamen die Massenentlassungen in den Industrien, in denen in einer Mischung aus Lohnsenkung und Rassismus nun viele Ostdeutsche die Arbeitsplätze der ehemaligen Gastarbeiter*innen übernahmen. Durch den Wegfall der Berlinzulage mussten darüber hinaus viele Betriebe schließen, andere verlagerten ihre Standorte in den günstigeren Osten. Unter diesen Bedingungen mussten die sog. Ausländer ihren politischen Fokus grundlegend von einer Exilpolitik, die auf die politischen Verhältnisse in den alten Heimaten gerichtet war, auf die Verhältnisse hierzulande richten.

Der Ausbau der Kieze und Dienstleistungsökonomien und die Selbstbehauptung, ein konstitutiver Teil dieser Gesellschaft zu sein, bedeutete endgültig die unwiderrufliche Migrantisierung Deutschlands. Noch viele Jahre bevor die deutsche Antifa- und Antirabewegung dieses historische Phänomen analytisch fassen bzw. formulieren konnte, wurde diese Diskussion in den migrantischen Communities geführt.

In dem Dokumentarfilm Duvarlar-Mauern-Walls, in dem der Regisseur Can Candan 1991 Berliner Türk*innen zum Mauerfall befragt, wird der hohe Politisierungsstand der migrantischen Communities am Ende der 1980er Jahre deutlich, jedoch auch die eigene Neuverortung: Man sei nicht mehr diasporisch türkisch, griechisch oder libanesisch, aber auch nicht assimilatorisch deutsch, sondern etwas bis dahin Ungehörtes und Ungeheures, nämlich migrantisch im Sinne einer bewussten Absage an nationale Zugehörigkeit. Ähnliche Entwicklungen gab es auch bei den sich nun als Schwarze Deutsche bezeichnenden Akteur*innen, die das, was Deutschsein zu bedeuten habe, radikal in Frage stellten, etwa in der Gründung des ISD (ursprünglich Initiative Schwarze Deutsche).

Der Schmerz über die systematische Ausgrenzung, den die Poetin und Gründungsmitglied des ISD May Ayim anlässlich der deutschen Vereinigung „blues in schwarz weiss“ nannte, blieb indes eine tödliche Dimension der rassistischen Erfahrung, wie sie zuvor die türkische Arbeitsimmigrantin Semra Ertan erfuhr, die sich aus Protest gegen den unüberwindbar scheinenden Rassismus 1982 in Hamburg öffentlich das Leben nahm. In der rassistischen Konjunktur im nationalen Taumel der deutschen Vereinigung bildeten sich die Subjekte einer postmigrantischen Gesellschaft aus.

Dieser Prozess war indes nicht widerspruchsfrei oder gradlinig. Als 1991 die linke Hoyerswerda-Demonstration zu einem internen Desaster für den Versuch migrantisch-linksradikaler Organisierung führte, und die Repression nach dem Tod des Neonazis Gerhard Kaindl das Ende von Antifa Gençlik bedeutete, war die organisierte migrantische Selbstverteidigung extrem geschwächt und etwa bei den Protesten gegen das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im darauf folgenden Jahr kaum mehr präsent. Kurz zuvor hatten sich noch Gangs wie die „Turkish Power Boys“ in Frankfurt, die „36 Boys“ in Kreuzberg, die „Black Panther Wedding“, die „Araba Boys“,„Ghetto Sisters“ und entsprechende Gruppen in Berlin, Hamburg und anderen großen Städten gegründet, die durch die Straßen patrouillierten, öffentliche Plätze zurückeroberten, U-Bahnverbindungen kontrollierten, mit Nachdruck Diskotheken diversifizierten und so Sicherheit im öffentlichen Raum vor der Gewalt der Neonazis schufen. Ihre Mitglieder waren Jugoslaw*innen, Griech*innen, Italiener*innen, Albaner*innen, Palästinenser*innen, ihre subkulturelle Kommunikation war der kanakische Hip-Hop und das Sprayen bzw. Taggen. Diese multinationalen Verbindungen, die das Gefühl einte, „Fremd im eigenen Land“ zu sein, schufen neue Formen der Solidarität, etwa im militanten Schutz von Synagogen durch migrantische Gangs, wie z.B. am Fraenkel-Ufer in Berlin-Kreuzberg zu Beginn der 1990er Jahre. Der Versuch, die Gruppen nach dem Vorbild der US-amerikanischen Black Panther zu politisieren und in Anbetracht der rechten Gefahr zu vereinen, scheiterte jedoch, nachdem eine von den Gençliks 1991 organisierte Konferenz der Gangs im Kreuzberger Veranstaltungsort SO36 erfolglos endete.

Auch die Besetzung der TU durch Überlebende des Pogroms von Hoyerswerda gemeinsam mit Berliner Antifas endete wegen massiver interner Konflikte.

All diesen Niederlagen und Spaltungen zum Trotz setzten diese Impulse in den 1990er Jahren eine neue Selbstverständlichkeit in Gang, die vor allem den Rechten nicht entging. Als Ende des Jahrzehnts die postmigrantische Rebellion der Jugend aus der Zeit des Mauerfalls zunehmend Sprechorte eroberte und in allen gesellschaftlichen Bereichen unübersehbar wurde, organisierte die bürgerliche Mitte und der rechte Rand von CDU bis NPD große Kampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, während die noch junge NSU-Zelle – geschockt von einem Besuch im migrantisch dominierten Frankfurt am Main – beschloss, Anschläge auf migrantische Geschäftsleute und Orte, wie die Kölner Keupstraße, zu verüben, d.h. ihren Terror gegen die etablierte Einwanderungsgesellschaft zu richten.

Im sog. „Sommer der Staatsantifa“ im Übergang zum neuen Millennium, als unter der rot/grünen Regierung der offene Straßenterror unterbunden wurde und viele Antifa-Strukturen staatliche Förderung erhielten und sich institutionalisierten, schienen die „Baseballschlägerjahre“ überwunden und es entstand der zuvor fehlende Raum für eine ästhetische, kulturelle, politische und theoretische Verarbeitung dieser extremen und tödlichen Jahre mit ihrem Höhepunkt von 25 Todesopfern rechter Gewalt im Jahr 1992. Es entstand der sog. neue – d.h. migrantische – deutsche Film, das postmigrantische Theater und jede Menge kanakische Literatur, während die zweite Generation der Gastarbeiter*innen aus den Universitäten heraus begann, über Migration zu forschen und Rassismus zu theoretisieren. Und auf unzähligen Grenzcamps, Karawanen und anderen widerständigen Events wurde Antirassismus zum verbindenden thematischen Feld linker Bewegungspolitik.

In diesem Aufbruch übersahen sowohl Antifa als auch migrantische Selbstorganisationen den sich nun klandestin organisierenden Neonaziterror und standen blind vor der Mord- und Anschlagsserie des NSU in den 2000er Jahren. Das migrantisch situierte Wissen der betroffenen Communities und Familien um den rassistischen Gehalt und den planvollen Zusammenhang der neun Todes- und vielen Anschlagsopfer sowie um die fatale Rolle deutscher Behörden darin wurde nicht registriert, ihr Sprechen überhört, ihren Analysen kein Glauben geschenkt und ihre Demonstrationen ignoriert. Das Versagen der Linken sowie die Phalanx des strukturellen Rassismus, angefangen von den NSU-Anschlägen und fortgesetzt in der rassistischen Berichterstattung der Medien, der Opfer-Täter-Umkehr der Polizei, der gezielten Falschinformationen über rechte Netzwerke und der Abschirmung und Bewirtschaftung der terroristischen Struktur durch die Geheimdienste, des Im-Stich-Lassens durch die Politik und der Abkehr der liberalen Öffentlichkeit zerstörte viele migrantische Familien und destabilisierte ganze Communities während dieser zehn Jahre.

Gleichzeitig veränderte sich vor dem Hintergrund der Dauerkriege des Westens in der arabischen Welt und der Counter-Strategie des islamistischen Terrors hierzulande der Rassismus und stellte der klassenbasierten Kanakisierung der migrantischen Bevölkerung einen geopolitisch motivierten antimuslimischen Rassismus an die Seite, der einen Riss durch die migrantischen Milieus hervorrief. Die darin stattindende identitäre Wende der 3. Generation sowie die Re-Nationalisierung vieler (Post-)Migrant*innen schwächten zunehmend die transformatorischen Kämpfe um die Des-Integration normativer Zuschreibungen und tun dies bis heute.

Die 2010er Jahre brachten eine Wende, die vor allem durch die Ankunft der Kämpfe von sich organisierenden Geflüchteten ausging, während sich gleichzeitig die Opfer rassistischer Gewalt in einer nie dagewesenen Intensität organisierten, ihr spezifisch situiertes Wissen zentral stellten und den strukturellen Rassismus als Funktionsprinzip der Gesellschaft anprangerten. Nach Jahren des Schweigens organisierten sich die Betroffenen des Bombenanschlags auf der Kölner Keupstraße und schafften es, nicht nur jüngere und ältere Antifa- und Antirastrukturen einzubinden, sondern auch, Betroffene anderer Anschläge zu ermutigen, ihre Geschichten – oftmals erst nach 30 Jahren – zu erzählen. Über mehrere Jahre wurde in unzähligen Veranstaltungen, Demonstrationen, Aktionen, Vernetzungstreffen, Theaterinszenierungen, Filmen, Publikationen, Forschungen, Recherchen und Öffentlichkeitskampagnen das Wissen von Betroffenen rassistischer Gewalt zentral gestellt und unübergehbar gemacht – ein Quantensprung im Antirassismus.

Zugleich besetzten zigtausende Geflüchtete mit ihren Stimmen und ihren Körpern – auf die sie in der Situation grundlegender Entrechtung oftmals zurückgeworfen waren – den öffentlichen Raum mit Sternmärschen und zahlreichen Platz- und Gebäudebesetzungen. 2015 überrannten schließlich eine Million Menschen die Stacheldrahtzäune vieler europäischer Staaten und machten sich in einer beispiellosen Weise sichtbar. Viele von ihnen brachten die Demokratieimpulse der Arabischen Rebellion mit sich und mobilisierten damit Millionen Alteingesessener hierzulande – darunter auch viele ehemalige Migrant*innen. Im Gegensatz zu den frühen 1990er Jahren mit ihrem fast schon geschlossenen Rassismus wurde die Gesellschaft von der Forderung der Refugees nach Teilhabe und Solidarität geöffnet. Im Sommer der Migration 2019 in Sachsen, als die Kämpfe der von rassistischer Gewalt betroffenen Migrant*innen und organisierten Geflüchteten zusammenkamen und darüber hinaus historisch zum ersten Mal die sog. „Ossis of Color“ die Bühnen stürmten und unter dem Slogan „Der Osten bleibt migrantisch!“ die postmigrantische Gesellschaft auch in Ostdeutschland proklamierten, wurde die solidarische Gesellschaft der Vielen greifbare Realität.

Der Rollback und Gegenschlag gegen die postmigrantische Gesellschaft erfolgte prompt und mit extremer rechter Gewalt, dem Aufstieg des parlamentarischen Faschismus, mit Hetzjagden und Terroranschlägen von rassistischen toxischen Männern und der Renaissance identitär-kulturalistischen Denkens, etwa bei Pegida, sowie dem gegenwärtigen Ausbruch antisemitischer Verschwörungserzählungen.

Und auch auf migrantischer und antirassistischer Seite drohen die solidarischen Aufbrüche der vergangenen zehn Jahre in Re-Nationalisierungen, identitäre Hierarchisierungspolitiken, Diaspora-Diskursen und unpolitischen Individualisierungsbewegungen auseinanderzufallen – beschleunigt und verschärft in der gegenwärtigen autoritär-neoliberalen pandemischen Multikrise.

Während „Migrantifa“ ab 2019 für kurze Zeit der verbindende Slogan einer migrantisch situierten Perspektive für Postmigrant*innen, Geflüchtete, Antifas, Antiras und viele andere wurde, wird der Begriff jüngst teils identitär rekonzeptionalisiert und auch die weltweite Revolte unter der Parole „Black Lives Matter“ führte in Deutschland an nicht wenigen Orten zu Hierarchisierungen und Ausschlüssen in den Strukturen migrantischer / BPoC Selbstorganisierung.

Die Angehörigen und Freund*innen der Ermordeten in Hanau vom Februar 2020 formulierten die erkämpften Positionen der solidarischen Gesellschaft hingegen mit einer bis dato nie dagewesenen Selbstverständlichkeit: Weder ein integrationspolitisches „Wir gehören auch zu Hanau“, noch ein identitäres „Wir wollen niemals Hanau sein“ wurde als solidaritätsstiftender Slogan proklamiert, sondern: „Wir sind Hanau“. Damit machten sie klar, was Normalität in Hanau und anderswo ist und wer – wie der Attentäter – aus dieser Normalität herausfällt und ein Problem darstellt.

Es ist diese fragile Selbstverständlichkeit einer Gesellschaft der Vielen, die uns in die Geschichte vergangener Kämpfe der Migration blicken lässt, die sich – wie z.B. die Arbeiterinnen von Pierburg/Neuss 1973 – zum Ziel setzten, die rassistische Spaltung der Gesellschaft durch konkrete Solidarität zu überwinden und in einen Prozess gesamtgesellschaftlicher Transformation zu überführen.